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Lettre aktuell 3/2022




Lettre International 138 / Neue Ausgabe


 

Sehr geehrte Leserinnen und Leser, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde,

Lettre International 138 ist da! Und ab sofort erhältlich im Buchhandel und an Zeitungsverkaufsstellen, an Bahnhöfen und Flughäfen sowie ab Verlag (www.lettre.de).


DER INHALT IN KĂśRZE

Joseph Pearson recherchiert zur Geschichte der Berliner Philharmoniker im NS-Staat. Martin Burckhardt analysiert Schein und Wahn in Wirtschaft und Gesellschaft angesichts der drohenden Wirtschaftskrise. Iain Sinclair durchwandert auf seiner Plutokratentour Londons Landschaften des Großen Geldes. Antonis Liakos rekonstruiert die Kleinasiatische Katastrophe 1922. Alexander Kluge und Gustav Seibt belauschen Goethe und Napoleon. Hal Foster dechiffriert die surrealen Bilder René Magrittes. Axel Ruoff taucht ein in Mike Kelleys Glasglockenstadt. Ulrich Breth porträtiert Schauspielerlegende Jean-Louis Trintignant als Meister des ambivalenten Spiels. Christoph Paret analysiert den Wandel der Geschlechterdifferenzen im Film Toni Erdmann. Büchner-Preisträgerin 2022 Emine Sevgi Özdamar schildert ihre türkisch-deutsche Lebensreise und beschwört einen Himmel der Toten. Eva Mattes durchlebt ein Theater der Exzesse. Frank M. Raddatz stürzt sich ins Abenteuer Gaia. Robert Darnton betritt mit uns die theatrale Bühne der Französischen Revolution. Michael Hirschbichler würdigt Neuguineas Geisterhäuser als Anregung für die Lebensräume der Zukunft. Irina Zarifian erklärt kulturelle Wurzeln des russisch-ukrainischen Kriegs. Peter Lachmann nähert sich mit E. T. A. Hoffmann der Putinschen Psyche. Patricia Görg nimmt Abschied von Früher. Roar Høstaker beschreibt die ökologische Krise des Computers. Sergio Benvenuto erklärt Italiens politische Transformation, und Herbert Maurer erinnert an die Idee der Wiener Wohnbaugenossenschaften.


IN EIGENER SACHE – LESEFREUDE UND UNTERSTÜTZUNG

Angesichts von Rohstoffknappheit, blockierten Transportwegen und des andauernden Ukraine-Kriegs sowie weiterhin explodierenden Papier- und Energiepreisen stehen (nicht nur) Zeitschriften vor existenzbedrohenden ökonomischen Herausforderungen. Auch Lettre International ist betroffen und umso wichtiger, umso hilfreicher ist jedes ABONNEMENT! Daher heißt die Parole, kommen Sie an Bord, abonnieren Sie LESEFREUDE UND UNTERSTÜTZUNG in einem! Rufen Sie an! Tel. +49 30 308 704 62. Weitere Infos zu den Abonnements unter www.lettre.de/abo. Sie erhalten: Beste Lektüre ● 4 x im Jahr ● frei Haus (im Inland und in der Schweiz) ● druckfrisch ● direkt in Ihren Briefkasten ● keine Ausgabe verpassen ● unschlagbares Preis-/Leistungsverhältnis: Sie sparen mit einem 1-Jahres-Abo 8 Prozent des Kioskpreises (55,- Euro statt 60 Euro im Inland), mit einem 3-Jahres-Abo 14 Prozent (155,- Euro statt 180 Euro im Inland) ● Schweizer AbonnentInnen sparen bei einem 1-Jahres-Abo 15 Prozent des Einzelverkaufspreises (79,- statt 92,- CHF), bei einem 3-Jahres-Abo 23 Prozent (225,- statt 276,- CHF) ● Bezahlung auch bequem per PayPal möglich.


