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Cover Lettre International 49, Kcho
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LI 49, Sommer 2000

Friedrichsfelder Songline

(...)

Großmutter, ich bin nicht untätig in Berlin. Ich sage dir meine Stadtwanderung vor. Hör zu: In diesem östlichen Stadtteil lebt eine andere Ethnie als in jenem, den ich gewohnt war. Die Leute sprechen eine andere Sprache hier als drüben, im Westen. Hier hörst du das, was man Berlinerisch nennt. Die Frauen haben ein Netzwerk von blauen Flecken unter der dünnen Haut und kupferfarben getönte Haare. Viele haben böse Beine. Die älteren Männer tragen einen Bauch. Die jüngeren lange Haare im Nacken, wie es auch anderswo einmal Mode gewesen ist.

Die Bewohner dieses Stadtteils haben sich entschlossen, die schlechten Kleider, zu denen sie einst verurteilt waren, anzubehalten. Sie wollen sich, glaube ich, von den anderen Deutschen unterscheiden. Da jene nicht zu übertreffen sind, haben sie beschlossen, sie zu unterlaufen. Viele rauchen. Auf der Straße sehen sie nicht aus sich heraus. Es gibt so viele Hunde wie nirgends auf der Welt, entweder ganz kleine, moppartige, oder große, Schäfer, Rottweiler, Pitbulls, die gefährlich wirken. Gewisse kahlgeschorene Typen begründen mit ihrem Hund eine Leinenlänge um sich herum eine national gesäuberte Zone.

Die Trottoirs sind zugeschissen. Im Sommer trocknen die Knoddel aus, und wenn ein Wind sich erhebt, weht es die Scheiße als Aerosol in deine Suppe.

Großmutter, in diesem Stadtteil lebt ein anderes Volk, aber auf meiner Wanderung habe ich überdies einen besonderen Stamm entdeckt. Man nennt ihn hier die Laubenpieper.

Ich kam durch die SOHIENSTRASSE, die später die BIETZKESTRASSE wird, stieß auf ein Sportfeld, auf dem zwei Schülermannschaften in farbigen Mannschaftsleibchen sehr ernsthaft eine Trainingspartie spielten. Hätte man die Augen geschlossen, hätte man aus ihren Zurufen und den Pfiffen des Lehrers, der den Schiedsrichter gab, auf ein alles entscheidendes Spiel schließen müssen. Die Kneipe am Rand des Spielfelds hieß Borussia Friedrichsfelde. So wußte ich hier immer, wo ich war.

Über die ZACHERTSTRASSE kam ich an die RUMMELSBURGER, erinnerst du dich? Es zog mich in einen Spazierweg hinein. Nach ein paar Schritten stand ich vor einem Reservat. Alles war eingezäunt, ein großes Schild über dem Tor sagte: MÄRKISCHE AUE e.V., GEGRÜNDET 1933.

Großmutter, das ist doch deine Kleingärtnersiedlung! Hast du nicht erzählt, wie ihr am Sonntag in einen solchen Garten gefahren seid? Der Papa, hast du gesagt, habe zugeschaut, und ihr habt arbeiten müssen. Ich habe deine Berliner Nichte, die Herta, danach gefragt. Sie wird in diesem Jahr 88. Leicht zu rechnen: du wärst 112. Sie schrieb mir: "Was Du über unsere Mütter wissen möchtest, überschreitet mein Erinnerungsvermögen. Ich weiß nur vom Erzählen, daß mein Vater mit meiner Mutter, als sie noch verlobt waren, dort Obst pflücken mußten. Die Großmutter rechnete die genaue Fahrzeit hin, Pflückzeit im Garten, die Zeit für den Rückweg aus. Trotzdem hat es gereicht, sich noch kurz zu lieben!" Es ist eine Familie, du weißt es am besten, in der vielleicht immer nur kurz geliebt wurde.

"Altersgemäß geht es mir zufriedenstellend", schreibt Herta weiter, "wenn ich andere mit 88 Lenzen sehe, darf ich mich nicht beklagen, denn wenn ich stöhne, werde ich in ein Altersheim abgeschoben. Verreisen will ich aber nicht mehr. Ich habe die Faxen dicke vom schlechten Wetter im Schwarzwald oder an der Nordsee. Für das viele Geld kaufe ich mir lieber Klamotten, mit denen ich meinen keuschen Astralleib bekleide. Je älter, desto verrückter!"

