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Lettre aktuell 3/2020


Lettre International 130 / Neue Ausgabe


Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser,

erlauben Sie uns darauf hinzuweisen, daß am heutigen Freitag, den 2. Oktober 2020, die Herbstausgabe von Lettre International 130 erscheint. Das attraktive Heft bringt eine Vielzahl origineller Reportagen, gedankenreicher Essays, temperamentvoller Bekenntnisse und inspirierender Gespräche, historischer Recherchen, politischer Kriminalgeschichten, erhellender Zeitdiagnosen. Es geht um den virtuosen Überlebenskünstler Virus, um den Eigensinn der traumatisierenden Natur, um Bildungshunger, um Künstliche Intelligenz, politische und kulturelle Kollisionen, Gewalt und Geschichte, Leben und Schreiben, Pandemie und Bühne, Dionysische Wissenschaft und vieles andere. Der Künstler Mark Lammert wickelt Lettre in die Trikolore und es erwarten Sie weitere gedanken- und bildstarke Interventionen.

ENTFREMDUNGEN / MEDITATIONEN

König Virus ergreift das Wort in Robert Schönlaus Noppenball: Er ist ein optimal ausgestatteter Akteur, wehrhaft und angriffslustig, jederzeit bereit anzudocken, ein Wesen ohne Stoffwechsel, Wachstum und Reizbarkeit, jedoch voller Fortpflanzung und Vererbung. Dieser Vertreter eines höchst wandlungsfähigen Völkchens ist ein Meister im Kopieren, ein Überlebenskünstler, der über den Versuch des Menschen, seiner Herr zu werden, nur schmunzeln kann. „Euch Menschen gibt es, großzügig geschätzt, gerade erst seit 300.000 Jahren, die Mikroben immerhin seit 3,5 Milliarden Jahren und uns noch ein bißchen länger. Wir waren schon im Urschleim.“ Die Fastenpredigt eines scheinbar unbesiegbaren Champions an den Menschen, der lernen muß, mit einem gefährlichen Überlebenskünstler auszukommen. Ein ungewöhnlicher Perspektivenwechsel.

Bei seiner Erforschung der Materie, des Körpers, des Gehirns und der Kommunikation hat der Mensch Elementareinheiten entdeckt, die ihn an absolute Grenzen führen: Atom – Gen – Neuron – Bit, kleinste Einheiten, deren technologische Aktivierung in Kernenergie, Gen- und Biotechnik, künstlicher Intelligenz und digitaler Informationstechnik stattfindet. Fukushima und Tschernobyl heißen die Symbole dafür, daß bei Nutzung dieser Erkenntnisse ein Umschlag in die Katastrophe jeder Zeit möglich ist. Die Erkundung der Grenzen des Äußersten geht mit großen Freiheitsversprechen einher, doch aus extremer Freiheit kann wildeste Knechtschaft entspringen, wie die Dystopie einer digitalen Totalkontrolle der Massengesellschaft vor Augen führt. Wer verfügt über Big Data; wer beherrscht die Clouds; wer programmiert die Algorithmen? Muß der Mensch seine Rolle als Herr und Meister der Natur aufgeben? Götz Großklaus über das prometheische Feuer und den Eigensinn der traumatisierten Natur.

Fragen zur Ethik künstlicher Intelligenz stellt Roberto Simanowski: Wird der Mensch seine Erfindungen in Zukunft noch selbst beliebig steuern und verwenden können, oder erfüllt sich die Prophezeiung des Schöpfers der „Gaia-These“, James Lovelock, der ein Zeitalter der Hyperintelligenz heraufkommen sieht, in der das Anthropozän abgelöst wird von einem Novozän, in dem eine anorganische Hyperintelligenz das Regime auf der Erde übernimmt? Ein fiktives Gespräch über die Dilemmata der künstlichen Intelligenz und die Rückkehr ins Paradies.