UND DAS ERWARTET SIE IM NEUEN HEFT:

FINANZEN UND JONGLEURE

Martin Burckhardt untersucht in seinem gesellschaftspolitischen Essay Schein und Wahn aktuelle Umkodierungen der Politischen Ökonomie. Das Phänomen, das Ökonomen „Geldillusion“ nennen – der Umstand, daß ein Stück bedrucktes Papier eine Glaubensgewißheit evoziert, die eine ganze Gesellschaft sich in das kollektive Werte- und Gedankenkorsett hüllen läßt –, materialisierte sich erstmals 1693 mit der Bank of England als Zentralbank, die als Institution den Wert von Banknoten garantierte. Darüber erhebt sich der Leviathan als Prototyp der Staatlichkeit, und so fallen Scheinproduktion und Gesellschaftsfundament in eins. Jede Banknote ist Ausdruck der Scheinproduktion und unser „Realitätsprinzip“ eine kollektive Verabredung, die nur Geltung besitzt, solange alle daran glauben. Die Kreditordnung ist zur unhinterfragten kapitalistischen Weltreligion avanciert. Wenn allerdings der Glaube daran schwindet – etwa durch Hyperinflation, Negativzins, galoppierende Geldentwertung –, kann es zum kollektiven Blackout kommen: einem Psychocrash, dem der Bankencrash folgt. Kehrt das Monster der Weltfinanzkrise zurück? Sind wir schon in einer Zombieökonomie der bad vibrations angelangt, in der die umlaufenden Durchhalteparolen nur noch anrüchige Wortblasen darstellen? Sind nicht auch die Diskurse von einer untergründigen Entwertung betroffen? Die Aufmerksamkeitsökonomie mit ihren narzißtisch aufgerüsteten Influencern, die Vervielfältigung identitärer Falschmünzerakte, die zunehmende Emittierung symbolischen Falschgelds, eine Moral, die von Tugendprotzerei überwältigt wird, die Überwachung der Grenzen des Sagbaren – Zeichen eines klimatischen Umschwungs, der die Temperaturen gefrieren läßt. Ein elektrisierender, alarmierender Befund über heikle gesellschaftliche Konstellationen und über den Advent einer Ökonomie des Bürgerkriegs.

Iain Sinclair wandert durch London auf der Suche nach dem „ganz großen Geld“: Mit einem Faible für das Aufspüren von Strategien, Liegenschaften und Insignien der Superreichen streift er durch Hedgefonds-Biotope, Fintech-Milieus, Luxusmeilen, Golfplätze, Nightclubs und Prachtbauten ohne Namensschilder und interviewt dabei ein monopoly-taugliches Personaltableau: Broker und Risikomanager, Immobilienspekulanten und Nerds, Banker, Aktienmarktzocker, Kunstberater, Oberinspektoren, Schnösel, Stadtplaner, Anwälte, Rebellen, Sowjetnostalgiker. „Unüberbrückbar ist die Kluft zwischen Besitzenden, Jachtbesitzenden und solchen mit großen Jachten: Jachten mit Helipads und Raketenstartrampen, mit Picassos, Warhols und Bacons. Jachten, größer als manche Steuerfluchtinsel. Wenn alles Eis geschmolzen ist und alle Tiere ertrunken oder verbrannt sind, wird die mächtige Geisterflotte der Oligarchen die Weltmeere beherrschen. Ein Trupp Elite-Noahs mit den erforderlichen Paaren an Domestiken – Butler und Zofe, Koch und Köchin, Putzmann und Waschfrau, Seemann und Meerjungfrau, Sicherheitsbeauftragte*r.“ Am geheimnisvollen äußersten Rand dieser Welt, einem ruhigen Vorort finden die fußgängerischen Erkundungen ihr Ende. Hier herrscht die Stille der ernsthaft Reichen, die London besitzen: königliche Familie, Adelige, Gewinnler der fossilen Energienutzung, Mittelsmänner zweifelhafter Regimes. Sie alle reden nicht. Dafür haben sie Personal. Das wirkliche Geld ist stumm, trappistisch. Ein Streifzug von Ost nach West durch die Weltmetropole des Superreichtums und des flüchtigen Geldes. Die Plutokratentour

