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Cover Lettre International 91, Sam Szafran
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Inhaltsverzeichnis

LI 91, Winter 2010

Cathay

(Auszug/LI 91)

 

DIE ZWÖLF SINGVÖGEL im Thronsaal des Kaiserlichen Palastes sind aus gehämmertem Gold, mit Ausnahme der Kehlen, die aus Silber sind, und der Augen, zweier durchsichtiger Jadesteine von smaragdgrüner Farbe. Die Blätter des großen Baumes, auf welchem sie sitzen, sind aus Kupfer und der Stamm und die Zweige aus opakem Jade. Das Ganze ist so gemalt, daß es die natürlichen Farben der Blätter, des Stammes und der Rinde imitiert. Wenn sie auf den Zweigen sitzen, im dichten Blattwerk, sieht man von den Vögeln nur gerade ein Glitzern von Gold oder ein Blitzen von Jade, obgleich ihr erhabener Gesang mühelos von allen vier Ecken des Thronsaales aus gehört werden kann, selbst im Vorraum. Die Vögel bleiben nicht immer in den Zweigen, sondern verlassen diese von Zeit zu Zeit, um über den Baum zu fliegen. Manchmal läßt sich einer von ihnen auf den Schultern des Kaisers nieder und erfüllt dessen Ohr mit den Klängen seines melodiösen und melancholischen Gesanges. Man weiß, daß die Musik durch eine innere Mechanik erzeugt wird, die eine winzige Kristallnadel enthält, aber das Geheimnis der Konstruktion wird sorgsam gehütet. Die Folge der Bewegungen, die von den mechanischen Vögeln ausgeführt werden, wiederholt sich notwendigerweise immer wieder, aber so kunstfertig, daß man sich der Wiederkehr nicht bewußt wird. Und tatsächlich wird nur, wer sich unablässig auf die Bewegungen eines einzelnen Vogels konzentriert, nach einer gewissen Zeit bemerken können, daß die Folge wieder neu beginnt, denn die Bewegungen der zwölf Vögel sind verschieden, sie sind so geschickt ausgeklügelt worden, daß sie voneinander ablenken. Die Gestalt und die Bewegungen der Vögel sind so lebensecht, daß man noch leicht einmal glauben könnte, wirkliche Vögel vor sich zu haben, hätten sie nicht goldene Umrisse. Einige glauben, den Vögeln sei das künstliche Aussehen darum belassen worden, weil damit ein mögliches Mißverständnis vermieden und unser Entzücken gesteigert werde.

 

WOLKEN

 

Die Wolken von Cathay sind von ungewöhnlich reinem Weiß, und sie unterscheiden sich deutlich vom reichen Lapislazuliton unseres himmlischen Gewölbes. Vielleicht ist es uns deshalb möglich gewesen, unsere Wolkenformen mit einer Genauigkeit und einer Gründlichkeit zu klassifizieren, die man anderenorts nicht kennt. Es steht zweifelsfrei fest, daß keine Wolke an unserem Himmel eine Form hat, die nicht schon benannt worden wäre. Der Name leitet sich immer von einem Gegenstand her, sei er natürlich oder künstlich, der in unserem Reich vorkommt, das so groß ist, daß es von ihm heißt, es enthalte alles. So kann eine Wolke „Welle Nummer eins“ heißen oder „Welle Nummer 626“, oder „Drachenschwanz Nummer sieben“, oder „Wind im Weizen Nummer 45“, oder „Kaiserlicher Sattel Nummer 23“. Die Folge unserer Vollständigkeit ist die, daß unseren Wolken alle Vagheit und Unbestimmtheit abgeht, die andere Himmel eintrüben, und daß ihnen, außer in der Reihenfolge der Bilder, die Zufallsspiele versagt bleiben. Es ist, als wären sie fließende Skulpturen, die sich nach Belieben zu einer Folge von Nachahmungen fügen. Für den, der sich in der Vielfalt der Formen auskennt, erzeugt die Kunstfertigkeit unseres Himmels allein damit, daß sie das Unbekannte verbannt, keineswegs etwa Monotonie. Vielmehr erfüllt sie uns mit glücklicher Überraschung. Es ist, als ob eine Handvoll Sand in die Luft geworfen würde und man zusehen könnte, wie dieser in rascher Folge die Gestalt eines Drachen, einer Sanduhr, eines Steigbügels, eines Palastes, eines Schwanes annimmt.

 

SCHLAFLOSIGKEITSKORRIDORE

 

Wenn der Kaiser nicht schlafen kann, verläßt er seine Kammer und schreitet in einem der zwei privaten Korridore, die zu diesem Zweck geschaffen worden sind und die unter dem Namen „Die Korridore der Schlaflosigkeit“ bekannt sind. Die Korridore sind so lang, daß ein Mann, galoppierte er auf einem Pferd, es in einer Nacht nicht schaffte, das Ende eines dieser Korridore zu erreichen. Einer der Korridore hat Wände aus Jadestein, die so geschliffen sind, daß sie wie Spiegel glänzen. Den Boden bedeckt ein scharlachroter Teppich, und der Korridor wird hell erleuchtet von den Flammen aus zahlreichen Kronleuchtern. In den Spiegeln aus Jade, welche durch senkrechte Streifen aus Gold unterteilt werden, kann der Kaiser sich unendlich oft in immer grüner werdende Tiefen hinein gespiegelt sehen, während im Unendlichen die schnurgeraden Mauern in einem Punkt zusammenzulaufen scheinen. Der zweite Gang ist dunkel, uneben und gewunden. Die Wände sind so hergerichtet worden, daß sie den Wänden einer Höhle gleichen, und ihr Abstand ist ziemlich unregelmäßig. Bisweilen sind sie so nahe beieinander, daß der Kaiser sich nur mit Mühe hindurchzwängen kann, während sie anderswo wiederum doppelt so weit auseinanderstehen wie die Jadewände im schnurgeraden Gang. Diesen Gang beleuchten knisternde Fackeln, die weite Teile in der Finsternis belassen. Der Fußboden ist aus gestampfter Erde, darauf liegen Steine; dann und wann spiegelt sich in einer dunklen Lache eine Fackel.