Rainer Willert widmet sich jedermanns Sache und doch nicht jedermanns Sache: unseren Ausscheidungen. Wie Fremde treten die Menschen ihren ureigensten Produkten gegenüber, seit man in anständiger Gesellschaft – außer Tränen – keine Körpererzeugnisse mehr erwähnt. Während schlüpfrige Bettgeschichten durch alle Medien wabern, wird der öffentliche Umgang mit unseren alltäglichsten und vertrautesten Körpersubstanzen dezent ignoriert, vernehmlich jene, die dem natürlichen Drang zur sachdienlichen Entleerung von Blase und Gedärm entspringen. Die Künste allerdings zeigen uns immer schon und immer wieder neu, welch‘ großes Potential jenes abgelehnte Fremde birgt, welch‘ schöne Früchte uns die Beschäftigung mit dem verleugneten Körperkosmos bescheren, welch‘ große Chance, sich kreativ zu verewigen, uns daraus erwachsen kann: Scheiße.

„Weltbetrachtung war den Philosophen Einbürgerung in die Welt, der Blick nach oben zum gestirnten Himmel. Wenn aber die Sterne funkeln, ist es hier unten, am Boden, im Staub des Weltalls dunkel,“ so Hannes Böhringer in seinen Meditationen über die Sohlen und den Boden, über die Philosophiegeschichte und die Lebensformen, über Sokrates, der barfuß umherzugehen pflegte und die Bescheidenheit eines selbstwußten Nichtwissens: Staub und Sterne

BILDUNGSHUNGER

„Verbindet sich mit der Institution Universität heute noch eine Vorstellung von Aufklärung und Bildung? Wenn nicht, wo finden wir sie dann?“ so lautet die Preisfrage des diesjährigen Essaypreises der Klaus und Renate Heinrich-Stiftung. Der preisgekrönte Essay von Christoph Paret, Schiffbruch ohne Zuschauer, erforscht die Misere der real existierenden Universität und fordert eine grundlegende Umorientierung. Von einer renommierten Institution ohne Inspiration, die geistige Lähmung ausstrahlt, muß die Universität wieder zu einem Ort überraschender Erkenntnisse und gefährlicher Gedanken umgestaltet werden. Es gibt keine Ersatzinstitution, die ihr Verschwinden aufwiegen könnte. Also muß sie gerettet werden.

KOLLISIONEN ... USA SCHWARZ / WEISS

Amerika ist in Aufruhr und seit dem brutalen Erstickungstod von George Floyd durch das mörderische Vorgehen weißer Polizisten reißen die Antirassismusproteste nicht ab. Rassismus war es, den Barack Obama als die Ursünde der amerikanischen Gesellschaft bezeichnete, einer Gesellschaft, die aus Protest gegründet worden war. Ohne die hoffnungsvoll-protestantische Tradition des Dissenses wäre die politische Revolution in den amerikanischen Kolonien nicht möglich gewesen. Die Beseitigung der Kluft zwischen Sein und Sollen durchzieht die Kulturgeschichte der USA. Seit ihrer Gründung stehen die machtkritischen Ideale der Revolution in stetem Konflikt mit der Wirklichkeit politischer Institutionen. Immer wieder wurden die USA von sozialen Protesten und Reformbewegungen, von Demokratisierungswellen erfaßt, deren Ziel die Öffnung des politischen Systems war, im Sinne des „American Creed“. Zu diesem Nationalglauben zählen Werte wie Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Individualismus, Konstitutionalismus und Rechtsstaatlichkeit. Götz-Dietrich Opitz zeichnet in seinem Essay We Can’t Breathe die großen Linien und Konfliktstrukturen und ihre aufeinanderfolgenden Entwicklungswellen nach, aber er betont mit Samuel Huntington: „Ein politisches System, das prinzipiell offen ist für Reform, ist auch offen für Gegenreform.“ Die Zyklusschwankungen zwischen Fortschritt und Rückschlag könnten sich allerdings so intensivieren, daß sie sowohl Ideale als auch Institutionen zu zerstören fähig sind und in der Folge zum Nährboden werden für steigende Frustration und eine zunehmend gewalttätige Oszillation zwischen Moralismus und Zynismus. Wohin treibt Amerika?

