LI 151, Winter 2025
Sympathy for the Devil
Faust, die Sechzigerjahre und die Tragödie der Entwicklung Eingeleitet von Gerald HowardElementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Englischen von Thomas Stegers
Textauszug: 9.801 von 115.816 Zeichen
Textauszug
(…)
Sympathie, Empathie, Identität mit dem Teufel
Der Tag und die Nacht am Pentagon, so wie Fausts Begegnung mit dem Erdgeist, markierten einen Wendepunkt in unserem Denken und Wünschen. Es hatte ein neues Bewußtsein zur Folge, für die unheilvollen, furchtbaren Mächte, mit denen wir uns auseinanderzusetzen hatten, bevor unsere Träume von Freiheit und Selbstverwirklichung wahr werden konnten. Während die sexuelle und emotionale, moralische und politische Befreiung der sechziger Jahre Fortschritte machte, sich verschärfte und militarisierte, gab es gleichzeitig, wie zur Kompensation, eine stärkere Betonung der dunklen und dämonischen Seite unseres Tuns. Viele der expressivsten und provokantesten Songs der späten sechziger Jahre – von Bob Dylan, Laura Nyro, Jim Morrison – griffen die düstere Thematik von Robert Johnsons Me and the Devil Blues auf und entwickelten sie weiter. Diese Songs bringen sehr anschaulich die befreite, aber gequälte Sensibilität zum Ausdruck, die Spengler als archetypisch faustisch ansah: eine Gefühlsstruktur, die „ganz und gar Wille, aber voller Angst für seine Freiheit“ ist.
Der bemerkenswerteste und einprägsamste Song, in dem das Dämonische beschwört wird, ist sicher der Rolling-Stones-Titel Sympathy for the Devil, der zuerst im Winter 1968 erschien. Der Song konzentriert sich insbesondere auf den Prozeß der politischen Veränderung und wendet sich an ein Publikum, das nach radikalen Veränderungen in der unmittelbaren Gegenwart giert. Vorgetragen wird der Song von der Figur des Teufels. Er stellt sich uns vor und sagt, wir würden ihn bereits besser kennen, als wir glaubten. Dann zählt er eine Reihe politischer und sozialer Katastrophen auf und macht sich, gemeinsam mit uns, dafür verantwortlich. Mit manchen der genannten Errungenschaften würden wir uns durchaus identifizieren: der Französischen und Russischen Revolution etwa. Andere dagegen sind Greueltaten, vor denen wir, wie der Teufel weiß, zurückschrecken würden: der Blitzkrieg der Nazis zum Beispiel oder der Mord an den Kennedys. Das Spiel des Teufels gibt uns Rätsel auf, das ist ihm klar. Er verrät uns nicht, welches Spiel genau er treibt, sondern überläßt es uns, das herauszufinden. Wann immer politische Gewalt in der Luft liegt, mischt er vermutlich mit und ist nicht zu kontrollieren, das scheint seine Botschaft zu sein. Wir machen uns selbst etwas vor, wenn wir uns voll und ganz mit „guter“ Gewalt identifizieren und für „schlechte Gewalt“ jegliche Verantwortung ablehnen und unsere Hände in Unschuld waschen. Statt dessen verlangt er, gefälligst selbst die Verantwortung für unsere eigene dunkle Geschichte zu übernehmen.