Die MÄRKISCHE AUE, Großmutter, erwies sich als ein langgezogenes Stück Land, von Gehwegen längs und quer durchschnitten, auf dem ein Paradies neben dem andern lag. Alle hatten sie in etwa gleich viel Boden, vielleicht ein bis zwei Are, alle hatten sie ein Häuschen darauf stehen, nicht diese Schrebergartenhäuschen, wie wir sie kennen, richtige kleine Häuser. Ich sah welche, die unter dem Dach noch ein Zimmerchen hatten. Vor, neben, hinter den Häuschen standen immer Tische und Stühle, viele unter einem besonderen Zeltdach; nach vorn zum Gehweg hin hatte jeder einen Zaun, und jeder einen anderen, ein Törchen, eine Parzellennummer und seinen Namen.

Ich guckte über die Zäune und stellte fest, das dies ein guter Boden für Gartenzwerge war. Oft traten diese in Scharen auf, komplette Gartenzwergsippen, alle freundlich, wie Menschen es nie gewesen sind. Einzelne guckten frech oder schoben emsig eine Schubkarre; aber es gab auch andere, beneidenswertere. Einer lag in einer Hängematte aus gebranntem Ton, ein anderer im grünen Gras und las eine Keramikzeitung, auf der FREIZEIT-POSTILLE stand.

Die meisten Parzellen schimmerten mit einer unendlichen Gepflegtheit. Immer hatten sie ein kleineres oder größeres Rasenkarree, das akkurat geschnitten war, sorgsam gejätete Blumen- und Gemüsebeete, zwischen denen der dunkle Sand vom Rechen geriffelt war, gestutzte Hecken und kugelförmig geschnittene Büsche. Dazwischen hatten alle ein paar Obstbäume stehen. Die Kirschbäume, die Früchte zu tragen begannen, waren gegen die Vögel mit Gaze verhängt.

In vielen dieser Gärten bückte sich ein Laubenpieper oder eine Laubenpieperin gerade über ihre Scholle, rupften, häckelten, dünnten sie aus und gossen; wenn man stehen blieb, schauten sie mißtrauisch, obwohl ich doch annehmen mußte, daß sie das alles nur so schön haben wollten für die Spaziergänger, die hier vorbeikamen, die Passanten. Manchmal redeten Nachbarn miteinander, über ihre Zäune hinweg, der eine auf einen Schaufelstiel gestützt, die andere mit der Gartenbrause in der Hand. Manchmal kam ich auch an Grundstücken vorbei, die verlassen aussahen. Gras wucherte, Früchte hingen ungepflückt.

Als ich vor einer der wenigen ungepflegten Parzellen stehen blieb, einer bunten Wildnis aus Blumen, Bäumen und aufgestengeltem Gemüse, sagte eine Spaziergängerin zur anderen, lachend: "Die sind wohl in den Westen abjehauen."

Ich sprach dann mit dem Honigmann. Ein Alter lag im Liegestuhl neben seiner Hütte, halb verdeckt durch Büsche und hoch gewachsenes Gemüse; auf einem Schild bot er LINDENHONIG an. Ich kaufte ein Glas und wechselte mit ihm ein paar Worte. Er trug eine dunkle Schiffermütze, seine singende Sprache schien vom Meer her zu kommen. Aber er war schon seit Jahrzehnten da, jeden Tag. Daß viele seiner Nachbarn ihre Grundstücke in eine Freizeitanlage verwandelt hatten, schien ihm nicht zu gefallen. "Wir sind Kleingärtner", sagte er, "nicht Wochenendler. Das ist nicht gut für uns." Ich schaute ihn an. "Gemüse muß sein", sagte er. Und das sei auch einmal so gewesen. Wann denn, fragte ich ihn. "Zu unserer Zeit", sagte er.