Der amerikanische Politikberater Stephen Eric Bronner skizziert in Die gespaltene Nation die Geschichte des weißen Nationalismus in der gespalteten amerikanischen Nation. Zwei Seelen wohnen in der amerikanischen Brust, und der Kampf zwischen beiden reicht zurück bis zur Geburt der Nation. Schon die widersprüchlichen Ansichten mancher Gründungsväter, welche die Sklaverei befürworteten und persönlich davon profitieren, war Ausdruck einer Trennungslinie zwischen Föderalisten, die eine moderne, zentralisierte Nationalregierung favorisierten und Anti-Föderalisten, welche die rückständigeren, landwirtschaftlich geprägten Wähler repräsentierten. Die große Debatte über die Frage der Gleichberechtigung einerseits und die weiße Überlegenheit andererseits, der Konflikt zwischen egalitären Idealen und faktischen Vorherrschaften durchziehen die letzten zwei Jahrhunderte. Weißer Nationalismus in seinen Erscheinungsformen des institutionellen Rassismus‘, der Ungleichheit im öffentlichen Leben, der Vertreibung der Native Americans von ihrem Land, der Arbeitssklaverei vieler Schwarzer, die Verweigerung von Bildung, Ausgrenzung im Alltag, Angst vor Lynchjustiz haben eine lange Geschichte. Und weiße Nationalisten betrachten die amerikanische Geschichte nach wie vor als die Geschichte der weißen Amerikaner. Und auch heute noch schwelt die Glut des weißen Nationalismus. Wie dessen Klischees sind auch seine Anhänger unverwüstlich und große Brände erscheinen nicht ausgeschlossen.

Régis Debrays sarkastische Polemik Reiht euch ein! wirft eine Frage auf, die schon Simone Weil 1943 gestellt hatte: Würde Europa nach dem Krieg eine Amerikanisierung erfahren, würde die Welt sich amerikanisieren und die Menschheit damit ihre Vergangenheit verlieren? Ist es nicht genau das, was mit dem Siegeszug des globalen Kapitals, der Musik, des World Wide Web geschieht? Heute, so der Autor, findet eine kulturelle Achsenverschiebung statt, und eine „glückliche Amerikanisierung“ ist bereits zur stillen Kraft und zweiten Natur Europas geworden. Es handelt sich dabei um eine Art zu denken, zu sprechen, zu träumen, zu handeln. Er seziert die Zeichen der Ablösung europäischer Traditionen durch amerikanische Verkehrsformen. Mit Chateaubriand meint er: „Man muß die Welt, die kommt, nicht lieben, um sie kommen zu sehen.“ Müssen wir uns mit der Welt, die kommt, arrangieren? Gibt es wirklich kein Entkommen? Ein Wachruf.

Andrej Smirnovs packender Spielfilm Ein Franzose in Rußland nimmt uns mit nach Moskau, in die Hauptstadt des Weltkommunismus. Mit Stalins Tod 1953 war dort die Eiszeit vorbei und im anbrechenden Tauwetter verspürte man überall neue Lebensfreude, Wahrheit, Licht und Hoffnung. Das Leben vibrierte, bis eine neue Frostperiode anbrach, erinnert sich der Slawist Georges Nivat. Wie fern sie ist, die Utopie, von der Rußland träumte, durch die es sich nährte und mit der es sich vergiftete! Überdauert sie noch in einem geheimen Winkel? Hat sie einen Platz in einem Land, in dem sie mehr Verwüstungen als irgendwo sonst in Europa angerichtet hat? Nachdem sie Generationen von mönchischen Priestern des „Fortschritts“ als geistige Nahrung gedient hat, ist sie im Despotismus zugrunde gegangen. Und das Ende dieses Despotismus hat die Utopie und den Dialog über die Zukunft nicht wiederzubeleben vermocht. Aber welche Gesellschaft kann ohne einen Lichtstrahl der Utopie überleben? Setzt diese tödliche Entropie heute, lange nach dem Sturz des Kommunismus, ihre Zerstörungen fort? Man kann es befürchten, denn ohne Dialog kann sich kein Land seine Zukunft vorstellen, und keine kollektive Zukunft läßt sich ohne einen Lichtstrahl der Utopie gestalten: Lufthauch der Freiheit.

