LI 149, Sommer 2025
Borneos Regenwald
Erkundungen in einem unendlich komplexen Tier- und PflanzenreichElementardaten
Textauszug
(…)
Der eindrücklichste Gesang heute früh stammt von einem Vogel, der harmonisch sauber vom Ausgangston immer eine Quinte nach unten und dann einen Halbton herauf geht. Die sich anbahnende Kadenz erfährt durch den Tritonus einen beinahe modernen Schlußakzent. Musica mundana – die große Weltmusik hatte in dieser uralten Welt des Regenwaldes unendlich viel Zeit, sich zu entwickeln, und enthält auch künstlerische, fast schon experimentelle Elemente. Wie begeistert hätte Olivier Messiaen, nicht nur als Musiker, sondern auch als Ornithologe, diese vielen Anregungen aufgenommen und damit seinen Catalogue d’Oiseaux für Klavier noch erweitert. Diese einfache Melodie wird meine Begleitmusik, die ich mitsumme bei der Durchwanderung dieses grünen Organismus.
Mal wird der Wald dichter, und eingehüllt von Gebüsch läßt sich das Tageslicht kaum noch wahrnehmen. Dann kommen freie Flächen, die von majestätisch aufragenden Bäumen kathedralenartig überwölbt werden. Hier kommt auch Licht durch, gefiltert von der feuchten und inzwischen heißer gewordenen Luft, in der diffuse Lichtschleier aufscheinen, die sich manchmal im Wind bewegen. Wie die Pfeifen von Kirchenorgeln schallen die Vogelmelodien aus den unterschiedlichsten Richtungen und erschließen die räumlichen Dimensionen dieses Gewölbes, welches die Baumgiganten mit ihren Kronen bilden. Von solchen beschaulichen Momenten lenkt manchmal die Einbeziehung des eigenen Körpers in das Geschehen dieses durch und durch lebendigen Waldes ab.
(…)
Was sich unserem Blick als bunte Naturidylle darbietet, ist nicht nur Miteinander, sondern auch ein langanhaltender Kampf um Leben und Tod. Die Schlingzweige, die sich um andere Pflanzen winden oder frei hängend nach unten vorstoßen, entwickeln enorme Kräfte, die irgendwann den Wirtsbaum erdrosseln – eine natürliche Forstwirtschaft, die für die ständige Erneuerung des Regenwaldes sorgt. Der tote Wirt dient als Stütze und wird allmählich zum Teil des Feigenbaumes, dessen Früchte in die tieferen Regionen des Waldes wachsen, wo sie die Tiere und Insekten ernähren und so deren Vermehrung ermöglichen. Der Erneuerungsprozeß schreitet voran. Wespen transportieren beim Eierlegen den Samen und verhelfen den Feigen bei der Verbreitung. Dabei ist alles aufeinander abgestimmt: die passende Fruchtschale für die entsprechende Wespe, der richtige Zeitpunkt für Ablage der Eier etc. Ein weiterer Baum wird bei dem Versuch befruchtet, die Eier in die Frucht zu legen. Hohle Stämme laden Fledermäuse, Flughörnchen und Nashornvögel zum Nisten ein. Der Kot der Tiere düngt den Boden und versorgt die Bäume mit essentiellen Nährstoffen. Der Dipterocarp bleibt jedoch der König in diesem Tier- und Pflanzenreich. Auch für seine Verbreitung ist gesorgt. Sein Stamm bietet sozialen Bienenstämmen Gelegenheiten zum Nestbau und Schutz, während diese seinen Samen verbreiten. Dafür produzieren die Bäume in wechselnden Zyklen überschaubare Blüten. Die Stämme stehen selbst dann noch, wenn der Baum schon tot ist. Sie bieten Nahrung für neue Lebensformen und Baumnachfolger.
Überall ständige Metamorphosen, für unsere Augen nicht sichtbar. Ein Kreislauf. Ein uralter Organismus, den wir als Ganzes nicht wahrnehmen und nur ansatzweise erforschen können. Baumgemeinschaften entstehen, regulieren sich und ihr Wachstum sowie ihre Erbfolgen. Laub, Altholz wird in der Bakterienwerkstatt in Humus verwandelt. Mineralien werden vom Boden aufgenommen, sickern in den darunterliegenden Felsgrund ein. Nitrate werden bei der Dekompostierung freigesetzt, Mineralstoffe wie Eisen, Calcium, Magnesium, Phosphor werden recycelt. Die Bäume stehen im Zentrum eines in seiner Vielfalt nur annähernd erforschten ökologischen Zirkels: Blumen, Früchte, Samen, Pilze, Wurzeln, Pflanzensaft, Holz, Getreidekörner, Nektar – alles trägt dazu bei.
Im Vordergrund steht eben doch nicht der andauernde Kampf ums Überleben. Es geht nicht um Verdrängung, sondern um Kooperation. Einschränkung der Lebensräume anderer bedeutet nicht deren Vernichtung, ansonsten würden auch die eigenen Lebensgrundlagen vernichtet. Oder: Wenn man die anderen schon nicht verdrängen kann, gesellt man sich zu ihnen und arbeitet mit ihnen zusammen. Es haben sich zu diesem Zweck unüberschaubar komplexe Interaktionen zwischen Pflanzen, Insekten, Vögeln und Wirbeltieren herausgebildet, die dieses Gemeinwesen Regenwald ausmachen. Nur das Wetter, insbesondere die Trockenperioden, sowie die Veränderungen in der Geomorphologie und die Kontinentaldrift sind die langfristigen externen Einflußfaktoren, die eine ständige Anpassung erfordern.
(…)
Ich stelle mir vor, wie ein Künstler oder Wissenschaftler oder eine Arbeitsgemeinschaft von beiden versuchen würde, ihn zu rekonstruieren, als kybernetische Welt, eine Simulation der komplexen Interaktionsprozesse innerhalb der Artenvielfalt. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis Artificial Intelligence beziehungsweise Machine Learning aus dem Datenfundus der Regenwaldforschung mit Hilfe von Algorithmen die kollektive Erfindungsgabe des Regenwaldes zu reproduzieren versucht. Was trüge dann der Künstler zur Schönheit einer solchen Welt bei? Wohl nichts ohne den Betrachter, für den die Wirkungen sichtbar, hörbar, fühlbar, begreifbar sein müßten. Wenn aber die Aisthesis schon a priori selbst Teil einer solchen Welt sein müßte – einer Welt, die wahrgenommen und gespürt werden will? Der aufragende Urwald will majestätisch wahrgenommen werden. Und das unterscheidet ihn letztlich von der schlichten Monstrosität menschlicher Modelle.
(…)