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Cover Lettre International 61, Friedemann von Stockhausen
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Inhaltsverzeichnis

LI 61, Sommer 2003

Herrlicher Hirsch, gejagt

Katastrophe und Glück - Bekenntnisse zur Liebe in Rußland

Ich hatte Urlaub. Ich bin wieder verreist. Er lief neben dem Zug her und winkte mir lange nach. Aber schon im Zug begann für mich eine Romanze. Da waren zwei junge Ingenieure aus Charkow, die fuhren auch nach Sotschi, genau wie ich. Mein Gott! Ich war so jung. Meer, Sonne. Wir haben gebadet, getanzt und uns geküßt. Ich fühlte mich so leicht und unbeschwert, denn die Welt war so einfach, tscha-tscha-tscha-kasatschok und so, ich war ganz in meinem Element. Ich werde geliebt, werde auf Händen getragen, zwei Stunden lang, in die Berge hoch hat er mich getragen ... Junge Muskeln, junges Lachen. Lagerfeuer bis zum Morgen ... Ich hatte einen Traum. Der Traum war so: Die Zimmerdecke öffnet sich ... Der Himmel ... Ich sehe Gleb ... Wir beide laufen, laufen am Meer entlang, und die Steine am Strand sind nicht rundgeschliffen, sondern ganz spitz, dünn und spitz wie Nägel. Ich habe Schuhe an, er ist barfuß. "Barfuß", erklärt er mir, "kann man besser spüren." "Ja, daß es weh tut. Komm, wir tauschen." "Nicht doch! Dann kann ich doch nicht wegfliegen", und nach diesen Worten steigt er auf, kreuzt die Arme auf der Brust wie ein Toter, und so fliegt er, entschwebt. Auch jetzt noch, wenn ich von ihm träume, sehe ich ihn immer fliegen. Nur die Arme sind immer gekreuzt wie bei einem Toten, überhaupt nicht wie Flügel ...

Mein Gott, ich bin verrückt, das dürfte ich niemandem erzählen. Trotz allem habe ich meistens das Gefühl, daß ich glücklich bin in diesem Leben. Selbst, als er dann nicht mehr da war. Ich komme auf den Friedhof, und ich weiß, ich gehe ... Er ist irgendwo hier, und das ist ein so heftiges Glücksgefühl, daß ich am liebsten schreien möchte ... Mein Gott ... (Zu sich selbst. Undeutlich:) Ich bin verrückt ... Mit dem Tod bist du ganz allein. Er ist viele Male gestorben, er hat den Tod geprobt, seit er 16 war. "Morgen bin ich Asche, und du wirst mich nicht mehr finden." Wir kommen allmählich zum Wichtigsten ... In der Liebe lebe ich immer langsam, ganz langsam. In kleinen Schlucken. Diese Geschichten sind immer spannend, wir lieben Fortsetzungen ...

Der Urlaub geht zu Ende, ich kehre zurück. Der Ingenieur begleitet mich bis nach Moskau. Ich muß Gleb alles erzählen ... Ich komme zu ihm. Auf dem Tisch liegt ein Taschenkalender, ganz vollgeschrieben, die Tapeten im Arbeitszimmer sind vollgekritzelt, selbst die Zeitungen, die er gelesen hat ... Überall nur vier Buchstaben: d, w, d, w/dwdw. Groß, klein, in Druckschrift und in Schreibschrift. Ich frage: "Was ist das?" Er entschlüsselt: Das war’s dann wohl? Und überall Fragezeichen ... Wie Schlüssel ... Ja, wir werden uns also trennen, und das müssen wir irgendwie Anka erklären. Wir fuhren sie abholen. Bevor sie aus dem Haus ging, mußte sie immer unbedingt noch etwas malen, aber diesmal hat sie es nicht geschafft. Sie sitzt im Auto und heult. Aber er war schon daran gewöhnt, daß sie so verrückt ist, er fand, das sei Talent. Das war eine typische Familienszene bei uns: Anka heult, er erklärt ihr irgend etwas, und ich stehe dazwischen ... Er sieht mich an, sieht mich so an ... (Schweigt.) Ich begriff: Er ist wahnsinnig einsam. (Schweigt.) Was für ein Glück, daß ich nicht achtlos vorübergegangen bin ... Was für ein Glück! Wir müssen heiraten; er hat Angst, weil er schon zweimal verheiratet war. Die Frauen haben ihn verraten, sie waren erschöpft, man kann ihnen keinen Vorwurf machen ... Ich bin nicht vorübergegangen ... Und ich ... Er hat mir ein ganzes Leben geschenkt.