MUSIK UND MACHT

Der kanadische Autor Joseph Pearson stößt auf dunkle Kapitel in der Geschichte der Berliner Philharmoniker, als ihm ein Zeitzeuge, das letzte lebende Ensemblemitglied, Einsichten in das Geflecht ihrer NS-Verstrickungen eröffnet. Im Januar 1934 wurde die nahezu bankrotte Alte Philharmonie mit der Übernahme durch das NS-Regime vor dem Ruin gerettet. Das Kronjuwel der deutschen Kulturszene wurde dadurch zum Instrument des staatlichen Propagandaarsenals. Die Musiker wurden für „unabkömmlich“ erklärt und so vom Kriegsdienst befreit. Von 1937 an musizierte das Orchester alljährlich zu Hitlers Geburtstag. Beethovens Pastorale und Bruckners 7. Sinfonie spielte man bei den Nürnberger Parteitagen 1936 und 1938 sowie zur Feier der Remilitarisierung des Rheinlands und des Anschlusses von Österreich. Zwischen Oktober 1944 und April 1945 gab das Orchester achtzehn Konzerte für die Rüstungsindustrie. Dem Ensemble fehlte es an nichts. Hitler mißfiel, daß die Berliner nicht derart exquisite alte Instrumente besaßen wie die Wiener Philharmoniker und so startete das Propagandaministerium ein Beschaffungsprogramm. Man wurde fündig, denn unzählige historische Instrumente waren jüdischen Bürgern und NS-Feinden im besetzten Europa geraubt worden. Die Alte Philharmonie ging im Krieg mit dem NS-Regime unter. Aber was geschah mit den kostbaren Instrumenten? Wo sind sie heute? Eine historische Reportage und detektivische Recherche zugleich: Ein Saiteninstrument.

GRIECHEN UND TĂśRKEN

Im August 1922 endete der Traum vom Großen Griechenland der fünf Meere und zwei Kontinente in den Flammen Smyrnas. Das Scheitern der griechischen Invasion auf osmanischem Territorium und die Vertreibung von 1,5 Millionen griechischer Bewohner aus ihrer kleinasiatischen Heimat gelten als griechische Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Griechenland hatte sich in den Balkankriegen 1912/13 territorial enorm vergrößert und zählte zu den Siegermächten des Ersten Weltkriegs. Als auf der Pariser Friedenskonferenz das Erbe des besiegten Osmanischen Reiches verteilt wurde, erreichte Premierminister Venizelos, daß die griechischen territorialen Ziele weitgehend in den Vertrag von Sèvres von 1920 aufgenommen wurden. Dieser Vertrag trat jedoch nie in Kraft, er wurde 1923 durch den Vertrag von Lausanne ersetzt, der bis heute den territorialen Status in der Ägäis regelt. Warum sich die Großwetterlage zu Ungunsten der Griechen änderte, welche Konsequenzen für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen damit einhergingen, schildert der Historiker Antonis Liakos in einem profunden Essay: Kleinasiatische Katastrophe. Kongenial begleitet wird der Text von vier Gemälden von Jannis Psychopedis: 1922.

KĂśNSTLERLEBEN

Alexander Kluge und Gustav Seibt machen sich Gedanken über die Begegnung von Goethe und Napoleon am Rande des Erfurter Kongresses 1808. Kaiser und Genie sprachen miteinander getragen von wechselseitiger Bewunderung, für Goethe ein Höhepunkt seines Lebens. Doch wie glaubwürdig sind die Erinnerungen der Augen- und Ohrenzeugen daran? Bat Napoleon Goethe, ein Stück über das Attentat des Brutus auf Cäsar mit einem glücklicheren Ausgang zu schreiben? Was Cäsar gemacht hätte, wäre dieses Attentat mißlungen, hatte Napoleon sein Leben lang beschäftigt. Schrieb Goethe unter Pseudonym ein Drama namens Clementia Caesaris, das Brutus in der Größe seines Freiheitsheldentums zeigt und Cäsar als zum Vergeben bereiten Monarchen? Gehört dieses Libretto zu den verschollenen Kompositionen Gioachino Rossinis? Ging das Manuskript 1940 beim Versuch der Rettung dieses Schatzes nach Großbritannien, in der Biskaya verloren? Erfurt zeigte den napoleonischen Glanz in seiner größten Entfaltung. Doch ging bereits ein Riß durch die riesige Kuppel seiner Herrschaftsarchitektur. Warum bringt Napoleon auf diesem Erfurter Kongreß keinen Waffenstillstand zustande? Warum gelang es ihm nicht, ein modernes politisches Weltsystem zu etablieren? Welche Charakterzüge, welche Fehler bewirkten Napoleons Untergang? Und welche Rolle spielte eine Schlange in Seidenstrümpfen namens Talleyrand?

