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Cover Lettre International 131, Antoine D'Agata
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Inhaltsverzeichnis

LI 131, Winter 2020

Umkehr

Der globale Wendepunkt und der glückliche Augenblick des Kairos

(…)

Der Globus hat Fieber, aber die Krise hat gezeigt, daß wir auf andere Art leben können. Manche beschlossen, auf Flüge und Urlaub zu verzichten, andere auf Fleisch. Ich beschloß, auf Menschen zu verzichten! Das Tempo zu drosseln und jede äußere Aktivität einzustellen. Fuga mundi, wie es in der Antike hieß – retreat.
     Der Elefant im Raum offenbart, daß irgend etwas an dem System faul ist, da es uns so unvorbereitet auf eine Pandemie zusteuern ließ, vor der uns die Wissenschaft seit Jahren gewarnt hatte.
     Plötzlich, für einen kurzen Moment, schien es, als könnte der Himmelskörper Erde atmen, die Natur gab sich im guten wie im schlechten zu erkennen, der Homo sapiens erhielt erneut die Chance, sich zu besinnen. Trotz des Lockdowns war der CO2-Ausstoß aber nur minimal gesunken. Was für eine Perspektive folgte daraus? Wollte man den „Kommunismus“ in einer neuen globalen Zusammenarbeit neu erfinden? Waren die Hilfspakete, mit denen „der Staat die Produktionsmittel übernahm“, ein solcher Schritt?
     Es war geradezu verblüffend, wie schnell die Natur – auch meine eigene – wieder zum Leben erweckt wurde: Vögel, Fische, Delphine sowie Kreaturen, die bisher von der antropozänen Verwüstung – ein Begriff, der aus dem visionären Feminismus stammt – betroffen waren. Das bedeutet nicht zwangsläufig, daß der Mensch als solcher zum Problem geworden ist, sondern das menschliche Verhalten. Deshalb habe ich – aus Klimaschutzgründen – beschlossen, mich anders zu verhalten – das Verkehrsnetz minimal zu belasten, indem ich mich so wenig wie möglich von der Stelle bewege. Und mit anderen Menschen auf altmodische Art in Verbindung zu treten, via Telefon – nun mit Bild. Eine neue Achtsamkeit, eine neue Zärtlichkeit zu entwickeln. Mich mit dem Tiefen, Vitalen zu verbinden, als saugte ich Nährstoffe aus den Wurzeln der Bäume.
     Plötzlich wurde es möglich, die Potentiale des Alters zu ergründen, während ich zugleich meine Jugend wiedergewann, die Stille und die Langsamkeit, an die ich mich erinnerte, aus einer Welt, die ich einmal gekannt hatte. Ich erinnere mich noch daran, als die erste Autobahn in Dänemark gebaut wurde. Und wie wir Kinder am Grabenrand lagen und die Nummernschilder der vorbeifahrenden Autos notierten. Später, als ich als Erwachsene aufs Land gezogen war, konnte ich beim Kaffeeplausch mit dem Nachbarn über die jeweiligen Autos, die vorüberfuhren, diskutieren, wer am Steuer saß und wohin sie wollten.
     Damals fuhren Frauen auf dem Land kein Auto – im Vergleich zu heute, wo vier Generationen mit zwei Autos in jeder Familie fahren. Es wird nie genug Straßen oder Parkplätze geben – ohne Wendepunkt.
     Was wir jetzt erreicht haben: die Kulturrevolution der Überhitzung. Und ich habe vor, mein Leben ab jetzt umzustellen, in reduziertem Tempo. Abkühlung, cool – Zen. Vielleicht kann ich auch die Depressionen ad acta legen. Nicht meine eigenen, sondern die Depressionsepidemie, welche die WHO als eine Nebenwirkung des stark überhöhten Tempos vorhersagt, besonders in der westlichen Welt, „und die allem Anschein nach von der Trauer herrührt, die Verbindung zu etwas Vitalem verloren zu haben, zu den Wurzeln der Bäume …“
     Die Sehnsucht, die überhitzte Welt hinter mich zu lassen, wurde plötzlich erfüllt. Ich wollte schon immer in der Langsamkeit leben und versuchte es – ohne Erfolg. Aber jetzt hatte sich die Welt meinem Rhythmus angepaßt, drehte sich nicht mehr so schnell. Und ich wünschte mir, tiefer in den Zustand einzudringen, der mir plötzlich gegeben wurde, – und begann „meine Bibliothek“ zu aktivieren. Räumte auf. Warf weg. Vielleicht handeln Wendepunkte, selbstgewählt oder nicht, davon, ein neues Leben zu bekommen?
     Warum hätte ich nicht etwas früher ein neues Leben beginnen können?