Soll das heißen, daß wir alle gleichermaßen für alles verantwortlich sind? Vermutlich nicht. Aber der Teufel warnt uns, sollte es Ärger geben und wir auf ihn treffen, wären wir gut beraten, ihm einige Sympathie entgegenzubringen, andernfalls würde er unsere Seelen verheeren. Ein entscheidendes Wort in dem Song ist nur undeutlich zu vernehmen. Sollen wir im Umgang mit dem Teufel all unsere „politesse“ (Höflichkeit) oder „politics“ (Politik) aufbieten? (In Jean-Luc Godards Film über die Rolling Stones 1+1/Sympathy for the Devil singt Mick Jagger, wie immer koboldhaft, mal die eine, mal die andere Version.) Wie auch immer, es geht darum, unsere Verwandtschaft mit ihm anzuerkennen, uns unserer eigenen destruktiven, bösartigen, brutalen Impulse und der Unbeständigkeit und Irrationalität jener Kräfte, sind sie erst einmal freigesetzt, bewußt zu werden. Diese Sichtweise macht jedes menschliche Handeln kompliziert, und Handlungen, die auf radikale gesellschaftliche Veränderungen abzielen, besonders riskant. Es bedeutet, daß jeder von uns, der die Macht des Pentagons überwinden will, mit dem Pentagon in sich selbst ins Reine kommen muß. Diejenigen sind am meisten gefährdet, welche die Gefahr am meisten leugnen, die keine Sympathie bekunden, die vor Selbstgerechtigkeit triefen, die meinen, sie könnten die Welt verändern, ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen. Die Seelen derer, die ihre gespielte Unschuld vor sich hertragen, werden innerlich am meisten zerfressen und am Ende zerrüttet sein. Das Spiel des Teufels erweist sich letztlich als ungewisses Spiel; der Song bietet keinen Rat, was wir tun oder nicht tun sollen. Statt dessen bietet er eine neuerliche Reise in die Unterwelt an und zurück zu uns selbst, die zu einer weiteren Ausdehnung und Öffnung unserer Seelen führt, einem tieferen Bewußtsein für die Zweideutigkeit radikaler Absichten und Aktionen, einer tragischen Selbsterkenntnis.
Kann es nach solcher Erkenntnis noch Versöhnung geben? Wir alle erinnern uns an Altamont. Wenn wir den Mord nicht mit eigenen Augen gesehen haben, dann haben wir ihn im Kino gesehen, in den Fernsehnachrichten, haben die endlosen Zeugenaussagen und Analysen gelesen – es war einer der am besten dokumentierten Morde der Geschichte – oder haben den Film immer und immer wieder im Kopf abgespielt. Der schwarze Mann im grünen Overall und Baskenmütze, in der Hand eine Pistole, die bulligen Hells Angels in ihrem schwarzen Leder, mit Hakenkreuzen und Messern, die geschockten, fragilen langhaarigen Leute, die hilflos kreischen – wir kennen sie alle. Ein Detail, das dieses Ereignis noch düsterer macht, ist die Tatsache, daß der Mann in dem Moment getötet wird, in dem Mick Jagger anfängt Sympathy for the Devil zu singen. In dem Film über das Konzert in Altamont, Gimme Shelter, sehen wir Jagger die Musik unterbrechen. Er weiß noch nicht, daß ein Mensch getötet wurde, nur, daß etwas Schreckliches passiert ist. Ausnahmsweise einmal – vielleicht gab es das schon vorher, aber darüber erfahren wir nichts – befindet er sich in einer Situation, die er nicht kontrollieren kann. Er blickt über die dunkle Masse des Publikums hinweg, schaut sich um, hinter sich, zitternd, unfähig sich zu konzentrieren, und sagt: „Why is there always trouble when we play this song?“ [„Warum gibt es immer Ärger, wenn wir diesen Song spielen?“] Das Geschehen hat sich von ihm entfernt, und seine Frage bleibt ungehört und unbeantwortet. Einerseits müssen wir uns über diesen Mann ärgern. Im Zusammenhang mit vielen seiner Songs, mit seinem Ende der sechziger Jahre entwickelten Stil bei Bühnenauftritten, hat er sich eine diabolische Rolle zugelegt, hat seine volle Energie und brillante Mimik dafür aufgebracht, nur um ihre ganze Perversität um so faszinierender, lustvoller und verführerischer darzubieten; aber wenn sich dann die Leute tatsächlich verführen lassen und es Ärger gibt, wundert er sich warum.6 Sympathy for the Devil ist der Versuch, Satanismus mit tragischem Bewußtsein und Weisheit zu durchdringen, doch als die Katastrophe einsetzt, zeigt sich Jagger noch verdutzter, noch fassungsloser, noch benommener als wir alle. Schüttelt stumm den Kopf, kann nicht mal schreien, seine Seele ist verwüstet. Und trotzdem können wir ihm unsere Sympathie nicht verwehren. Er hat uns lediglich aufgefordert, mit dem Teufel „zu sympathisieren“, er hat uns nicht aufgefordert, die Sau rauszulassen, Teufel zu sein. „Warum gibt es immer Ärger, wenn wir diesen Song spielen?“ Niemand vermochte ihn zu warnen, wie sehr die Botschaft des Songs mißverstanden worden war. Und auch nach der Tat vermochte niemand ihm zu sagen, warum sie geschehen war.