Er wollte nicht ausgefragt werden. Offen darüber geredet hat er selten, wenn, dann waren das immer irgendwelche Schelmenstückchen, so lustige Lagergeschichten, dahinter hat er das Ernste versteckt. Er hatte ganz andere Maßstäbe. Er sagte zum Beispiel nie "Freiheit", er sagte immer "draußen". "Und nun bin ich draußen." Ganz selten mal war er in der Stimmung ... Und dann erzählte er immer so plastisch ... Ich spürte richtig die Freuden, die er dort erlebt hat: Wie er ein paar Stücke Reifengummi ergattert und sie auf die Sohlen seiner Filzstiefel gebunden hatte, und dann kamen sie auf Transport, und wie er sich freute, daß er diese Reifengummis hatte.

Einmal brachte jemand einen halben Eimer Kartoffeln, und irgendwo draußen, wo sie arbeiteten, gab ihnen jemand ein großes Stück Fleisch. Nachts kochten sie sich im Kesselraum eine Suppe. "Weißt du, das hat geschmeckt! Wunderbar!" Bei der Entlassung bekam er eine Wiedergutmachung für seinen Vater, sie sagten zu ihm: "Wir schulden dir etwas für das Haus, für die Möbel ..." Viel Geld. Er kaufte sich einen neuen Anzug, ein neues Hemd, neue Schuhe und einen Photoapparat, dann ging er ins Restaurant National, bestellte das Allerbeste, trank Kognak und Kaffee zur hauseigenen Torte. Und als er sich satt gegessen hatte, bat er jemanden, ihn in diesem glücklichsten Augenblick seines Lebens zu photographieren. "Ich komme zurück in die Wohnung, wo wir gelebt haben", erzählte er, "und ertappe mich bei dem Gedanken, daß ich kein Glück empfinde. In diesem Anzug, mit diesem Photoapparat

... Warum empfinde ich kein Glück? Ich mußte an die Reifengummis denken, an die Suppe im Kesselraum – das ist Glück gewesen." Und wir bemühten uns, zu verstehen. Ja ... Wo lebt es denn, das Glück? Das Lager hätte er um keinen Preis eingetauscht. Seit er 16 war bis fast 30 kannte er kein anderes Leben, und wenn er sich vorstellte, man hätte ihn vielleicht nicht eingesperrt, wurde ihm ganz bange. Was wäre dann gewesen? Statt dessen? Was hätte er nicht erfahren? Was hätte er nicht gesehen? Wahrscheinlich das Wesentliche, das ihn zu dem machte, der er war. Auf meine Frage: "Was wärst du jetzt ohne das Lager?" antwortete er: "Ich wäre ein Dummkopf und würde in einem roten Sportwagen rumfahren, dem allerneuesten Modell." Ehemalige Lagerhäftlinge sind selten befreundet, irgend etwas hindert sie daran. Was? Jeder sucht in den Augen des anderen, was war, die erlebten Demütigungen sind ihnen im Wege. Besonders den Männern. Ehemalige Lagerhäftlinge kamen nur selten zu uns, er suchte den Kontakt nicht ...

Im Lager wurde er zu Kriminellen gesteckt ... Ein halbes Kind noch ... Was dort mit ihm geschah, wird niemand je erfahren. Eine Frau kann über erlebte Demütigungen sprechen, ein Mann nicht, einer Frau fällt das leichter, denn die Gewalt liegt schon in ihrer Biologie, im Geschlechtsakt. Sie beginnt jeden Monat das Leben neu ... Die Zyklen ... Die Natur selbst kommt ihr zu Hilfe ...

Zweimal Dystrophie dritten Grades ... Er lag auf seiner Pritsche, voller Furunkel, in seinem eigenen Eiter ... Er hätte eigentlich sterben müssen, blieb aber aus irgendeinem Grund am Leben. Der Junge neben ihm starb, und er drehte ihn mit dem Gesicht zur Wand. Drei Tage lang schlief er so neben ihm. "Und der da, lebt der noch?" "Ja." So bekam er zwei Brotrationen. Das Grauen war so groß, daß das Gefühl für die Realität verlorenging, der Tod schreckte nicht mehr. Winter. Draußen liegen ordentlich gestapelte Leichen ... Meist Männer ...

Auf der Rückfahrt nach Hause lag er auf der oberen Pritsche im Abteil. Der Zug brauchte eine ganze Woche. Tagsüber blieb er oben, zur Toilette ging er nachts. Er hatte Angst. Wenn Mitreisende ihm was zu essen anboten, fing er an zu weinen. Wenn sie sich dann unterhielten, erfuhren sie, daß er aus dem Lager kam ...

Er war wahnsinnig einsam ...

