LI 78, Herbst 2007
Unerhörtes Hören
Über Krach und Musik, Klang und Komposition, Spannung und HarmonieElementardaten
Textauszug
Axel Brüggemann: Botschaften werden über das Ohr überbracht, aber es ist gleichzeitig  auch Körpereingang für viele andere Dinge. Marias Empfängnis ist ein  Beispiel. Sie soll durch das Ohr stattgefunden haben. Hamlets  schlafendem Vater wurde Gift ins Ohr geträufelt …
 Wolfgang Rihm: Es sind  Botschaften durch das Ohr, die Seelen vergiften. Deshalb sind die tauben  Engel auch reine Wesen: Sie sondern nur ab, nehmen aber nichts auf.  Andererseits ist das mit der Botschaft so eine Sache. Was wäre die  Botschaft der Musik außer der Musik selbst? Meist ist sie ja nur ein  Impuls, und die Botschaft setzt sich erst im Hörer zusammen, der diesem  Zusammengesetzten dann den Namen Botschaft gibt. Denn Hören ist ja nicht  nur das Hören, sondern auch das Voraushören und das erinnernde Hören.
Es  bleiben ja auch nicht alle Botschaften in uns. Nicht umsonst gibt es  die Redensart, daß etwas in das eine Ohr hinein- und durch das andere  hinausgeht.
Deshalb liegt der Kopf zwischen den Ohren. Das  Gehirn macht das Ohr zu einem Teil von uns. Wir vergessen zu oft, daß  das Ohr nichts Fremdes ist, das uns kennt, sondern daß wir die Eigner  der Ohren sind. Die Ohren sind unserer Kenntnis als Reizempfänger  vorangestellt, aber sie können von sich aus keine Kenntnis in uns  herstellen. Das Hören ist ein zutiefst selektiver Vorgang. An diesem  Punkt wird es auch wichtig, zwischen Wahrnehmung und Hören zu  unterscheiden. Wenn ich Popmusik höre, nehme ich nichts wahr – alles  klingt für mich gleich, weil ich keine Schulung habe, weil ich mich  nicht eingehört habe. Für das Wahrnehmen muß man die Differenzen  wahrnehmen können. Ich höre etwas, aber ich merke zugleich, daß ich die  Kriterien nicht finden kann, nach denen ich die Angebotsfülle der Klänge  nutzen kann. Das ist wie eine Fremdsprache. Das Hören braucht  Schulung – und die findet im Kopf statt.
Aber auch wenn wir  das Gehörte nicht entschlüsseln können, wir nehmen es wahr und können es  imitieren.
Nein, ich könnte einen Popsong höchstens  karikieren. Das ist wie bei Leuten, die einer lateinischen Messe  beiwohnen und nachher nur „Hokuspokus“ rufen, weil ihnen Hoc est enim  corpus meus so klingt. Ich bezeichne in diesem Moment der  Pseudoimitation nicht mehr die Sache an sich, sondern etwas Fremdes, dem  ich aus Unbildung nicht nahekommen kann. Genauso wäre es in meinem Fall  mit der Popmusik.
Das würde aber bedeuten, daß Hören  hauptsächlich ein logischer Prozeß ist. Wo bleibt denn da die  Sinnlichkeit, die Unmittelbarkeit der Kunst?
Natürlich  spielt sie eine große Rolle, aber auch die Sinnlichkeit will entwickelt  werden. Wenn ein Kind den Finger in ein Glas Wein tunkt und ihn ableckt,  schmeckt das fürchterlich. Es ist ein Lernprozeß nötig, um guten Wein  genießen zu können. Das gilt auch für die Gefühle. Die sind ja nicht  einfach da, sondern werden gehegt und ausgebildet.
Trotzdem  gibt es Musik, die kollektiv als schön empfunden wird, die ganz direkt  und ohne Umwege den Zuhörer trifft. Weiß ein Komponist, welche  technischen Mittel möglich sind, um durch das Hören allgemeine Instinkte  zu berühren?
Neben den gelernten Strukturen ist die Musik  natürlich auch auf rudimentäre Situationen angewiesen, auf atavistische  Regungen, die in uns anwesend sind. Ein Hören, dem wir ausgesetzt sind.  Es ist nicht nur für Musiker wichtig, sich dieser Mechanismen bewußt zu  sein, denn wenn wir so tun, als gäbe es sie nicht, können wir mit diesen  Gefühlen auch nicht umgehen. Wir müssen wissen, daß es akustische  Effekte gibt, die uns direkt treffen, um nicht denjenigen auf den Leim  zu gehen, die nur mit diesen Effekten an unsere Affekte appellieren.  Aber letztlich entsteht das „Genommenwerden“ von Kunst nicht durch einen  Effekt, sondern durch die Vielfalt, in der subtilen Abstufung von  Möglichkeiten.
Für die meisten emotionalen Reaktionen auf das  Hören bedarf es außerdem eines kulturellen Vorentscheids. Der  Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht sprach davon: Man hatte  einem afrikanischen Stamm den Trauermarsch aus Beethovens Eroica  vorgespielt. Und dort nahm man diese Musik als lustig wahr. Das zeigt:  Man braucht die kulturelle Übereinkunft, daß das, was wir gerade hören,  „pathetisch“ sei. Es muß irgendwann als solches beschriftet worden sein:  „Vorsicht, Pathos!“ Oder: „Endlich! Pathos!“ Ohne dieses Korsett  scheint die Musik nicht zu funktionieren. Den Hörer, der von nichts  weiß, der völlig unvorbereitet ist, gibt es nicht. Der Hörer, der unser  Wunsch als Musiker ist, der offen und rein kommt, um zuzuhören, was wir  ihm sagen, ist eine schöne Vision. Hörer sind immer vorbereitet.  Manchmal aber nicht auf das Gehörte.
Eggebrecht hat Sie  einmal gebeten, in einem Satz zu sagen, was Musik ist. Sie haben ihm  geantwortet: „Musik ist Freiheit, auf die Zeit gesetzte  Klangzeichenschrift, die Spur undenkbarer Gestaltfülle, Färbung und  Formung von Zeit, sinnlicher Ausdruck von Energie, Abbild und Bann vom  Leben, auch Gegenbild, Gegenentwurf – das Andere.“
Das ist  wahrscheinlich genauso hilflos wie all die anderen Versuche, der Musik  in Worten beizukommen. Was würde ich heute antworten? Vielleicht: „Musik  ist die Antwort, die uns die Frage bewußtmacht.“
An anderer  Stelle haben sie die Musik als „inneres Ausland“ beschrieben. Welche  Rolle spielt das Andere, das Fremde beim Hören?
Es gibt eine  Kategorie des anderen, auf die sich alle einigen können – die meine ich  nicht. Ich rede nicht von der Partei der anderen, denn jeder andere ist  ein anderer. Ich rede nicht von der Gestalt des anderen, wie wir sie  als Konvention übernommen haben, sondern von dem Anderen, das all das  seinerseits negiert. Ich nehme mal ein Beispiel aus meiner Biographie,  hoffentlich ohne dadurch zu falscher Mythenbildung anzuregen. Das  Skandalon, als ich zum ersten Mal in Donaueschingen aufgeführt wurde,  war nicht, daß da wieder einmal neue Musik in der Neuen Musik zu hören  war, sondern, daß Gestalten, die vertraut schienen, nur durch  Verrückungen etwas offensichtlich Neues hörbar gemacht haben. Wichtig  ist: Das war kein bewußter Prozeß – ich konnte und wußte es gar nicht  anders aufzuschreiben. 
(...)
 
   
   
   
  