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LI 127, Winter 2019

Die deutsche Frage

Europa, die Welt und die heikle Wiedervereinigung nach dem Mauerfall

(...)

Das Ende der sowjetischen Bedrohung hat die durch den Zweiten Weltkrieg hervorgebrachte Ordnung durcheinandergebracht und damit die geopolitischen Voraussetzungen, auf denen das von Schuman verkündete europäische Projekt konstruiert war. „Der mit 1989 einsetzende plötzliche Kollaps der Sowjetmacht hat dem Einigungsprozeß des westlichen Europa einen heftigen Schock versetzt“, weil dies die Möglichkeit der Wiedervereinigung Deutschlands wieder auf die Tagesordnung der Weltpolitik brachte. Diese Aussicht beurteilten die Väter des Europäismus nicht bloß als wenig realistisch, sondern nicht einmal als erstrebenswert: „Jener Teil der deutschen Führungsschicht und des deutschen Volkes, die versteht, was es bedeutet und heißt, ein europäisches Gewissen zu haben, werden für die Bundesrepublik nur dann eine entsprechende Politik durchsetzen können, wenn sie die Zivilcourage haben, offen die zerstörerische Illusion der Wiedervereinigung zu verurteilen.“
     Nach dem Fall der Mauer und vor allem unter dem steigenden Druck der Demonstrationen in den Städten der Deutschen Demokratischen Republik mit ihrer „nationalistischen“ Losung „Wir sind ein Volk“ (die das vorherige antiautoritäre „Wir sind das Volk“ ersetzt hatte), wurde ein schneller Wiedervereinigungsprozeß unaufhaltbar, schon um der Stabilität und des Friedens willen: „Die getrennten deutschen Staaten wären zu jenem zusätzlichen Risikoherd im Herzen Europas geworden, den Kassandra im vereinten Deutschland vorausahnte.“
     Als entgegen jeglicher „rationaler“ Vorhersage die Möglichkeit einer Wiedervereinigung Deutschlands konkret wurde, gerieten die „befreundeten“ Staatskanzleien der westeuropäischen Staaten in Aufregung. Die Aussicht auf einen deutschen Nationalstaat, sei er auch größtenteils der Territorien des ehemaligen Preußens beraubt, ließ in Europa – und nicht nur in Europa – Zweifel und Argwohn aufkommen. Stand nicht etwa just die Gründung des Bismarckschen Reichs am Anfang vom Ende des mit dem Wiener Kongreß festgelegten europäischen Gleichgewichts, und war nicht dies die Geburtsstunde des Hasses zwischen Frankreich und Deutschland? Stimmte es etwa nicht – dies der historisch-politische Stein des Ärgernisses für Andreotti, Mitterrand und Thatcher –, daß immer, wenn seit 1870 eine Krise das Gleichgewicht des Alten Kontinents ins Wanken brachte, die Hauptursache die deutsche Frage war?
     Drohte Deutschland wieder zu einem „ruhelosen Reich“ zu werden, das auf seinem Sonderweg auf eine bedrohliche und zugleich äußerst fragile Halbhegemonie zugeht, die „halbhegemoniale Stellung des Bismarckreiches auf dem Festlande“, die am Anfang (nicht aber als alleinige Ursache) der nachfolgenden europäischen Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand? Henry Kissinger hat diesen Umstand schonungslos in der Formulierung zusammengefaßt, wonach „Deutschland zu groß für Europa und zu klein für die Welt“ sei. Oder wie David Calleo geschrieben hat, ist es „für die Hegemonie zu schwach und für das Gleichgewicht zu stark“. Statt den Fall der Mauer als unerwartete und höchstwahrscheinlich unwiederholbare Chance zur Befreiung der osteuropäischen Nationen von der „babylonischen Gefangenschaft“ unter sowjetischer Herrschaft zu betrachten, kultivierten die „alliierten“ europäischen Regierungschefs ihre Bedenken: „Während das Fernsehen in aller Welt die Ereignisse in Berlin live übertrug …, verbargen die Regierungen Europas nicht ihre Überraschung und ihr Unbehagen.“
