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LI 139, Winter 2022

Jean-Luc Godard

Wie er die Welt verändern wollte, während er über sie lachte

(…)

1970 sagte mir ein Pariser Freund: „Letztendlich ist der an­spruchsvolle europäische Film nur eine Reflexion über das amerikanische Kino.“ Denn das eigentliche, wahre Kino war das amerikanische, davon waren wir überzeugt. Kino war hauptsächlich eine Unterhaltungsindustrie wie Disneyland. Schon bei Georges Méliès diente es der Massenunterhal­tung. Uns Europäern blieb nur die reflektierte Parodie Hol­lywoods. Explizit thematisiert wird das in Le Mépris, dem Film über die Konstruktion eines amerikanischen histo­risch-mythologischen Films.
     Ob der Spruch meines Freundes für das ge­samte europäi­sche Kino gilt, weiß ich nicht, für Godard gilt er ganz sicher. Die Filme, deretwegen wir ihn lieben, die aus den 1960er Jah­ren, sollten eine Art Karikatur des „amerikanischen“ Ki­nos sein. Wenn wir ans „amerikanische“ Kino denken, fal­len uns – außer den Western – Gangster- und Nut­tenfilme ein. Und Godards beste Filme handeln von Gangstern und Nut­ten.
     A bout de souffle greift das Thema von Humphrey Bogarts hunted man auf. Bande à part nimmt die Filme über einen mißglückten Raubüberfall auf die Schippe. Alpha­ville ist das Remake eines dystopischen Science-fic­tion-Films. Der Kurzfilm Un nouveau monde in Ro.Go.Pa.G. nimmt die Invasion of the Body Snatchers des Regisseurs Don Siegel auf die Schippe. Les carabiniers13 imitiert einen Kriegsfilm. Pierrot le fou ist einem amerikanischen Roman noir entnommen, Obsession von Lio­nel White. Made in U.S.A. ist, wie schon der Titel sagt, das Pastiche eines amerikanischen Films.
     Godard gefiel uns, denn sein Kino war ein Kino der Reflexi­on und eines, das etwas reflektierte, in dem Sinn, daß sein Kino eines der Reflexion war und ein Reflex auf ein anderes Kino. Nicht nur, weil wir in seinen Filmen oft Personen se­hen, die einen anderen Film ansehen – berühmt ist die Sequenz mit der Hure Nana, die La Passi­on de Jeanne d’Arc von Carl Theodor Dreyer sieht und weint. Godard selbst sagte, es interessiere ihn nicht, Ge­schichten zu erzählen, sondern er wolle das Kino benutzen, um zu reflektieren.
     Wir meinten, daß das Kino mit Godard – mehr als durch andere Regisseure der Nouvelle Vague, die wir eben­falls mochten, François Truffaut, Agnès Varda, Éric Rohmer, Jean-Pierre Melville – endlich aufhörte, eine mindere Kunst zur Massenunterhaltung zu sein, sondern daß es sich endlich die Freiheit nahm, modernistische „Avantgarde“ zu sein. Der nächstliegende Ver­gleich ist der mit Andy Warhol, auch wenn kein Mensch Godard je als „Pop-Cineasten“ eti­kettiert hätte.
     Aber was verstanden wir – und was verstehen wir heute – unter modernistischer oder avantgardistischer Kunst, und was wür­de ich heute unpopuläre Kunst nennen?
     Unpopuläre Kunst wurde damals von Roland Barthes, Susan Sontag und Umberto Eco rigoros theoretisiert ... Es waren die wilden Jahre des Struk­turalismus, nicht nur in Frankreich, und uns allen war klar, daß die Kunst sich schließlich dem Signifikanten zuwenden müs­se. Kunst, mithin auch der Film, sollte aufhören, eine rein narrati­ve Darstellung der Welt zu sein, sie sollte nicht vergessen werden in dem, was sie darstellte, aber sich dem Signifikanten, der Kunst selbst zuwenden. Kurzum, Kunst sollte zur Kunst der Kunst werden, „ikonoklastisch“, wie sie Präsident Macron in seinem Nachruf auf Godard nennen sollte. Mit „der“ meine ich „über“, Kunst über Kunst, aber „der“ auch in dem Sinne, daß Kunst selbst unmaskiert ist, in welcher der Betrachter, weit davon entfernt, Konsument des Dargestellten zu sein, Augen und Ohren des Künstlers übernimmt. Godard ließ uns nie ver­gessen, daß ein Film Kino ist, nur Kino. Er liebte wenige Filme, aber das Kino liebte er sehr. Godard selbst sagte, daß seine Filme der sechziger Jahre kein anderes Thema hatten als das Kino selbst und seine Art, mit Dingen umzugehen. Er erreichte uns, weil er sich nicht schämte, diese seine Liebe zum Kino zu verfilmen.
     Dieser Fokus auf den Signifikanten steht dem nicht entge­gen, was Godard gesagt hat: „Kino ist vier­undzwanzigmal Wahr­heit in der Sekunde.“  Er führte das Cinéma verité von Edgar Morin und Jean Rouch weiter, nämlich den Versuch, die Wirklichkeit ohne kos­metische Filter zu dokumentieren. Go­dard filmte mit einer leichten Kamera, um auf diese Weise die Wahrheit hinter der Wirklichkeit bloßzulegen. Sein Vorbild war Der Mann mit der Kamera (1929) des so­wjetischen Fil­memachers Dsiga Wertow, das Ciné­ma verité der Sta­lin-Ära. Was in krassem Gegensatz zu der von Sacha Guitry übernom­menen Thea­tralik von Godards Filmen zu stehen scheint.
     Dies ist der Punkt: Die un­populäre Kunst wettet darauf, daß es gerade durch die Verschiebung der Aufmerksamkeit auf den Signifikanten möglich sei, etwas von der Realität einzufan­gen. Das Kino soll nicht unser Interesse an Ferdi­nand Grif­fon wecken, sondern an dem sehr realen Jean-Paul Bel­mondo, der ihn in Pierrot le fou spielt Der Punkt ist, daß die reale Welt nichts Echtes mehr an sich hat: Es ist eine von Zei­chen durchdrungene Show-Welt. Die künstliche Form der Natur mußte demaskiert werden.