Der Kunsttheoretiker Hal Foster widmet sich in Ein Riesenei der Künstlerbiographie René Magrittes, die manche Geheimnisse birgt. Eines nachts im Jahr 1912, als Magritte dreizehn war, sprang seine Mutter plötzlich und völlig unerwartet in die nahe der Wohnung in Châtelet südlich von Brüssel fließende Sambre. Sie wurde erst siebzehn Tage später gefunden, unbekleidet bis auf ein den Kopf bedeckendes Nachthemd. Wie die meisten Schlüsselgeschichten ist diese allzu passend, um vollkommen wahr zu sein. Sie erregt, wie der Kunstkritiker David Sylvester es nannte, „einen zugleich ödipalen und nekrophilen Schauder“. Obwohl Magritte nicht dabei war, spielt er in manchen Gemälden auf den Vorfall an. In Träumereien eines einsamen Spaziergängers (1926) steht ein Mann mit Melone – einem häufig benutzten Requisit des Künstlers – an einem schimmernden Fluß, den Rücken einer horizontal auf der Leinwand schwebenden Frauenleiche zugewandt. „Ich glaube nicht an Psychologie“, sagte Magritte viel später, um simplen Interpretationen vorzubeugen. „Es gibt nur ein Mysterium: die Welt.“ Von der Einsamkeit des Betrachters und dem Schweigen der Welt

Eine Hommage an den vor zehn Jahren aus dem Leben geschiedenen amerikanischen Künstler Mike Kelley präsentiert Axel Ruoff: Glasglockenstadt. Er entschlüsselt das der Comicstripwelt von Superman entlehnte Zeichensystem des rebellischen Konzept- und Installationskünstlers. Wie im Kuriositätenkabinett hinter Glas verwahrt, muß in heutigen Zeiten von Krieg und Seuche Utopisches erscheinen, wenn die Gespenster der Vergangenheit die Gegenwart einholen und sich unter dem Druck des Faktischen jeder Wunsch, jede Phantasie in Alpträume oder Kitsch verwandelt. In der Installationsreihe Kandors (1999–2011) von Mike Kelley erinnern nur noch wenige Relikte an das Leben der Menschen, mit denen es böse geendet haben muß. Mit Ironie fällt auf einen Korb, einen Schuh, ein Hemd, ein Kissen und Porzellanblumen das Zwielicht vergangener Utopien, die eine leuchtende Welt aus Glas verkörpert: farbig durchscheinende futuristische Städte unter Glaskuppeln und weitere große, farbige Glasglocken, in denen galaktische Nebel, Leuchtgase und glitzernde Partikelwolken rotieren. Angesichts dieser phantastischen Kristallarchitektur wirken die aus dem Alltag gerissenen Objekte befremdlich und komisch, sie erscheinen altmodisch, kitschig, aber beunruhigend. Sie könnten aus einem Märchen stammen, etwa Rotkäppchen oder Heidi gehört haben. Zurückgelassen, verloren sind sie mögliche Indizien eines Unfalls, eines Verbrechens. Sie wirken fehl am Platz, irritieren als Readymades in ihrer aufdringlichen Materialität, Gewöhnlichkeit und Funktionalität, ohne aber Spuren von Benutzung oder Herkunft aufzuweisen. Kandors zeigt eine Welt nach den Menschen, deren letzter Wunsch die eigene Vernichtung war, als Erinnerung an eine utopische Welt, in welcher der Mensch nie gelebt hat. Eine Meditation über die gefrorene Zeit und das Schwarze Loch der Erinnerung.

Mit Jean-Louis Trintignant, der am 17. Juni 2022 im Alter von 91 Jahren gestorben ist, hat uns einer der herausragenden Charakterdarsteller des europäischen Autorenfilms verlassen, dessen ästhetischer Minimalismus seinem Spiel eine ebenso schwer beschreibbare wie einzigartige Präsenz verlieh. Sein Lächeln, das die undurchdringliche Miene für Augenblicke aufhellen konnte, hatte etwas Überfallartiges, als ob es den Hang zur Melancholie überrumpeln müßte. Hinter der stoizistischen Fassade seiner Figuren verbarg sich eine fragile Balance zwischen Brutalität und Zärtlichkeit, die jederzeit aus den Fugen geraten konnte. Das machte diese Figuren stets ein wenig unberechenbar und latent bedrohlich. Er war ein Meister des ambivalenten Spiels. Trintignant drehte etwa 150 Filme, spielte mit Regisseuren wie Bernardo Bertolucci, Claude Chabrol, Costa-Gavras, Michael Haneke, Krzysztof Kieślowski, Eric Rohmer und François Truffaut; die Liste seiner Filmpartnerinnen reicht von Anouk Aimée, Fanny Ardant, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert, Marlène Jobert, Jeanne Moreau zu Romy Schneider, er war ein Konformist, ein Verräter, ein Mörder, ein Deserteur, ein Scharfschütze, ein Ermittlungsrichter, ein Verführer, ein hoffnungsloser Katholik, ein Rennfahrer, ein Unbeugsamer, ein Liebender ... Mit ihm ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, für die der französische Existentialismus uns den Blick geschärft hat: der Mensch in der Revolte. Trintignants Magie — eine hinreißende Würdigung seines Lebenswerks von Ulrich Breth