Als Anfang 2018 in Europa Millionen digitale Uhren zweimal drei Minuten zurückfielen, wurden Stromverluste für diese Vorfälle verantwortlich gemacht. Der Balkanexperte Alexander Clapp ging den Ursachen dieser mysteriösen Ereignisse nach. Seine Recherchen führten ihn nach Mitrovica ins „Gangland“ im Norden des Kosovo, dem jüngsten Staat Europas. Die Einwohner der einst blühenden Minenstadt Mitrovica, die unter Kontrolle einer Mafia steht, die sich als politische Partei maskiert, müssen für Strom hier nicht zahlen. Deshalb brummt das Kryptomining, das Schürfen von digitalem Geld, das fast überall sonst durch die immensen erforderlichen Stromkosten unrentabel ist. Clapp taucht ein in die entlegenen Grenzgebiete zwischen Serbien und dem Kosovo, einstmals Vorzeigegebiet jugoslawischer Eisenerzminen, später Kriegsgebiet, heute in der Jagd nach Bitcoins vereint: Electric Crypto Balkan Acid Test.

GEWALT UND GESCHICHTE

Mitte bis Ende der dreißiger Jahre: Es ist die Zeit des Spanischen Bürgerkriegs und auch der Moskauer Prozesse. In dem kleinen beschaulichen Dorf Barbizon bei Paris haust ein finsterer Fremder in einer verrufenen Villa. Beschützt von Schäferhunden, umgeben von einigen Gehilfen. Ein Russe, ein alter Verschwörer, wie er sich nennt, der eine neue kommunistische Internationale im Sinn hat. Der vormalige Führer der Roten Arbeiter- und Bauernarmee Rußlands sucht hier Asyl, Leo Trotzki und war Stalins Häschern in der Sowjetunion über Fluchtstationen wie Odessa und Istanbul nach Paris entkommen. Die Indiskretion über seine Anwesenheit entflammt die Presse und die französische Regierung betreibt seine Ausweisung. Trotzki flieht durch Europa, zuletzt nach Norwegen, von wo aus er nach Mexiko entkommt. Sein Sekretär und einige seiner Unterstützer bleiben vor Ort, um in Brüssel die Gründungskonferenz der Vierten Internationale vorzubereiten. Geheimagenten und Auftragskiller von Stalins Tscheka machen sich aus dem Barcelona des Spanischen Bürgerkrieges auf den Weg, um ihr Werk zu verrichten. Eine Schlüsselfigur verschwindet spurlos vom Erdboden. Etwas später entdecken Spaziergänger ein im Fluß treibendes Paket, darin ein Torso, der zu dem Verschwundenen paßt. Ein politischer Thriller entrollt sich. Der Historiker-Detektiv Philippe Videlier rekonstruiert das Geschehen nach der „Methode Maigret“: Die Spur verfolgen, Stunde um Stunde, ohne auf unmittelbaren Erfolg zu hoffen. Agenten, Verschwörer, Revolutionäre in einer politischen Kriminalgeschichte, einer fesselnden historischen Reportage voller Enthüllungen: Wie Klement verschwand.

Zu Unrecht vergessene Schicksale der Nazi-Zeit ruft Thomas Poeschel mit seinen Gebrüder Olden in Erinnerung. Seine Entdeckungen führen ins linksliberale Intellektuellen- und Künstler-Milieu der 1920er und -30er Jahre in Wien und Berlin. Der Journalist Rudolf Olden und sein Bruder Balder als Romancier konnten ihre Haut im letzten Augenblick durch Flucht ins Prager Exil retten, kurz nach dem Reichtagsbrand am 28. Februar 1933. Seit den 20er Jahren hatten Balder und Rudolf Olden als brillante Publizisten frühzeitig vor der faschistischen Machtergreifung gewarnt, sektiererische Verschwörungstheorien und atavistische Tatbereitschaft sichtbar gemacht, Feme und politischen Mord angeklagt, gezeigt, wie Fanatismen und Massenpsychosen erblühen, Heils- und Geheimlehren um sich griffen. In einer Biographie hatten sie Hitler als kollernden Truthahn karikiert und vor dem „tiefen Staat“ der Weimarer Republik gewarnt. Beiden trachteten die Nazis nach der Machtergreifung 1933 nach dem Leben. Rudolf Olden und seine Frau ertrinken 1940 im Atlantik, als ihr Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert wird. Balder Olden stirbt 1949 in Montevideo, fast die gesamte Familie war spurlos verschwunden, von den Nazis ausgelöscht. Die Gebrüder Olden zahlten für ihren Widerstand den höchsten Preis.

