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Inhaltsverzeichnis

LI 133, Sommer 2021

Im Land, das nicht ist

Feminismus und Revolution – Unter kurdischen Frauenmilizen in Rojava

(...)

8. Tag

Consciousness raising, wie es früher hieß, ist jetzt in Raqqa angesagt. Frauen aus der Kalifat-Zeit sollen Zwangsheirat, Gewalt in der Ehe und Frauenrechte bewußtgemacht werden. Die Frauenaktivistin Farida, in Stilettos, soll die Damen entradikalisieren und sieht aus wie ein Starlett aus Bollywood – nicht einmal in Dänemark könnte sie ungestört herumlaufen. Ihre Botschaft ist ganz einfach: Man kann als Frau sehr wohl allein und ungeschützt in Raqqa leben.
     Das Treffen findet in einem Villenviertel statt, welches, den Ruinen nach zu urteilen, von der Oberschicht bewohnt gewesen war und in das dann die berüchtigten IS-Bräute aus Europa gezogen sind, hinein in einen Luxus aus Silberbesteck, Porzellan und Damastdecken.
     Ein merkwürdiges Treffen, in einer mehr oder weniger verhüllten Gesellschaft, in der die Leidenschaften hochkochen, gemäß dem alten Sprichwort, daß Frauen unter sich das Allerschlimmste sind, ein bißchen wie blame game, weil das Kalifat Frauen als Waffen gegen die Bevölkerung benutzt hat. Eine laute arabische Dame in schwarzer Abaya unterbricht immer wieder mit Jubelworten darüber, wie wunderschön ein islamisches Land, Syrien, mit all seinen „Stämmen“ ist und wie stolz sie auf das Land ist, auch wenn Assad zurückkommen sollte. Keiner erwähnt, welch konservative Stadt Raqqa seit jeher gewesen ist, allzeit notorisch der jeweiligen Übermacht zugeneigt, egal, ob es französische Kolonialherren waren oder der IS. Niemand spricht darüber, daß die konservative Interpretation des Islams den Grundstein für das Kalifat legen konnte – und es kein Zufall war, daß der IS Raqqa zu seinem Hauptsitz auserkoren hatte.
     Daß fast alle im Niqab erschienen, lag daran, daß sie befürchteten, der IS würde zurückkehren, sagten sie. Es waren perverse Geschichten in der IS-Zeit, die sie sich anhören mußten, als Frauen zur Unterdrückung instrumentalisiert wurden. Es waren Frauen, die im Dienst der religiösen Polizei Hisbah standen, diejenigen, die am eifrigsten überprüften, ob bei einer Dame ein Niqab zu eng saß, so daß man Körperkonturen erahnen konnte oder ein Fleckchen nackte Haut am Hals. Und schon kamen sie mit ihren Kneifzangen. Es gab nicht nur ein systematisches Auspeitschen von Frauen in zu engen roten Jeans unter dem Niqab, sondern auch die Geschichte, wie eine Frau, die in Begleitung ihres Mannes kam, unbedingt geschieden werden mußte, weil der Mann, wie es hieß, seine Männlichkeit verlor, als er seine Ehefrau nicht vor Peitsche und Kneifzange schützen konnte. Und keiner kam einer solchen Frau zu Hilfe – alle wandten sich von ihr ab, erinnert sich die einzige barhäuptige Frau aus einer von Raqqas Oberschichtfamilien. Zudem wurde ersichtlich, daß die Prostitution in der IS-Zeit deutlich zugenommen hat – wie es auch auf dem Treffen gesagt wurde: „Alle Frauen im Niqab, die heute das Straßenbild prägen, sind Huren, sie verhüllen sich aus Scham.“ Was davon sollte man glauben?
     Zumindest das, was überall zu hören war: „Der menschliche Charakter ist im Krieg verraten worden – wie auch die Seife aus Aleppo schlechter geworden ist.“

 

9. Tag

Wenn Leute aus Europa aus Rojava zurückkehren, mit Sternen in den Augen, ist das nicht zuletzt auf das revolutionäre Frauendorf „Jinwar“ mit 14 Frauen und vierzig Kindern zurückzuführen – eine Ansammlung kuppelförmiger Lehmhäuser, im traditionellen Stil, mit lila und violetten Längsstreifen als femininer touch, um zu betonen, daß dies eine Frauendomäne ist. Hier haben sie freitags nicht frei, und fragt man sie, warum, folgt blitzschnell die Antwort: „Weil wir Revolutionärinnen sind!“
     Sie waren Revolutionärinnen, aber über Sex wurde nicht geredet. Es war ein Dorf für Frauen, die vor Männern geflohen sind, die sie in jeder Hinsicht unterdrückt haben – oder für Witwen, die sonst schutzlos zurückgeblieben wären, wenn sie ihren Mann im Krieg – der Männersache – verloren hatten.
     – Und die deutschen Mädchen? Es war, als würde man sie längst kennen: Ulrike-Meinhof- und Gudrun-Ensslin-Typen, die sich der Revolution in Kurdistan angeschlossen hatten – dem „Spanischen Bürgerkrieg“ der jüngeren Generation! Denn das war wohl der einzige Ort auf der Welt, wo eine Revolution stattfand, an der sich Jüngere beteiligen konnten.
     Meinhof oder Ensslin hätte man bestimmt auch nicht zu Sex befragt. Sie hätten wohl geantwortet: „Hallo, wir rauben gerade eine Bank aus.“ Das machen die Frauen in Jinwar nicht. Aber die dunkelhäutige Frau, die zwei ausgemergelte Kühe auf verbranntes Gras setzt, denkt sie an Sex? Wer weiß, der Drang nach Leben und Überleben ist immer da ... Und dann gibt es etwas, das emergency sex heißt, erfahre ich von jenen, die im Krieg gewesen sind.
     Die Sprecherin des Dorfes in dieser Woche, die jungenhafte Jeval (Genossin) Berchem, mit einem frauenpolitischen Hintergrund in Tschechien, als Tenorsaxophonistin und Tischlerin, hat auf dem Arm ein Tattoo, das einem Spinnennetz ähnelt. Als ich sie danach frage, antwortet sie: „Glasscherben“, lehnt es aber ab, näher über ihren privaten Körper zu sprechen. Hier im Dorf, in der Kommune, wo sie alle kunterbunt durcheinander schlafen und wo keine Speise (auf dem Boden) individuell ist und alle aus derselben Schüssel essen, gibt es plötzlich Privatsphäre. Glasscherben, mühselig auf den ganzen Arm tätowiert ... Etwas, das in ihrem Leben zu Bruch gegangen ist? Oder etwas, das sie zustande bringt, um es zu zerschlagen? Sie hat sich für die Revolution in Rojava entschieden, Kurdisch gelernt, um mit diesem Dorf eine neue Gesellschaftsform als Utopie für eine demokratische Gesellschaft unter der Führung von Frauen aufzubauen. Sie beruft sich dabei auf die „Jineologie“, die neue Frauenwissenschaft, die auf einer alternativen Mythologie, Psychologie und Geschichte aufbaut, in der die Frauen – wichtigste Wirtschaftsquelle – für Ethik und Ästhetik, Freiheit und Schönheit verantwortlich sind. Die Revolution besteht darin, jene Grenzen zu überwinden, die der Staat als Machtmodell repräsentiert. Genossin Berchem weist darauf hin, daß wir uns hier im Land zwischen Euphrat und Tigris befinden, im Mesopotamien des Altertums mit den Göttinnen der alten Mutter- und Fruchtbarkeitskulte wie Inanna, bei denen Krieg und Sex in ein und derselben Gestalt vereint sind.

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