2016 prognostizierte Alain Badiou eine Welt, in der männlichen Jugendlichen der Weg versperrt sei, erwachsen zu werden, Frauen hingegen die Möglichkeit, jung zu sein. Im selben Jahr zeigte die Regisseurin Maren Ade in ihrem Kinowunder Toni Erdmann ein auf den Kopf gestelltes Generationenverhältnis: Eine Karrierefrau arbeitet sich an einem kindischen Scherzbold ab, der ihr Vater ist. Und im US-Wahlkampf jener Zeit stand der republikanische Kandidat Donald Trump als Ausbund anarchischer Unseriosität der bleiernen Ernsthaftigkeit der Demokratin Hillary Clinton gegenüber. Was könnte es bedeuten, wenn Männer auf ewig juvenile Clowns und Frauen nunmehr hyperrealistische Erwachsene wären? Ist eine derartige Geschlechterdifferenz Indiz des Aufbruchs in eine neue Welt, bahnen sich etwa ganz neue Geschlechterdifferenzen an?, fragt Christoph Paret.

THEATERREISEN

Eröffnet wird unser Theaterschwerpunkt mit Photographie: Jacques Grison, Au bord de l’ombre, devant la parole. Das Theater? Für den Photographen ist es der heilige Ort, an dem man in Stille versucht, Zugang zur Sprache zu finden, zum wiedergefundenen und neu artikulierten Wort, zu den reinkarnierten Körpern, den lebendigen. Es ist der Ort des Schreis, den man sieht und auch hört! Das Photoportfolio

Emine Sevgi Özdamar, gerade ausgezeichnet mit dem Georg-Büchner-Preis 2022, arbeitete als Regieassistentin von Benno Besson, war Schauspielerin, verfaßte Erzählungen, Romane und Theaterstücke. Die deutsch-deutsche Theatergeschichte, die Bochumer Peymann-Ära, Arbeiten in Avignon, Engagements beim Faust-Projekt Einar Schleefs am Frankfurter Schauspielhaus oder bei Ruth Berghaus an der Frankfurter Oper oder bei Matthias Langhoff in Frankreich sowie eigene Regiearbeiten formen sich ihr zum literarischen Stoff. Die Schriftstellerin erfährt die Bühne als untrennbar verbunden mit der Welt, ihren Gewaltorgien und kollektiven Katastrophen. Bereits auf der Schauspielschule in Istanbul konstituierten Texte von Georg Büchner, Nâzım Hikmet und Peter Weiss, Filme von Pier Paolo Pasolini, die Lyrik von Arthur Rimbaud die Lingua Franca einer Gegenkultur, die sich mit den Silberstreifen des Prinzips Hoffnung authentifizierte. In Der Himmel der Toten erinnert sie sich an Erfahrungen und Intensitäten ihrer deutsch-türkischen Lebensreise. Sie durchwandert ihren Spuren folgend einen Traum der Bühne, der über Jahrzehnte jene Schatten bannte, die heute scheinbar unaufhaltsam in die Kommandozentralen zurückkehren. Ein Leben für das Theater zwischen Ankara, Ost-Berlin, Paris, Bochum und Frankfurt. Erinnerungen, aufgezeichnet von Frank M. Raddatz.

