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Cover Lettre International, Charline von Heyl
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LI 125, Sommer 2019

Die ersten letzten Tage

Jürg Federspiel – ein Schweizer, dem die Schweiz nicht genügte

Es ist kalt in den Vogesen. April 2019. Von Westen geht ein steifer Wind, er weht aus der Franche-Comté über die bewaldeten Hügel, treibt die Kälte über die helle Rheinebene hin, dem Schwarzwald zu. Im Dunst verschwimmt der Feldberg; im Rücken der Grand Ballon d’Alsace, 1 424 Meter.

 


   CHAMP DE BATAILLE

Eine Trikolore knattert hoch über den stramm ausgerichteten Kreuzen, es müssen Aberhunderte sein. Sie stehen so grad, wie es die Offiziere zu Lebzeiten mit ihren Soldaten nicht fertig brachten. Die Fahne weist über die Gräber auf den nächsten Hügel, den, auf dem sie gestorben sind. Eine unbedeutende Erhöhung. Der Wald ist nachgewachsen. Hundert Jahre ist es her. Man darf sich das Gelände von Granaten zerfurcht, von Bomben aufgewühlt vorstellen, mit Stümpfen abgefackelter Bäume, mit Material, Ausrüstungsteilen, von Leichen übersät. Rauch, Stacheldraht, Erdlöcher, Gräben. Und Granattrichter dicht an dicht.
   Manche sind hier schon 1914 einen sinnlosen Heldentod gestorben, mort pour la gloire, der Hügel war nie von wirklicher strategischer Bedeutung. Andere starben erst am Ende. Pech, denn die große Schlacht war schon 1916 so gut wie zu Ende gewesen, man hielt die Stellungen, Sterben war jetzt noch sinnloser als zuvor. Hier, schau: „RANDRANANCHANCA, Mort pour la France, 15-10-1918“, ein Inder offenbar unter lauter Franzosen.
   Franzosen? Man hätte auch von Algeriern zu sprechen, von Marokkanern, anderen, zum Sterben hierher verfrachtet aus noch weiter entfernten Kolonien, Indochina. An eines der Kreuze gelehnt stehen Blumen, welk und vom Wind zerzaust, violette Nelken. Sechs größere Grabstätten vereinen die Reste jener, die keinen Namen mehr hatten, ici reposent – sechs Grabstellen mit exakt je 64 unbekannten Soldaten, dem, was von ihnen übriggeblieben war.
   Mit einem blöden Scharmützel hatte es am 30. Dezember 1914 begonnen. Die Gegner verbissen sich ineinander. 1915 kamen mehr Truppen, Maschinengewehre, Mörser. Minenwerfer. Dagegen Bunker und Schützengräben; dreißig Meter voneinander entfernt. Am Ende sind 30 000 deutsche und französische Soldaten tot.
   Hunde haben die Gedenkstätte nicht zu betreten. Blindenhunde sind zugelassen, auch wenn nach mittlerweile hundert Jahren hier oben keine Veteranen zu erwarten sind. Die Gedenkstätte verfügt über eine Cafeteria. Schulklassen. Der Hartmannswillerkopf bietet Anschauungsunterricht für das, was nie mehr geschehen darf. Es geschieht auch nicht mehr, nicht mehr so; es geschieht anders.
   Unvorstellbar, daß Jürg Federspiel, Jahrgang 1931, mit Basel lebenslang verbunden und in Basel geendet, über die knapp fünfzig Kilometer Luftlinie von Basel nicht hierher gefunden hätte.
   „Im Basel der vom Krieg verschonten neutralen Schweiz trottete sonntags die Familie im guten Anzug an die Grenze oder spazierte zu einer Anhöhe, von der aus man zuweilen mit dem Feldstecher die Kampfhandlungen im Elsaß beobachten konnte“, schreibt Federspiel in seiner Reportage über den Hartmannswillerkopf, Die Aussicht der Toten. Das bezieht sich auf den Ersten wie den Zweiten Weltkrieg, die Basler Stadtgrenze im Nordwesten ist auch Staatsgrenze. Und Hügel gibt es bei Basel genug, von denen man bequem ins Ausland schauen kann.
   Oder sogar einmal dorthinaus gehen. „Es ist Weihnachtstag“, schreibt Federspiel, „ich spaziere mit Freunden hier, 25. Dezember 1974. Auf der Paßhöhe liegt knöchelhoch Schnee, die Luft ist kühl und gläsern, die Straße vereist, und man sieht von hier fast endlos über die Rheinebene und gegen Frankreich. Es ist nicht Zufall, daß ich hier auf einem der elsässischen Friedhöfe spaziere …“