Großmutter: Hier steht ein harter Kern die Wechselfälle der Geschichte durch. Hier ist Wende ein windiges Wort. Hier halten Leute an etwas fest, das man ihren Nachbarn weggenommen hat, um es gegen Flitter einzutauschen. Das sind Widerständler. Sie bleiben und behaupten gegen die Meinung der Mehrheit das Altere als das Bessere.

Es ist ja leicht, über die Kleingärtner und ihre Kleinbürgergärtchen zu lachen. Oder sie zu verurteilen. Grimsel dachte: Zu viel von einer Sehnsucht, die Heimat heißt, findet auf zu wenig Quadratmetern statt. Man hat gesehen, wie schnell daraus ein Volk ohne Raum wird. Und man erkennt leicht: Während jeder seinen Garten pflegt, Zaun an Zaun, als wäre es das Modell eines besseren Lebens, und jeder hat das bessere Modell als der andere, hockt zwar auch jeder an der frischen Luft, doch hinter seinen Gittern. Der Laubenpieper, Großmutter, das sieht man, ist ein Mensch, der sich selbst in einen Käfig setzt. Er hat sich in seine Freiheit eingesperrt. Das schon.

Ick laß mir meinen Körper schwarz bepinseln/ und fahre nach den Fidschi-, Fidschiinseln./ Dort ist alles noch paradiesisch neu/ – wie ick mir freu! wie ick mir freu! Es kamen alte deutsche Schlager über den Zaun. Schlieren von Muckefuck und Musik. Am Nachmittag dünnte der Kaffeedunst aus, Bierbüchsen sah der Fremde auf den Tischen, Grillrauch begann aufzusteigen. Gedämpftes Lachen hinter einer Ligusterhecke. Einer stand, die Hände auf dem Rücken, und betrachtete seine weißschwarzen Tauben, die im Käfig gurrten und flatterten. Hochhäuser grüßten von weit her in die Gärten hinein. Am Himmel Flugzeuge. Unter einem Zelt standen Tisch und Stühle auf einem grünen Plastikrasen. Vögel überall. Milde Vorurteile stimmten mich versöhnlich. Eine alte Frau sagte zu einer jüngeren: "Ich bemerke, daß Menschen, die Brillen tragen, aggressiver sind, meckriger, sich über alles beklagen ..." An einer Ecke, wo es hinter einem Gitter etwas wüster aussah, hing eine Tafel. SPONTANVEGETATION ALS HEIMAT FÜR SCHMETTERLINGE UND INSEKTEN stand da. Ein dicker Alter führte zwei winzige Hundchen an einer Leine, die sich an ihrem Ende gabelte. Das Licht schien hellgrün durchs Baumlaub. Ein leichter Wind wehte Blätter und Cellophan über den sandigen Weg. Ich sah eine Bilderbuch-Oma, eine weißhaarige Frau, die aus ihrem Alter kein Geheimnis machte. Sie trug ein sauberes taubengraues Deux-Pièces und ging an einem Stock. Alter nicht als Verhängnis

Großmutter, ich war bei den Laubenpiepern meines Lebens froh. Ich war stolz, auf der Reise zu sein, und glücklich als Fremder. Obwohl ... du weißt schon, daß ich in dieser Stadt eine Vorliebe für die Eisenbahnbrachen habe, für GLEISDREIECK, ANHALTER GÜTERBAHNHOF für den OSTBAHNHOF, und für das riesige Gelände, das sich von der YORCKSTRASSE kilometerweit bis nach TEMPELHOF zieht. Oder für das dämmrige Gelände um den S-Bahnhof PANKOW-HEINERSDORF: mit seinen schütteren Betriebsgebäuden, einem riesenschwarzen kreisrunden Lokschuppen, sinnlos gewordenen Einrichtungen, rätselhaften Hinweisen, SIFA PRÜFSTRECKE ENDE, PERSONEN VON DER LADUNG ABSTEIGEN. Etwas, das die Deutschen eine Trinkhalle nennen, direkt über den Gleisen, angeschrieben als TRADITIONELLES BAHNHOFSLOKAL. Industriebrache, Schienen, Hektare von Wildwuchs, Krähen, Fahrdrähte, Eisen. Und auch hier unsere Bekannten aus der Märkischen Aue, KLEINGARTENANLAGE "FEUCHTER WINKEL"

Ich sehe dich, schmal und streng. Du winkst ab? Nur keine unsinnigen Ausflüge, Tagediebereien. "Nicht herumplempern!" höre ich dich. Bist du eigentlich einmal glücklich gewesen, Großmutter, oder auch nur übermütig, bevor dein abstürzender Lebenslauf in unserer Grenzstadt so abrupt zum Stehen kam?