Den Namen Italiens nicht nur auf den Lippen, sondern auch im Herzen trugen Giuseppe Garibaldi, seine Frau Anita und sein Freiwilligenheer, das am 2. Juli 1849 von der Piazza San Giovanni in Rom aufbrach, um die nationale Einheit des Landes zu erkämpfen. Im Geist der europäischen Revolutionen von 1848 gegen die Österreicher und die Franzosen, gegen den Vatikanstaat und das Königreich Neapel versammelten sich Tausende, um den Traum vom Nationalstaat gegen die fremden Besatzer zu realisieren. Tim Parks folgt den damaligen Wegen und Pfaden des Idealisten und Abenteurers, durch Berge und Täler, Ebenen- und Küstengebiete. Im Erleben des Italiens von heute erinnert er an Garibaldis Kampf um die Herzen und Gemüter seines Volkes. Das Unternehmen scheiterte, viele seiner Gefolgsleute bezahlten es mit ihrem Leben. Garibaldi entfloh ins Exil, doch kam 1860 zurück; sein neuer Feldzug fegte das alte Regime hinweg und schuf das geeinte Italien: Auf Garibaldis Spuren.

LEBEN UND SCHREIBEN

Am Beispiel des Auftauchens, Erblühens und Vergessenwerdens des Schriftstellers Wolfgang Hildesheimer verfolgt Christan Linder die Entwertung der Schreibkunst und des dichterischen Nimbus. In den Nachkriegsjahrzehnten fieberten Leser grandiosen literarischen Erfindungen entgegen und erwarteten Bücher, die auf poetische Weise Türen zur Erkenntnis ihrer Zeit öffneten. Heute wird ohne Unterlaß geredet, doch ist es, als spräche eine Leere, als kündige sich ein wortloses Zeitalter an, in dem nichts dem alles überflutenden Lärm noch Schweigen gebieten könnte. Als taumele die Menschheit durch ein Labyrinth, dessen Eingang, Ausgang und Struktur keiner kennt und welches wir Geschichte nennen. Ob es bald keine Leser mehr geben wird? Das Ende von etwas. Ein großer Essay über den Abschied von der Geste des Schreibens.

DAS VIRUS AUF DER BÜHNE > ZWEI POLYPHONIEN

Über Nacht bringt ein Virus die Bühnen auf der Welt zum Erliegen. Was aus theaterhistorischer Sicht kaum mehr sein dürfte als ein Aperçu in einer über zweieinhalbtausendjährigen Geschichte, trifft ganze Häuser und viele Einzelne mit ungeheurer Wucht. Vielfach kreuzten sich bereits die Wege von Epidemie und Theater. Antonin Artaud träumte im 20. Jahrhundert von einer Bühne, die ähnliche Entgrenzungen bewirkte wie jene Pest, welcher der Magister Faust schon als junger Mann begegnet war. Eine Erfahrung, die ihrerseits Voraussetzung seiner Wette mit Mephistopheles und des späteren Geschehens ist. Oder die Pest in Theben, die König Ödipus veranlaßt, einen lange zurückliegenden, blutigen Vorfall aufzuklären. Eine Ermittlung, die Nachbeben im Seelenleben der freudianischen Moderne hervorrufen sollte. Die kurze Zusammenschau zeigt, daß dem Theater etwas Unerschütterliches zu eigen ist, das die Kraft besitzt, sich den kleinen wie den großen Katastrophen der Menschheit entgegenzustellen. Was ist nun den Theaterschaffenden in dieser Pandemie widerfahren? Wie hat die Krise in ihr künstlerisches Werk eingegriffen? Wie erfahren sie die dramatisch veränderte Welt? Und wie stellen sie sich ein Wiedererwachen der Bühnen vor? Zwei internationale Umfragen versuchen, dieser Erfahrung nahezukommen.