 

SANDUHREN

 

Die Kunst des Stundenglases ist in Cathay hochentwickelt. Weißer Sand und roter Sand sind am weitesten verbreitet, aber es wird reichlich Sand in allen Farben verwendet, obwohl viele Schneewasser bevorzugen oder Quecksilber. Es gibt für die Glasbehälter eine verschwenderische Fülle von Formen; die Affensanduhren aus unseren nordöstlichen Provinzen sind zu Recht berühmt. Man kann köstliche erotische Sanduhren, oft in durchsichtige Seide gewickelt, im Haushalt eines jeden Adligen finden. Unser Herrscher hat eine Leidenschaft für Sanduhren; außer in seiner privaten Sammlung gibt es, verteilt in den weiten Räumen des Kaiserlichen Palastes und auch in den Parks und Gärten, unzählige Sanduhren, so daß der Sanduhrenwender und seine Gehilfen unablässig an der Arbeit sind. Es heißt, der Herrscher trage, eingenäht in sein Gewand, eine kleine goldene Sanduhr mit sich, die von einem Miniaturisten am Hofe gefertigt worden sei. Es heißt auch, man könne, wo immer man sich in dieser Überfülle von Hallen, Zimmern und Gängen des Kaiserlichen Palastes befinde und aufmerksam in die nächtliche Stille hineinhorche, das feine und nicht enden wollende Geräusch von Sand hören, der durch die Sanduhren riesle.

 

KONKUBINEN

 

Die Konkubinen des Herrschers leben in abgelegenen, aber prächtigen Suiten im nordwestlichen Flügel, wo auch die Künstler und Miniaturisten untergebracht sind. Die Nachbarschaft ist nicht abwegig, denn die Konkubinen werden ihres Raffinements wegen in Ehren gehalten. Der Gang einer Konkubine ist ein Meisterwerk an Schlüpfrigkeit, verglichen mit dem die stürmischen Bewegungen einer gewöhnlichen Frau, die beim Liebesakt dem Höhepunkt entgegenstrebt, sich ausnehmen wie der förmliche Ausdruck von höflichem Interesse in einer langweiligen Konversation. Der Anblick einer schreitenden Konkubine, selbst wenn er ihn zufällig und durch ein Fenster hindurch erhascht, bedeutet für einen gewöhnlichen Sterblichen die Erfahrung einer zerstörerischen Ekstase, die selbst den intensivsten Vergnügungen, die er je gekannt hat, weit überlegen ist. Diese unglücklichen Höflinge, gebrochen durch einen einzigen Blick, verbringen den Rest ihres Lebens in der fiebrigen Qual einer nicht erfüllten Begierde. Es wird gesagt, daß die Konkubinen, von denen einige keine 14 Jahre alt sind, vier durchsichtige Seidenröcke tragen, die jeweils scharlachrot, gelb-rosa, weiß und pflaumenblau sind. Was wir über ihre Kunst wissen, gelangt über die Eunuchen zu uns, welche ihre privilegierte Situation auskosten und denen nicht immer geglaubt werden darf. Diese Kunst beruht, wie es scheint, zu einem großen Teil auf den erotischen Paradoxien des durchsichtigen Verbergens und undurchsichtigen Enthüllens. Spiegel, Seidenkleider, der dunkle Samt von Teppichen und Überwürfen, Schwimmbecken von einem transparenten Blau im verborgenen Hof, Halstücher und Schiebefenster, Schleier, scharlachrotes und jadegrünes Licht aus farbigen Fenstern, Schatten, Implikationen, Illusionen, Duplizitäten von dem, was enthüllt wird, ein vollkommenes Wissen um Monotonie und Überraschung – mit diesen Mitteln betreiben die Konkubinen ihre Kunst. Obwohl sie im Palast leben, umgibt sie ein Hauch von Körperlosigkeit, ein Glanz von Legende, denn sie werden nie gesehen, au-ßer vom Herrscher, der göttlich ist, sodann von den dienstbaren Eunuchen, die keine wirklichen Männer sind, und von gewissen Höflingen, die von ihrer Begierde beinahe in den Wahnsinn getrieben werden und die unfähig sind, das zu beschreiben, was sie gesehen haben. Man hat schon behauptet, die Konkubinen existierten nicht; der Scherz enthält einen wahren Kern, denn wie alle Künstler leben sie derart nahe an der Illusion, daß ihr Leben allmählich zur Illusion gerät. Wenn man sagt, daß diese außerordentlichen Verkörperungen des Fleisches, diese üppigen Verkörperungen der Begierde ganz im Geiste leben, so ist das keine Übertreibung; sie sind so unfaßbar wie Gelehrte; sie sind unsere einzigen Jungfrauen.

 

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