Eva Mattes spielte in über 200 Filmen und Theaterinszenierungen mit Claudia Cardinale, Klaus Kinski, Romy Schneider, Volker Spengler oder Ulrich Wildgruber. Zu ihren Regisseuren zählen Werner Herzog, Roland Klick oder Peter Zadek. Stets bereit, Grenzen zu überqueren, verkörperte sie in der Fassbinder-Hommage Ein Mann wie E. V. A. eine zwischen Geschlechterrollen und Gefühlsintensitäten oszillierende Hauptrolle. Im Gespräch blickt sie auf das Ringen um ästhetische Signifikanz und Präzision und eine politisch verstandene Film- und Theaterkunst. Wurde früher wochenlang über Figuren und Konstellationen gegrübelt, sind heute schnelle Lösungen gefragt, an Stelle einheitlicher Entwürfe tritt die Montage diverser Medien und Stile. Ein Paradigmenwechsel, der den Theaterkosmos grund-legend verändert, während das Politische zur privaten Angelegenheit gerinnt: Theater der Exzesse.

Wie perspektivieren sich die großen Theaterentwürfe des 19. und 20. Jahrhunderts aus Sicht unserer Gegenwart? Dieser Frage folgt Frank M. Raddatz, indem er Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie mit Bertolt Brechts Konstruktion des Epischen Theaters als ihren Gegenentwurf unter dem Himmel des Anthropozäns belichtet. Votierte Nietzsche für eine Renaissance der Tragödie, der ein Rekurs auf den Mythos inhärent ist, errichtet Brecht, konträr dazu, eine Bühne auf wissenschaftlicher Grundlage. Singt ersterer philosophische Lobgesänge auf den Rausch, plädiert letzterer für das Ideal umfassender Nüchternheit im Denkraum Theater. Doch kommen jene Positionen, die über Generationen schroffe Gegensätze bildeten, im 21. Jahrhundert neu in Bewegung. Ästhetische Diskrepanzen, die das 19. und 20. Jahrhundert bewegten, haben in einer Epoche, in der sich Menschheits- und Erdgeschichte überlappen, keinen Bestand mehr und so eröffnen sich an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft neue Perspektiven. Abenteuer Gaia, Nietzsches und Brechts Theatersysteme im Licht des Anthropozäns

Robert Darnton, Historiker der französischen Kultur- und Aufklärungsgeschichte, widmet sich dem Verhältnis von Theatralität und Gewalt. Nirgendwo im Paris des 18. Jahrhunderts fand sich Theatralität so sehr geballt wie in den Theatern selbst. Doch sie erfaßte darüber hinaus die ganze Stadt: das Parlement oder Höchstgericht, wo die Magistrate wie römische Senatoren deklamierten, das Strafgericht im Châtelet, wo Prozesse wie Dramen inszeniert wurden, die Salons und Cafés, in denen scharfsinnige Geister dick auftrugen, und das Geschehen auf den Straßen, wo Fischhändler, Hausierer, Leierkastenmänner und Bettler um die Aufmerksamkeit der Passanten buhlten. Auf allen seinen Straßen und Plätzen war Paris eine Comédie humaine. Von Despoten als Bösewichten, Richtern als Helden im vorrevolutionären Paris – ein ungewöhnlicher Blick auf die Straßen der französischen Hauptstadt in bewegter Zeit.

KULTUR UND NATUR

Der Architekt und Ethnologe Michael Hirschbichler wendet sich Kulturen und Praktiken zu, in denen die Trennung von Kultur und Natur nie vollzogen wurde, um Denk- und Handlungsweisen zu entwickeln, die den Umständen des Anthropozäns angemessen sind. Er studiert Geisterhäuser in Neuguinea als Modelle einer Organisation von Zeit und Raum, die nicht auf dem Gegensatz von Mensch und Nichtmensch, Subjekt und Objekt, Leben und Tod beruhen und daher Anregungen sind für die Lebensräume der Zukunft. Jene komplexe raumzeitliche Topographie, die man als „mythologische Landschaft“ bezeichnet, wurde in diesen Geisterhäusern verdichtet, um die Geschichte der Menschen und jene der Umwelt in komplexen narrativen Netzen von „Geostorys“ zu verflechten. Geisterhäuser verkörpern die Haltung, mit Schwierigkeiten zurechtzukommen, um Weiterleben zu ermöglichen, und dauerhafte Teilhabe an einem artenreichen, pluri-ontologischen Ökosystem zu gewährleisten. Was kann eine Architektur des Anthropozäns daraus lernen? Kaiaimunutektur!