HERZSCHLAG VERLANGSAMT

In einer weltumspannenden Aktion haben die New Yorker Theatermacher Bonnie Marranca und Frank Hentschker Regisseure, Schauspieler, Leiter von Ensembles um Statements geben: Sahar Assaf, Schauspielerin, Regisseurin aus dem Libanon, Meredith Monk, Komponistin, Sängerin aus den USA, Aristide Tarnagda, Regisseur aus Burkina Faso, Grzegorz Jarzyna, TR Warszawa aus Polen, Milo Rau, Regisseur aus der Schweiz, Richard Schechner, Schriftsteller, Regisseur aus den USA, Guillermo Calderón, Dramatiker, Regisseur aus Chile, Jalila Baccar, Schauspielerin aus Tunesien, Peter Sellars, Theaterregisseur aus den USA, Anna Lengyel, PanoDrama aus Ungarn, Amir Nizar Zuabi, Dramatiker, Regisseur aus Palästina, Edouard Elvis Bvouma, Regisseur aus Kamerun, Hermine Yollo, Schauspielerin aus Kamerun, Kris Verdonck, Regisseur aus Belgien, Anne Bogart, Regisseurin aus den USA, Eugenio Barba, Odin Teatret aus Dänemark.

VERSTÖRUNGEN

Das Experiment Verstörungen des Theaterdenkers Marek Kędzierski präsentiert Stimmen aus der COVID-19-Krise von zahlreichen Bühnenkünstlern. Romeo Castellucci verweigert sich, Krzysztof Warlikowski meditiert in einem Dorf, Barry McGovern ist in Dublin alleine zu Hause, Silvia Costa bannt ihre Ängste durch nächtliche Zeichnungen, Krystian Lupa überdenkt in Asyl und Quarantäne die literarischen Konzepte von Kafkas Prozeß, Sebalds Austerlitz und Thomas Bernhards Auslöschung und Heldenplatz. Auf Gotland lenkt Karl Dunér seine kreative Energie ins Skulpturale, Robert Scanlan studiert irische Poesie. Zu Wort melden sich auch Natalie Ringler aus Stockholm, Lucas Margarit aus Buenos Aires, Zoe Hutmacher aus New York oder Fabienne Trüssel aus Bern. „Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit denken wir an das Ende unserer eigenen Spezies. Es wird einem bewußt, daß das Verschwinden näherrückt“, so Romeo Castellucci.

ASYL UND QUARANTÄNE

Vom permanenten Katastrophenzustand in New York, Vilnius, Marienbad, Theresienstadt und Krakau und seinen inneren Beunruhigungen erzählt der polnische Regisseur Krystian Lupa. Das Empfinden eines unheilverkündeten Traums befällt ihn in den Wochen des Lockdowns. Momente der Panik, der undefinierten Katastrophe, ein Gefühl des Irrealen, ein Arsenal phantastischer Motive, ausgelöst von einer noch nicht genau identifizierten Seuche zieht sein Leben in Bann. Es ist ihm, als würde plötzlich ein schizophrener Regen niedergehen, der sich in einer großen, stehenden Pfütze sammelte und das Wirklichkeitsempfinden veränderte. Die Epidemie ist für ihn ein Katalysator gesellschaftlicher Umwälzungen, in der ausgrenzende Denkweisen und das Schaffen von Feindbildern, das Selbstwertgefühl heben. Und er ist Beschleunigung gesellschaftlicher Regression und Entwicklung hin zu einer inhumaneren und zynischeren Gesellschaft. Lupa schildert, wie er durch seine theatraliche Arbeit an Kafkas Prozeß, Sebalds Austerlitz und Thomas Bernhards Auslöschung und Heldenplatz die psychischen Dimensionen von Auflehnung und Autoaggression, Hoffnung und Absurdität, aufrührerischer Energie und nihilistischer Ohnmacht zu erschließen versucht. Epiphanien aus Asyl und Quarantäne.