Glück, das Wort wäre dir zu groß gewesen. Du hättest dich, hättest du überhaupt etwas gesagt, mit einer leidlichen Zufriedenheit begnügt. Mit einem Es-gibt-nichts-zu-klagen. Mit einem Man-muß-dankbar-sein. Jetzt aber, wo du dich nicht wehren kannst, wollen wir das Wort einmal riskieren, Großmutter: Glück. Für etwas, das nur leidlich sein darf, leben wir nicht, da muß schon ein bißchen mehr für uns herausschauen. Und wenn wir auch wissen, daß Glück ein schnelles Ding ist und bloß für jenen einen Augenblick gemacht, in dem es auch schon verzischt für eine Zufriedenheit allein lohnt sich das Sterben nicht.

Wir wollen es doch einmal riskieren, Großmuter, das Wort Glück, auch wenn es dir unanständig erscheint, auch wenn du vor deinem Gott nur bescheiden sein wolltest und uns zur Bescheidenheit zwangst. Du hättest es wissen können, daß Kinder nicht bescheiden sein können; leben wollen sie. Sie wollen alles, alles auf einmal, alles sofort, und recht haben sie. Du aber wolltest, daß du niemandem auffielst. Großmutter, du hast dich mit zu wenig begnügt. Glück, Großmutter, auch wenn wir es nicht haben, nur wollen können, wollen sollen wir es doch. Sag das deinem strafenden Gott. Sag ihm, vertrösten, sei’s in die Bescheidenheit oder ins Jenseits, ließen wir uns nicht.

Aber vielleicht hast du mich ja, durch deine hagere Art, deine so ausdrücklich demütige Tapferkeit des Verzichts, auf die Möglichkeit von Glück überhaupt erst gebracht.

Ich bin dann in den Biergarten gegangen, der zur Kleingärtnersiedlung gehört. BERLINER KURIER. LANGNESE. SCHULTHEISS. JEVER. JÄGERMEISTER. Ich nahm ein dunkles Lager, ein großes. Und die Hackepeterplatte.

Es gab weiße Plastikstühle und -tische unter den Bäumen, eine Art Tanzfläche, die lange nicht gewischt worden war. Am Rand des Karrees stand ein kleiner Musikpavillon, eine Hütte eher, innen mit gelber Blumentapete beklebt. Da stand auf einem großen Spruchband 66 JAHRE MÄRKISCHE AUE. Es gab kaum Gäste. Die Laubenpieper, dachte ich, sitzen lieber bei sich. Sie sitzen vor ihrem Häuschen und gucken triumphierend über den Zaun. Die Stadt schien weit weg zu sein. Die schwarzhaarige Serviertochter hatte ihre Bluse über dem Minirock so über dem Bauchnabel verknotet, daß hinten ein Stück Haut sichtbar wurde, Fleisch, das in zwei Wülsten über den Minirock quoll. Ich war mit allem einverstanden. Hier wäre die Erlösung denkbar, dachte ich: daß es mir endlich einmal langweilig würde.

Da kamen zwei Behinderte in ihren elektrischen Rollstühlen in Sicht. Der Mann, dem zwei Beinstümpfe über das Sitzkissen ragten, hatte sich schon durch das Gattertor beim Eingang zum Biergarten manövriert. Genau da war die Frau hängengeblieben. Die eng beieinander stehenden Hinterräder, mit denen das Gefährt zu lenken sein sollte, bewegten sich sinnlos hin und her, der Wagen hatte sich mit einer vorderen Ecke in den Pfosten des Tors gebohrt. Endlich fand die Frau mit dem kleinen Knüppel, mit dem der Wagen zu lenken war, die Position rückwärts. Der Wagen machte einen Satz zurück. Die Frau versuchte es noch einmal. Und fuhr in den Pfosten auf der andern Gatterseite.