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Selbst diejenigen unter uns, welche die sechziger Jahre geliebt haben, so wie ich, waren erleichtert, als sie zu Ende gingen. Aber die Tragödie nahm für verschiedene Akteure ein unterschiedliches Ende. Fausts Tragödie ist die Tragödie eines reifen Mannes, der ein intellektuelles und emotionales Leben geführt und eine Lebensperspektive und Überlebenstechniken entwickelt hat, bevor er in die Welt hinauszieht. Diejenigen von uns, deren Identität bereits in den fünfziger Jahren geformt wurde, konnten die sechziger Jahre besonders genießen. Wir konnten uns gehenlassen, weil wir wußten, daß sie wiederkehrten. Im Erwachsenenalter wurden wir alle ein bißchen ironisch, blieben reserviert selbst in den ausgelassensten Stimmungen und den hellsichtigsten Momenten; aber diese Reserviertheit war es, die uns zusammenhielt, als die Blase platzte. Als nach all unseren Hoffnungen und Kämpfen sich das System trotzdem nicht veränderte, in mancher Hinsicht noch schlimmer wurde, gleichzeitig eine repressive Regierung und ein Konjunkturrückgang über uns hereinbrachen, waren wir traurig, aber nahmen es nicht allzu persönlich. Wir konnten raus in unsere heimischen Wälder, uns in Höhlen verkriechen, Bergwanderungen machen, so wie Faust – Arbeitszimmer oder Bibliotheken, Cafés oder Bars tun es auch – und unser persönliches Wachstum stärken und alles auskosten, was die sechziger Jahre für uns getan hatten. Gretchens Tragödie dagegen ist die Tragödie der Jugend, einer jungen Frau, deren Seele schöner ist als Fausts Seele, aber deren Selbst weit unfreier ist. Wie so viele junge Leute, welche die sechziger Jahre erhellten, geht sie aufs Ganze, hält nichts von sich zurück, kann folglich daher auch auf nichts zurückgreifen, als die Katastrophe einsetzt. Sie nimmt alles viel zu persönlich, und ihre Persönlichkeit löst sich auf. Sie fühlt sich verlassen, nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch von dem Mann, der sie liebt – so wie vor nicht allzu langer Zeit viele der jungen Menschen, die wir geliebt haben, oder es wenigstens behaupteten, sich von uns verlassen fühlten. Wir haben sie wirklich geliebt, so wie Faust sein Gretchen wirklich liebt, aber die Enge ihrer reinen Intensität hat uns nach einer gewissen Zeit gelangweilt; uns verlangte es nach mehr Komplexität. Und so gingen wir Faustianer unsere getrennten Wege, bekümmert und erschöpft, doch offener, gereifter, tiefgründiger und weiterentwickelt durch die Stürme, die wir durchgemacht hatten. Und viele, zu viele, der Jungen, so wie Gretchen, kaum erwachsen, zerbrachen oder starben allein.
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