     Einen eklatanten diplomatischen Fauxpas erlaubte sich Giulio Andreotti: Während einer Debatte zu den Festlichkeiten am Tag der Deutschen Einheit bekräftigte er, wobei er fast wörtlich eine Formulierung von François Mauriac übernahm: „Ich liebe Deutschland so sehr, daß ich am liebsten zwei davon hätte.“ Diese Taktlosigkeit wird ihm sein alter Glaubens- und Politikkamerad Helmut Kohl niemals verzeihen, der erbost erwiderte: „Wenn der Tiber Ihr Land teilen würde, würden Sie anders denken.“ Doch viel schlimmer verhalten sich Frankreich und England, die als Siegermächte zusammen mit den USA und den UdSSR die sogenannten Vorbehaltsrechte gegenüber Deutschland innehatten. Mitterrand versuchte noch nach dem Fall der Berliner Mauer die Wiedervereinigung der beiden deutschen Länder zu verhindern, indem er am Ende einer ebenso abenteuerlichen wie diplomatisch verzweifelten Reise der mittlerweile im Untergang befindlichen Regierung in Ost-Berlin die Unterstützung Frankreichs anbot. Zusätzlich hegte er die Hoffnung auf eine Wiederauflage einer Entente Cordiale mit Rußland aus antideutscher Absicht. Schließlich resignierte er à contrecœur. Aber die Aussicht auf die Wiedergeburt eines „großen Deutschlands“ jenseits des Rheins hat aus tiefsten Winkeln der französischen Seele das antideutsche Syndrom wiedererwachen lassen, dem Frankreich seit 1870 zum Opfer fällt.
     Trotz aller selbstlosen proeuropäischen Anstrengungen Frankreichs, über den Schatten einer blutigen Vergangenheit zu springen, und trotz des Versuchs von De Gaulle und Adenauer mit der großen historischen Führern eigenen Weitsicht und geistigen Größe, mittels des Élysée-Vertrags von 1963 einen echten Dialog zwischen Frankreich und Deutschland auf den Weg zu bringen –, im vollen Bewußtsein darüber, daß „der geheimnisvolle Haß zwischen diesen beiden Ländern das Alpha und Omega Europas bildet“ – bringt ein hoher Funktionär des Außenministeriums das vorherrschende Gefühl in den politischen Kreisen und Medien Frankreichs in den Monaten nach dem Fall der Berliner Mauer in seinen Worten zum Ausdruck: Die Ausrufung der deutschen Wiedervereinigung wirft „einen gigantischen Schatten auf Deutschland, das viel zu mächtig ist, um nicht dominant zu werden, und seit viel zu langer Zeit gekränkt ist, um nicht das Bedürfnis nach Rehabilitierung, mehr noch Revanche zu verspüren“. Gerade am nachtragenden antideutschen Gefühl hat sich in den folgenden Jahren der von der Familie Le Pen angeführte nationalistische Populismus wie auch der gauchistische Souveränismus des Jean-Luc Mélenchon genährt.
     Noch übler verhielt sich Margaret Thatcher. In keinem anderen Land Europas ist die Furcht vor einer möglichen Wiedergeburt eines deutschen Reichs so verbreitet wie in England (Beware, the Reich is reviving, so die Schlagzeile der Times von London am 31. Oktober 1989). In diesem Land – darin stimmen öffentliche Meinung und Politik überein – wurde die Vorstellung eines föderalen Europas immer schon als heimtückische deutsche Machenschaft betrachtet, eine auf friedlichem Wege bewerkstelligte Wiederauflage der kriminellen nazistischen Aggression der vierziger Jahre (Jetzt wollen die Deutschen mit friedlichen Mitteln ganz Europa erobern, aber „dann hätten wir es ohne große Umwege auch Adolf Hitler überlassen können“). Dieses Syndrom spielte für den Sieg der Brexit-Befürworter beim Referendum von 2016 eine erhebliche Rolle. In Wahrheit jedoch war die deutsche Wiedervereinigung nicht eine „durchgesehene und überarbeitete“ Neuauflage der Bismarckschen Reichsgründung. Dies gilt in erster Linie deshalb, weil im Unterschied zur Vergangenheit das aus der „zweiten Wiedervereinigung“ entstandene Deutschland nicht das Resultat einer Strategie der deutschen Politik, sondern das einer europäischen (und globalen) geopolitischen Transformation ist. Es ist auch nicht Ausdruck des Machtwillens, wie die von Bismarck durch „Blut und Eisen“ von Europa 1870 abverlangte Vereinigung. Sie ist das genaue Gegenteil, sofern „in dieser Europäisierung der deutschen Einheit von 1989/90 der entscheidende Unterschied zur Reichsgründung von 1870/71 [lag]“.

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