DIONYSISCHE WISSENSCHAFT

Was auch immer die Zukunft bereithält – ohne Erdsystemforscher, Planetologen, Meteorologen, Atmosphärenchemiker – wird sie kaum zu meistern sein. Wer aber einen Blick auf das Gebäude des wissenschaftlichen Theaters wirft, das Bertolt Brecht mit Hilfe seiner Referenzfigur Galileo Galilei entwarf, stellt fest, daß es in die Jahre gekommen ist. Wo Brecht die Beherrschung der Natur preist, stellt sich heute die Frage, ob deren Ausbeutung tatsächlich von jener des Menschen zu trennen ist. Frank M. Raddatz betreibt dionysische Wissenschaft und entwirft die Architektur eines wissenschaftlichen Theaters des 21. Jahrhunderts, das auf jenem Terrain siedelt, auf dem Brecht seine theoretischen Bauten errichtete und das zugleich deren epistemologische Grenzziehungen deterritorialisiert. Auf welchem Fundament wäre ein Theatermodell zu gründen, das die Verlagerung von einer politischen Ökonomie hin zu einer politischen Ökologie ästhetisch einlöst: Aktanten-Theater. Vom Naturausbeutungsmodell zu erdsystemischen Zukunftshorizonten

BRIEFE & KOMMENTARE

Regina Hilber sagt Adieu, Hipster zum Antagonisten des Nonkonformisten, einem Allesversteher, übersensitiv, überverständnisvoll, überdiplomatisch, der sich begnügt, seinem selbstgebauten Zeitgeist zu entsprechen, eine neue Häuslichkeit zu pflegen und froh ist, nicht dem Prekariat anzugehören. Das Sensibilisierungsbarometer für eine spießige Gesellschaftsgruppierung.

Michael T. Klare sieht Robotergeneräle kommen. Sämtliche Komponenten eines modernen Generalstabs – die Planung von Schlachten, Informationsbeschaffung, Logistik, Kommunikation und Entscheidungsfindung – sollen zukünftig, neuesten Plänen des US-Genralstabs zufolge, an ein komplexes Netzwerk aus Sensoren, Computern und Software übertragen werden. All das soll in ein „System der Systeme“, ein militärisches Internet der Dinge, integriert werden. Die Kriegsführung wird automatisiert. Schlachten, die sich früher über Tage oder Wochen entwickelten, werden zukünftig in Stunden oder Minuten geschlagen werden und dabei werden solche Mengen von Daten über das Schlachtfeld aus derart vielen Quellen generiert, daß Stabsoffiziere davon überfordert wären. Nur hochentwickelte Computer, sagt man, könnten so viele Informationen verarbeiten und im erforderlichen Zeitfenster Entscheidungen treffen.

Constantin Floros spürt der geistigen Dimension von Beethovens Musik nach und einer Kraft, die den Geist zu stärken, die Seele zu aktivieren und das Bewußtsein zu schärfen vermag: Ein Archetypus bei Beethoven

Den poetischen Geographen Iain Sinclair hat es nach Brüssel verschlagen. Er ist Guy Vaes auf den Spuren. Dieser war ein glänzender Autor, Nachtwanderer; ein Kenner von Vorstädten und Badeorten außerhalb der Saison. Immer auf der Suche nach Gehwegen, wo „das Anderswo Fuß gefaßt hatte“. Ein Psychogeograph, der sich den Situationisten oder Surrealisten geistesverwandt fühlte. Er durchstreifte zwielichtige Gegenden, um Echos von Arthur Conan Doyle oder Thomas De Quincey aufzuspüren. Der leidenschaftliche London-Durchwanderer Sinclair reist nach Brüssel, besucht Waterloo und Antwerpen auf Spurensuche nach dem brillanten, zuwenig bekannten Schriftsteller.