(…)

Godard verdankt einen Teil seines anfänglichen Erfolgs den Schauspielerinnen, die er einsetzte – Jean Seberg, Anna Karina, Marina Vlady, Anne Wiazemsky ... Frauen, die er oftmals liebte und heira­tete. Einige von ihnen wurden durch ihn zu Stars. Er filmte sei­ne Frauen, seine Signifikanten, mit liebe­voller Ironie.
     Das Gesicht der jeweiligen Schauspiele­rin zeigt er so lang, daß wir es bewundern können. Von Truffaut stammt das Wor­t, man brauche in einem Film nur eine schöne Frau, und der Film sei gemacht. Der Plot vieler berühmter Filme lebt von der Aura der Schönen Frau. Das eigentli­che The­ma des Films ist sie. Godard erinnert uns an diese ekstatische Funk­tion des Kinos: schöne Menschen zu photographieren. Das „amerikanische“ Kino hat die Schön­heit von Schauspielern und Schauspielerinnen natürlich immer betont, doch wurde diese Valorisierung von der Handlung verhüllt, der Reiz der Diva mußte der Story heuchlerischerweise abge­rungen werden.
     Als einer der ersten erfaßte Godard, wie substantiell sich das damalige Modell weiblicher Schön­heit veränderte. Auf uns wirken heute sogar die schönsten Schauspiele­rinnen in den „amerikanischen“ Filmen vor 1965 so, als hätten die Re­gisseure sie absichtlich häßlicher gemacht, entstellt durch Schminke, die allen denselben grüngelben Haut­ton verpaßte. Die Schöne Frau hatte älter auszusehen, etwa wie eine Vierzigjährige, auch wenn sie erst 25 war. Man setzte auf die juno­nische Makellosigkeit der Frau. Paradig­matisch dafür ist Sofia Lo­ren, die mit ostentativer Majestät ihre eroge­nen Zonen zur Schau stellte. In Italien hieß es damals, sie wären „majorisiert“ (vergrößert), ein Neologismus, der wie das Gegenteil von „minorisiert“ (verkleinert) klang. Dann, ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, sind die Frauen schön, wenn sie aussehen wie hübsche Girls, auch noch mit fünfzig Jahren. Heute gelten Frauen als schön, wenn sie Teenager bleiben, Minderjährige, kurz: unvollkommen. Godard hatte dieses teenagerhafte Hinübergleiten der Schönheit begriffen.

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