Der Mann in seinem Wagen, der im Biergarten wartete, drehte sich nach der Frau um und ermunterte sie, es noch einmal zu versuchen; "langsam", sagte er, "du mußt langsam machen."

"Det is een Scheißding, Mensch", sagte die Frau enerviert. Dann setzte sie zurück, schob den Hebel nach vorn und landete im Zaun.

Irgendwie kam die Frau durch das Tor. Sie waren nun beide in unserer Arena vor dem Musikpavillon des Biergartens. Sie blieb genau vor uns stehen. Dann stieß sie den Hebel an. Ihr Wagen fuhr Schlangenlinien, sie korrigierte mit dem Hebel, die Schlangenlinien wurden enger. Der Wagen machte, was er wollte. Sie kämpfte gegen seine Übermacht. Man sah, daß sie den Wagen am liebsten stehen gelassen hätte. Aber sie war ihm ja ausgeliefert. Der Rollstuhl machte sich lustig über ihre Behinderung. Der Rollstuhl stellte es so an, daß sie uns zeigte, daß sie ein Krüppel war, zweifach unbeholfen.

"Nur jradeaus fahren, nich lenken", rief der Mann zurück, er war schon weiter, das sei doch kinderleicht. Er ist schon wieder ein paar Meter vorgefahren, er zeigt ihr mit einer pfeilgeraden Bahn, wie man so was macht. So. Er hält. "Nich lenken", ruft er zurück.

Sie wisse schon, was sie mache, mault sie. Sie reißt am Hebel. Der Wagen dreht sich um seine Achse. Er, weiter vorn, schaut kopfschüttelnd zurück. Sie ruft, er solle sie in Ruhe lassen. Jetzt ist er beleidigt. Er versucht es aber noch einmal. "Du mußt nach vorne sehen. Und nich wackeln mit der Lenkung!"

Während sie sich weiter abmüht, stur, ihn ignoriert, den Wagen verflucht, schimpfend, brabbelnd, sagt er schließlich wütend: "Na, wenn du keene Lehren annimmst ..." Und haut ab. Schiebt seinen Hebel vor und fährt, ohne sich umzusehen, ein ganzes Stück weiter. So.

Sie kommt nicht vom Fleck. Der Wagen rudert an Ort und Stelle hin und her. Er, ohne sich umzudrehen, das Schild seiner Mütze zeigt nach vorn, sieht in seinen Rückspiegel, und beobachtet, was sie jetzt macht. Er sagt nichts. Sitzt einfach da und schaut in seinen Rückspiegel. Sitzt, schaut, sagt kein Wort.

Es ist kalt. Die Kinder tragen dicke Mäntelchen und Strickmützen. Die Mützen gehen über die Ohren und bis auf die Augen und haben ein Muster aus roten Herzen am Rand. Erinnerst du dich, Großmutter? Du standest mit uns bei den Wölfen und schwiegst vor dich hin, während wir an deiner Hand zerrten. Weiter, zu den Seelöwen, um vier ist Fütterung!

"Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren?" Du hattest sehr kleine Ohren. Aber du hast gehört wie ein Luchs. Verhaßt war dir, wenn wir die Suppe schlürften.

"Ei, Großmutter, was hast du für große Augen?" Deine Augen erschienen groß nur hinter der Brille. Aber hinter der Brille hervor hast du uns angeschaut wie von weit.

"Ei, Großmutter, was hast du für große Hände?" Du hattest zarte, Großmutter, doch sehnige, trockene kleine Hände. Du hast damit angepackt. Es mußte alles angepackt werden. Alles hinter sich gebracht. Weg mit dem Dreck!

"Aber, Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul?" "Daß ich dich besser fressen kann", hast du gesagt beim Vorlesen, und wir erschraken. Aber du hast uns, auch wenn wir das heimlich hofften, nicht gefressen. Überhaupt hattest du einen kleinen Mund. Aber als du älter wurdest, wurde dein Gebiß immer größer. Dein Gesicht blieb hinter den Zähnen zurück.