Herbert Maurer aus Wien fühlt sich den sprachlichen Hoheitsverwaltung Österreichs innig verbunden. Die Wiener Amtssprache bietet seit Jahrhunderten Rückhalt, sie ist sozusagen die Geheimsprache, die das Überleben der Menschen garantiert und den Sinn ihres Lebens vermittelt. Wer kein Beamter ist, kann bei der Lektüre von Akten oder Amtsbriefen die Gewissenhaftigkeit des Staates förmlich erriechen. So hat sich auch unter den schwierigeren Bürgern die Tradition einer „Inkassoprosa“ herausgebildet, nach dem Motto: „Ich bin zahlungswillig, aber nicht zahlungsfähig – ich danke für Ihre Bemühungen und werde die Sache umgehend einer Lösung zuführen, soweit es meine Mittel erlauben."

Andrea Porcheddu aus Rom beschreibt das etablierte italienische Theater in seinem Verhältnis zur politischen Macht entweder als Komplize oder in völliger Opposition. Doch es gibt zudem eine in ihren künstlerischen Formen völlig freie alternative Bühne, die in der Begegnung mit dem Anderen die Chance zur Erneuerung des Theatermachens sucht. Dieses Theater baut Theaterbrücken für die Polis. Brücken über das Mittelmeer nach Afrika. Brücken über die sozialen Klassen hinweg. Brücken zur Überwindung individueller und kollektiver Grenzen. Man baut mit theatralischen Mitteln an einer neuen Gemeinschaft und setzt auf die Wahrheit. „Theater ist die behütete Lüge, die wir als Wahrheit darstellen. Die Tragödie ist der Wahnsinn. Und Tragödie ohne Wahnsinn ist Wahnsinn. Tragödie ist das Synonym von Wahrheit, weil sie vom Tod spricht. Nur der Tod sagt die Wahrheit. Nur der Tod, die Kinder und die Wahnsinnigen.“, sagt dazu Theodoros Terzopoulos aus Griechenland.

Ich war viele Jahre nicht hiergewesen. Das Private war halbwegs wiederhergestellt, ab und zu ein paar Thujen, gestutzte Hecken, Zäune aus Eisenstangen, hier und da Putz in Farben, die den Augen wehtaten, aber das waren Inselchen in einem Meer aus uralten Zeiten, einem Meer von Grün. Das Staatliche dagegen war in permanentem Zerfall begriffen. Zerbröckelter Beton, schiefe Pfosten, schwarze, resignierte Kabel, die knapp über der Erde hingen, verzweifelte Brücken, Bahnarbeiter, völlig durchnäßt von einem Wolkenbruch in der Pampa, ohne jede Abschirmung, postindustrielle Ruinen, die von der Natur vereinnahmt wurden, verrostetes Eisen; eine still und langsam gequälte Materie, aus der normalerweise Dinge geschaffen werden, die den Bürgern und der Gesellschaft Schutz bieten. Nur Kirchen und Klöster standen hier und da auf den Hügeln. Frisch gestrichen, herausgeputzt, mit Goldblech beschlagen. Andrzej Stasiuk über seine Reise von der rumänischen Grenze durch die Karpatenukraine nach Norden. „Irgendwas paßte nicht zusammen in dieser Landschaft.“

KUNST

Mark Lammert

„Das philosophische Pingpongspiel zwischen den französischen Denkern Alain Badiou und Jean-Luc Nancy verströmte, nachdem es 30 Jahre unterbrochen und im Jahr 2016 bei einer Konferenz in Berlin wiederaufgenommen worden war, anregende Heiterkeit in einer Atmosphäre generösen Gedankenaustauschs, und der Dialog wechselte zwanglos zwischen den Sprachen. So bot es sich an, dessen gedruckte Version zweisprachig abzuschreiben. Die bei dieser handschriftlichen Transkription hervorgehenden Zeichnungen verstehen sich nicht als Illustration, sondern nehmen eine Arbeitsweise wieder auf, die bereits ein für die Veranstaltung geschaffenes Plakat geprägt hatte. Von den bemalten Knochen des Museumsdieners Eugène Petitcolin aus dem Musée Fragonard an der École vétérinaire in Paris aus dem 19. Jahrhundert bis zu Motiven aus Epidaurus spielen die Arbeiten die europäischen Farben aus. Das geschah in Hotelzimmern in Peking, Schanghai und Taiwan. Und das machte Sinn.“ Mit der Trikolore spielen

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Mit den besten Grüßen,

Lettre International

Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024