BRIEFE & KOMMENTARE & KORRESPONDENZEN

Ein Fall für E. T. A. Hoffmann – das ist für Peter Lachmann der Autokrat und Kriegsfürst Putin. E. T. A. Hoffmanns Werk ist nicht tot. Man begegnet darin dem von leidenschaftlichen Tyrannen-Verurteilungen Gezeichneten, einer Gestalt, die als Kontrafaktur-Vorwegnahme des russischen Machthabers erscheint, der plötzlich vielerseits analysiert wird, als sei er ein Notfall für den Psychiater. Man versucht, Einblicke ins bislang Verdrängte zu gewinnen. Diese betreffen die unberechenbare Methodik des Willkürherrschers, dem die Demokratie ein Dorn im Auge ist, auch wenn er sich 2007 als den einzigen Demokraten der Welt bezeichnete: „Ich bin ein absoluter, reiner Demokrat. Wißt ihr, worin das Problem besteht? Nein, es ist nicht mal ein Problem, es ist eine Tragödie. Ich bin der einzige, es gibt sonst keinen mehr auf der Welt.“ Auch der Hoffmannsche Einsiedler Serapion war von Sinnen, ja, gab den Sinnen den Laufpaß, um sich einzig und allein dem von seinem Geist produzierten Weltbild zu überlassen. E. T. A. Hoffmanns Texte werden noch immer fälschlicherweise als phantasievolle Gespenstergeschichten eines „Geistersehers“ gelesen. Die tragischen Ereignisse, deren Zaungäste wir vorerst noch sind, erinnern zwangsläufig daran, daß es Hoffmann selbst war, der diese Märchen-Lesart verwarf: „Ja, wohl ist das Entsetzliche, was sich in der alltäglichen Welt begibt, eigentlich dasjenige, was die Brust mit unverwindlichen Qualen foltert, zerreißt. Ja, wohl gebart die Grausamkeit der Menschen das Elend, was große und kleine Tyrannen schonungslos mit dem teuflischen Hohn der Hölle schaffen, die echten Gespenstergeschichten.“ (Die Serapions-Brüder)

Die ökologischen Dimensionen der Digitalisierung untersucht Roar Høstaker. Einer der größten Microchiphersteller Taiwans benötigt täglich 156.000 Tonnen Wasser nur zur Kühlung seiner Produktion. Der Sektor der Informations- und Kommunikationstechnik alleine verbraucht heute zehn Prozent der Weltelektrizität. Die materielle Dimension der Digitalisierung beruht auf dem Abbau von Erzen, Öl und seltenen Erden; aus dem ungleichen Vorkommen der siebzehn metallischen Elemente resultiert eine neue Geopolitik. Hardware- und Softwareentwicklung basieren auf der Extraktion von Rohstoffen und Informationen. Auf natürlichen Sprachen basierende Programme oder Gesichtserkennungssoftware erfordern ungeheure Datenmengen als Trainingsmaterial. Wer wählt diese aus und auf welcher legalen Grundlage? Wird der Nutzen der dynamisch anwachsenden Digitalisierung die Kosten übersteigen? Zur Ökologie des Computers – eine Bestandsaufnahme.

Irina Zarifian analysiert die kulturellen Genealogien des russisch-ukrainischen Krieges und vermutet, daß insbesondere gegenüber Ländern und Kulturen, von denen andere Gesellschaften wesentliche kulturelle Prägungen und Überzeugungen übernommen haben, eine Konkurrenz um Urheberschaft und Schöpferoriginalität entsteht, die sich über interpretatorische Konflikte zu kriegerischen Auseinandersetzungen aufladen kann. Sie führt dies am wechselseitigen Verhältnis zwischen Rußland und der Ukraine aus. Erst eine historische Betrachtung der sich überlagernden kulturellen Einflüsse und Übernahmen kann erklären, zu welchen bestimmten geographischen Orten die Expansionsgelüste führen: Kulturelle Wurzeln des Krieges.

Patricia Görg erinnert an Früher:
„Früher ist eine diffuse Erinnerung an klare Zukunftshoffnungen (...)
FrĂĽher war Ankommen eine halluzinatorisch sichere Sache (...)
Früher, früher, und nicht heute. Unsere erholsamen Tage sind im Plusquamperfekt verschwunden. ... Eine Zukunft macht sich breit, die beklommene Seelen auf die Wäscheleine hängt und dort vergißt. Sie baumeln wild im Wind.“ (...)