   Was dann, außer Nachbarschaft? Federspiel war zwei Jahre zuvor in Vietnam gewesen, so nah an den Kampfhandlungen, wie es ihm erlaubt war, und er hatte, ein Verehrer von John F. Kennedy und Hasser von dessen Nachfolger Lyndon B. Johnson, eine seiner längsten Reportagen darüber geschrieben: Spaziergänge in Vietnam.
   In seiner Reportage aus dem Elsaß erinnert er auch an den Koreakrieg, „der Hartmannswillerkopf mag Parallelen vorher und nachher gehabt haben, Kriegsdenken ist Prestigedenken, der koreanische Pork Chop Hill, um den 1950 sinnlos gemetzelt wurde … erinnerte wieder an damals.“
   Jürg Federspiel war eine Art Katastrophen-Akkumulator. Er erlebte seine Kindheit als Folge von Unglück. Das Zwanzigste Jahrhundert, das er lebte, war katastrophal und er war verfolgt von Ahnungen noch größeren Unheils. Er erlitt seinen eigenen Niedergang zu Lebzeiten, den literarischen wie den physischen. Vor der Liebe war er mißtrauisch, sarkastisch, bis er sie endlich, in den späten Gedichten, zuließ und beim Namen nannte, in seinen letzten Sätzen, die kaum einer mehr las.
   Er schrieb über den Brand des Wiener Ringtheaters genauso wie über eine Insel mit menschlichem Müll vor New York, Potter’s Field. Er sah das New York der späten sechziger Jahre als ein Museum des Hasses und schrieb zehn Jahre später einen Roman über eine junge Schweizerin, die auf einem Totenschiff nach Amerika kommt, sich als Köchin verdingt und die besseren Kreise New Yorks mit Typhus verseucht: Typhoid Mary.
   Hier in den Vogesen sieht Federspiel die tödliche Stille nach dem Gemetzel. „Das Vergessen hatte wieder begonnen. Nach und nach starben auch die Gefallenen, die Toten … Einer der ersten letzten Tage der Menschheit war vorbei.“
   „Stille“ ist das Wort, das er da hinstellt.
   „Ich dachte an die Hügel und Berge, die ich in Südvietnam gesehen hatte, kahl und sauber zerstört und verbrannt. Hier wuchsen wieder Bäume, zögernd und zart; Rosenstöcke, höre ich, sind besonders empfänglich und dankbar für Dünger aus Menschenasche.“
   Federspiels Sarkasmus ist die Maske seiner Empfindsamkeit, er kaschiert seine Scheu vor dem Zögernden, Zarten. Das hat er erst in eher versteckten Wendungen in seinen späten Gedichten zugelassen. „Mit Trauer kann man die Zeit beliebig verändern“, schrieb er, „nur das Bewußtsein des Glücks läßt sich nicht verändern; es hat seine eigene, unbarmherzige Kürze.“
   Er war Detektor des Scheiterns, Spezialist für alle Arten von Entgleisung, Zeuge der Endlichkeit. Er hat das Ende und das Ende aller Enden schon in den siebziger Jahren antizipiert.
   „Das Leben ist eine zeitbedingte Mode“, schreibt er, wenn er von den Toten spricht. Die Toten als Zukunft der Lebenden umgaben ihn im täglichen Leben, so wie seine eigenen Katastrophen ihn stets eingeholt haben, als vorenthaltene Liebe und Liebesentzug, in Form von Autounfällen, Hausbränden und Krankheiten. In einem von Anbeginn schwierigen Leben: jung bewundert und als vielversprechendster Schweizer Autor gerühmt, und dann, wie Melville, konfrontiert mit dem Schlimmsten, was einem solchen Autor widerfahren kann: zu Lebzeiten schwindend, von Kritik und Lesern verlassen, krank und einsam.
   Es wäre ein Wunder, wenn Jürg Federspiel nicht zu diesem alten Schlachtfeld in den Vogesen gefunden hätte. In einer Zeit, da der Erste Weltkrieg noch kein Datum für eine Jahrhundertfeier war und sich die Katastrophen des 21. Jahrhunderts erst am Horizont abzeichneten. In den Zeiten nach Hiroshima und Nagasaki und angesichts der sich verfestigenden Ahnung, daß nur noch Schlimmeres kommt.

   (…)

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