Nun erklärte er allen stolz: "Ich habe Familie." Jeden Tag staunte er über sein normales Familienleben, überhaupt war er irgendwie sehr stolz darauf. Nur die Angst ... Die Angst saß tief in ihm, die hatte sich in ihn hineingefressen, nachts wachte er auf, schweißnaß vor Angst: daß er sein Buch nicht mehr beenden würde, seine Familie nicht ernähren könne, daß ich ihn verließe ... Erst die Angst, und dann die Scham für die Angst. "Gleb, wenn du willst, daß ich für dich im Ballett tanze, dann tue ich das. Für dich tue ich alles." Im Lager hat er überlebt, aber im normalen Leben ... Ein einfacher Milizionär, der das Auto anhielt, brachte ihn an den Rand eines Herzinfarkts. "Wie konntest du dort nur überleben?" "Ich wurde als Kind sehr geliebt." Was uns rettet, ist die Menge an Liebe, die wir bekommen haben, das ist unser Halt, unsere Reserve. Ich war Krankenschwester ... Kindermädchen ... Schauspielerin ... Damit er sich so sah, wie er eigentlich war, damit er seine Angst nicht sah, sonst hätte er sich nicht lieben können. Damit er nicht erfuhr, daß ich wußte ... Die Liebe, das ist ein Vitamin, ohne das der Mensch nicht leben kann, ohne das gerinnt sein Blut, bleibt sein Herz stehen. Ach, wieviel habe ich aus mir herausgeholt ... Leben wie ein ständiger Hundertmeterlauf ... (Schweigt. Wiegt sich leicht im Rhythmus ihrer Gedanken.)

Und wissen Sie, worum er mich vor seinem Tod gebeten hat? Seine einzige Bitte war: "Schreib auf den Stein, der über mir liegen wird, daß ich ein glücklicher Mensch war. Ich habe so viel geschafft: Ich habe überlebt, habe geliebt, habe ein Buch geschrieben, ich habe eine Tochter. Mein Gott, was bin ich für ein glücklicher Mensch." Wenn das ein Fremder hört oder liest ... Der wird es nicht glauben ... Das ist doch krank, wird er denken ... Aber er war ein glücklicher Mensch! Er hat mir so viel geschenkt ... Ich bin anders geworden ... Wie winzig ist doch unser Leben ... Mir sind selbst 80, ja, 100, ja, 200 Jahre zuwenig. Ich sehe, wie meine alte Mutter in den Garten schaut, sie möchte sich davon nicht trennen. Niemand möchte sich davon trennen ... Schade, wie schade, daß er mich so, wie ich jetzt bin, nicht kannte ... Ich habe ihn verstanden ... Erst jetzt habe ich ihn verstanden ... Ja ... Er hatte ein wenig Angst vor mir, ein ganz kleines bißchen. Angst vor meinem weiblichen Wesen, vor etwas ... Immer wieder hat er gesagt: "Merk dir, wenn es mir schlecht geht, will ich allein sein." Aber ... Das konnte ich nicht ... Ich mußte unbedingt immer auf ihn aufpassen. (Schweigt, denkt nach.) Man kann den Tod nicht aus dem Leben wegfegen, damit es so rein ist wie der Tod. So, daß der Mensch so schön wird, wie er ist. Es ist wohl undenkbar, zu diesem Wesentlichen im Leben durchzudringen. Ihm nahezukommen.

Als ich erfuhr, daß er Krebs hat, habe ich die ganze Nacht geweint, und am Morgen bin ich zu ihm ins Krankenhaus gerannt. Er saß auf dem Fensterbrett, gelb und sehr glücklich, er war immer glücklich, wenn sich in seinem Leben etwas veränderte. Erst das Lager, dann die Verbannung, dann begann die Freiheit, und nun wieder etwas Neues ... Der Tod als Freiheit ... Als Veränderung ...

"Hast du Angst, daß ich sterbe?"

"Ja."

"Nun, erstens habe ich dir nichts versprochen. Und zweitens wird das zu Hause passieren und nicht so bald."

"Wirklich?"

Ich habe ihm geglaubt, wie immer. Ich habe mir sofort die Tränen abgetrocknet und mich überzeugt, daß ich ihm wieder helfen muß. Ich habe nicht mehr geweint ... Morgens kam ich zu ihm ins Krankenhaus, und da begann unser Leben, erst hatten wir zu Hause gelebt, nun lebten wir im Krankenhaus. Ein halbes Jahr lang lebten wir auf der Krebsstation ...

Ich kann mich nicht erinnern ... Wir haben soviel geredet wie noch nie, tagelang, ich erinnere mich nur an Bruchstücke ... Häppchen ...

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024