Sergio Benvenuto kommentiert den Sieg der Anti-Politik bei Italiens Wahlen. Was genau bedeuten „Gott – Vaterland – Familie“, jene Ideale, mit denen Giorgia Meloni bei den Wahlen antrat? Sie betont: „Ich bin eine italienische Mamma.“ Mit „Gott“ meint die Rechte nicht die Göttlichkeit verschiedener Religionen, sondern nur den Gott der eigenen Religion. Im Fall Italiens ist das die katholische, zu der sich 84 Prozent der Italiener bekennen. „Gott“ bedeutet bei der Rechten: „meine eigene religiöse Tradition.“ Mit „Vaterland“ meint die Rechte nicht nur die Liebe zum eigenen Land. Die Beschwörung des Patriotismus bedeutet: ein weniger geeintes Europa. Das heißt, „mein Land“ soll die liberalen Demokratien nicht mehr verteidigen, auch nicht die Demokratie der Ukraine und Taiwans, denn „mein Land“ hat keine ideologische Grundlage. Für die Linke hingegen verkörpert Patriotismus immer auch eine universalistische Wertigkeit: „Ich bin für mein Land, weil es universelle Werte vertritt!“ Mit „Familie“ meint die Rechte im Grunde die heterosexuelle Familie auf der Basis der Ehe. Keine „Regenbogenfamilien“, keine Familien mit zwei Vätern oder Müttern, keine Eheschließung von Personen desselben Geschlechts. „Gott – Vaterland – Familie“ bedeutet also nichts anderes als: „Die Religion meiner Heimat. Allein unsere nationalen Interessen. Keine Anerkennung der Homosexualität.“ Italia – quo vadis?

Herbert Maurer fragt angesichts der kriegerischen Städtezerstörung in der Ukraine nach Möglichkeiten eines späteren Neuanfangs. Er erinnert an die Wiener Baugenossenschaften und ihre originären Leistungen beim Wiederaufbau Wiens nach Kriegsende 1945. Könnten sie ein Modell der Zukunft sein? Der völlige Neuanfang in einer verwüsteten und in Armut zurückgebombten Stadt war das Gebot der Stunde. Der „Gemeindebau“ war die Basis, der „gemeinnützige Wohnbau“ eine Fortentwicklung, eine Mischform von gemeinwohlorientierter, gelenkter Baupolitik und privatwirtschaftlichen Investitionen. All das unter der Prämisse einer städtebaulichen Entwicklungsqualität nach Ordnungsprinzipien. Was die Nachkriegsstädte Mitteleuropas mit vielen Kriegs- und zukünftigen Nachkriegsstädten der heutigen Ukraine gemeinsam haben, ist ein großes Nichts. Auch wenn Vergleiche zwischen dem im Feuersturm plattgemachten Nachkriegs-Hamburg und dem selektiv zerstörten, geisterhaften Mariupol übertrieben erscheinen, Dantes „incipit vita nova“ bleibt das romantisch-pragmatische Programm: Geistesgegenwart nach dem Inferno – eine wienerische Genossenschaft

KUNST UND PHOTOGRAPHIE

Holger Kleines sieben Architekturphantasien sind eine sich schrittweise entfaltende, dicht gewobene Phänomenologie der Architektur in zeichnerischer Form. Die einzelnen Entwürfe entzünden sich an dem architektonischen Potential einiger literarischer Motive, Methoden und Themen von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und erkunden zugleich das erzählerische Potential architektonischer Mittel. Als formales Leitmotiv dient die Parabel, da man ihr einen quasi proustschen Charakter attestieren kann: der geschmeidige und doch regelhafte Verlauf ihres Bogens ... ihre Nähe sowohl zur natürlichen Kettenlinie als auch zum Spitzbogen der von Proust geliebten Gotik ... die Schönheit ihrer mathematischen Gleichung y = x2... die Unabgeschlossenheit ihrer Form, deren zweiter Brennpunkt im Unendlichen liegt ... Ebenso wie die als Nebenmotive auftretenden Rechtecke durchlaufen die Parabeln in diesen Architekturphantasien eine Reihe von Charakter- und Bedeutungswandlungen. Das Photoportfolio – diesmal zum Theater – kommt vom französischen Photographen Jacques Grison.

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024