Als der Wolf tot war, waren alle vergnügt. Die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein, während der Jäger dem Wolf den Pelz abzog. Das Rotkäppchen aber dachte: "Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dir’s die Mutter verboten hat." Mich, Großmutter, hat die Mutter in den Wald geschickt, mitten hinein, und nichts verboten, und so wollte ich immer vom Wege ab. Und so kam es auch.

Die Wölfe lagen damals noch in einem entlegenen Teil des Zoos in ihrem steinernen Grabengefängnis. Die Wölfe sind immer in einem entlegenen Teil des Tiergartens untergebracht. Die Zoodirektion macht sich nicht viel aus Wölfen, die Besucher übrigens auch nicht, und die Wölfe zeigen durch ein unbeteiligtes Hin- und Hertrotten, daß sie lieber woanders wären. Die Wölfe, grau und struppig, wirkten mürrisch. Sie ließen die Schwänze hängen. Wölfe wirken in allen Zoos immer mürrisch. Sie zeigen, daß sie nicht dazugehören zu den anderen Tieren. Sie sind nicht exotisch genug, eher gewöhnlich, und wenn sie frei auf der Straße herumlaufen würden, würde das niemandem auffallen. Sie sind schlecht aufgelegt, weil das Gehege sie beleidigt. Wenn man sie fragen könnte, würden sie sagen, sie gehörten so wenig in einen Zoo wie Feldhasen, Rehe, Füchse, Kühe, Pferde, Hühner oder Spatzen.

Großmutter-die-du-so-oft-mit-uns-in-den-Zoo-hast-müssen: Soll ich dir von einem Tierpark erzählen? Ich habe hier, am Ende meiner Friedrichsfelder Strecke, einen Zoo gefunden. Es ist ein kalter, großer Tierpark weit oben im Nordosten.

Du gehst von der MÄRKISCHEN AUE über eine kurze Stichstraße auf die große Achse, AM TIERPARK heißt sie ganz einfach.

Versuche nun nicht, diese stark befahrene Straße zu überqueren, in deren Mitte die Gleise der Tramlinie 28 dir den Weg versperren. Du findest in südlicher Richtung die U-Bahn-Haltestelle TIERPARK, findest dort eine Unterführung oder, wie man dort sagt, einen Fußgängerunterweg. Auf der andern Seite angekommen, stehst du vor dem Eingang zum Tierpark. Ja, da staunst du: den gab es noch nicht, als du hier gewohnt hast.

Du könntest dich aber an etwas anderes erinnern. Es stand ein Schloß hier zu deiner Zeit, ein großes, schönes Schloß. Ein Schloß aus dem 17. Jahrhundert, mehrmals umgebaut, hinter einem hohen Zaun. Als du vor das Schloßtor kamst, wohnte darin noch die Familie derer von Treskow — sagt dir der Name noch etwas? Das Schloß liegt in einem riesigen Park. Der große Lenné, Berlins hervorragender Gartengestalter, hat ihn als englischen Park angelegt, mit Seen, Baumgruppen, lockerem Forst, mit Wegen, geschwungenen verschwiegenen Pfaden und großen geraden Alleen. Eine Kunstlandschaft, die so aussehen sollte wie Natur, nur harmonischer, im sanften Gartengeist jenes Jahrhundertbeginns. Großmutter, es gab noch keine Autos, nur Droschken. Wenn du heute in den Park kämst, könntest du dich darüber freuen, wie groß und schön die Bäume inzwischen geworden sind, die Buchen und Eichen, die Platanen, der Ahorn, die Roß- und Edelkastanien.

Da steht das Wort "Naturdenkmal" an einer uralten, riesigen Eiche. Der dicke Stamm hat sich in zwei Stämme gespalten, die sich aneinander halten. Zwei ineinandergreifende Kronen ragen in den märkischen Himmel ... wir denken an einen Maler, ja, aber auch daran, liebe Großmutter, daß dieser Baum längst dastand, bevor du ihn gesehen hast, Friederike-das-Kind, wenn ihr denn überhaupt hineingedurft habt in den Park. Wir denken daran, daß er nicht viel anders stand als er heute steht, hundertzwanzig Jahre später, und hoffentlich noch stehen wird, wenn ich mich nicht mehr an dich und nicht an ihn erinnern kann.

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024