(…)

Es wurde vorausgesagt, daß das säkulare Zeitalter, unsere Zeit, etwas so Besonderes und Ephemeres wie Gesundheit an die Stelle Gottes setzen würde. Gesundheit würde Gottes Platz einnehmen, indem man sie anbetet und in sie investiert – fast religiös, durch Sport, Training und vorbeugende, gesunde Ernährung. Das bedeutet, daß man dem Leben einen höheren Wert beimessen und um jeden Preis das Böse, die Finsternis und den Tod fernhalten will. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit, nach: „Na gut, dann machen wir das eben, wir setzen auf das Leben“ – als sei dies das einzig Sinnvolle, was man tun kann. Was sonst?
     Aber die Lebenspraxis und -philosophie unserer Zeit steht im krassen Gegensatz zu den Zeiten davor. Über Jahrtausende hat der Tod bei unserer Zweckbestimmung und unserer Befreiung die Hauptrolle gespielt. Das Leben war nur ein vorläufiger, mehr oder weniger elendiger Übergang, der am besten so schnell wie möglich überstanden werden sollte, um Erlösung und Frieden durch die Begegnung mit dem wahren Gott zu erlangen. Savoir mourir ist eine vergessene Kunst.

(…)

Denn mit der Pandemie ist der Tod dicht an uns herangetreten. Jeden Tag wurden die Todeszahlen im Radio vorgelesen – mehr oder weniger versteckt, in verschiedenen Ländern.
     Ich hatte selbst lange in diesem Drama von Leben und Tod, für das der Garten ein Symbol ist, gelebt. Und eines Tages im Sommer, als ein Biologe vorbeikam, deutete ich auf einen Baum und fragte ihn, ob dieser lebt oder tot sei. Er antwortete: Er lebt und ist zugleich tot. Die grünen gebogenen Zweige waren quicklebendig, während die grau-schwarzen ein Zeichen dafür waren, daß der Baum eingegangen war.
     Laut Rilke wurden wir mit dem Tod im Inneren geboren, als kleinem „Kern“, der mit dem Alter wächst und schließlich überhandnimmt.
     Aber es ist die ganze Zeit möglich, sinnbildlich gesprochen, Kierkegaards bel étage nach oben zu verlagern. Warum wählt man nicht die Freiheit, solange noch Zeit ist, anstatt im Keller wohnen zu bleiben? Man hat ja die Wahl.
     Denn wir leben in einer neuen Zeit, im Kairos – der nicht Chronos, die chronologische Zeit, ist – sondern der glückliche Augenblick, in dem alle Zeiten zu einem einzigen Jetzt zusammenfließen – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – und wo alles möglich ist. Im Kairos ist die Zeit aufgehoben. Du kannst in Gesellschaft von Augustinus sein oder dir die angelsächsische Poesie im 9. Jahrhundert nach Christus zu Gemüte führen und die Toten erstehen in Büchern und bei YouTube wieder auf – dort sind sie allesamt, Michel Serres und Jean Baudrillard, Georges Bataille und Simone Weil. Kairos ist immer jetzt – es ist nicht zu spät, die Welt zu verändern. Es ist nicht zu spät für die Welt, wieder zu atmen.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024