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Cover Lettre International, Achim Freyer
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LI 114, Herbst 2016

Voodoo in Benin

Die Afrikanische Pistole, der Juju-Man und die untoten Toten

Thomas Knoefel: Herr Christoph, keine andere Religion wird so sehr mit Blut, schwarzen Göttern, Trance und ritueller Besessenheit in Verbindung gebracht. Man liest von hochkomplexen Orakeln, Totenkulten und Opferfeiern, die oft Tage dauern ...vielleicht können Sie die Geschichte des Voodoo skizzieren.

Henning Christoph: Das Wort „Voodoo“ wird oft mißverstanden und mißbraucht: Es kommt aus der Sprache der Fon, der Hauptethnie in Benin, und bedeutet einfach nur Gott. Es gibt den einen Schöpfergott im Voodoo – Sonne und Mond –, aber er ist viel zu fern, zu weit weg: Ich kann nicht unmittelbar mit ihm kommunizieren. Er hat auch nicht Zeit für unsere Probleme, hier auf der Welt. Aber der Schöpfergott besitzt 401 Kinder; das sind Himmels-, Erd- und Wasser-Gottheiten, und mit denen arbeitet man. Um ein paar der wichtigsten Götter zu nennen: Sakpata, der Pocken-Gott, der Krankheiten bringt und auch wieder heilt. Ogun, der Eisen- und Krieger-Gott – ein heißer Gott; Xango, ebenso heiß und zuständig für Feuer, Donner und Blitz; ganz wichtig ist Legba – der jüngste Sohn des Schöpfergottes, der Trickster: Ständig spielt er Streiche, wird unberechenbar und gefährlich; Legba ist ein Vielfraß, gierig und oversexed – aber er erst eröffnet alle Wege, ist auch der Himmelsbote! Age nennt man den Gott der Heilpflanzen, Kokou, Ganbada, Djagli sind alles Krieger-Götter, Aziza ist der Gott der Magie und des Waldes. Der Voodoo kennt unzählige Götter. Aber es sind Wesenheiten, die man „anfassen“ kann ... sie sind auf eine gewisse Weise – anders als die meisten christlichen Heiligen – auch menschlich.

Die Wiege des Voodoo ist Benin, das ehemalige Königreich Dahomey der Fon, welches nah am Reich der Yoruba liegt – hier gab es über Jahrhunderte einen Austausch: Die Götter der Fon und der Yoruba tragen oft den gleichen Namen. Für die Portugiesen war Voodoo schon immer ein Teufelsglaube; der Gott Legba, mit einem riesigen Phallus und zwei Hörnern, symbolisierte das christliche Bild des Teufels, des großen Verderbers, und mußte bekämpft, zerstört werden ... Voodoo wird bis zum heutigen Tag, selbst in Ost- und Südafrika, mißverstanden, als Hexerei und schwarze Magie verteufelt. Hollywood hat dieses spooky Image dann weiter bedient ... 

Im Grunde aber ist Voodoo ein Heil- und Schutzsystem ... nur der geringste Teil betreibt eine „Schadensmagie“, die nur angewendet werden darf, wenn sie gerechtfertigt ist und das Orakel zustimmt. Ist sie aber notwendig, um eine Ordnung wiederherzustellen, dann ist diese Magie, sagt man, auch nicht „böse“. Jemand der heilt, wird niemals Menschen Schaden zufügen – beides ist im Voodoo streng getrennt! Schadensmagier, die Azetos (die übrigens, wie auch die Priester in allen alten afrikanischen Religionen, ihre magischen Kräfte von Hexen, von weiblichen Dämonen kaufen) müssen sehr vorsichtig und sicher sein, daß ihre Arbeit vom Orakel bestätigt wird, sonst fallen die Rituale auf sie selbst zurück.

(…)

Ein Photo, das Sie aufgenommen haben, zeigt einen Mann aus Benin, der sich auf unvorstellbare Weise ein Messer quer durch den Kopf gestoßen hat – und das durch die Schädelkalotte wieder ausgetreten ist ...

Es geschah auf der Beerdigung meines Lehrers und Freundes Sossa Guedenghoue; ein berühmter Priester – jeder kannte ihn. Man hatte Angst, trotz Wächter und Schutzmagie könnten Hexen während der Zeremonie in sein Grab einsteigen. Da war ein kleiner Mann, der auf einen Schlag ganz heftig in Trance ging ... er hatte ein langes, rostiges Messer dabei, welches er sich plötzlich, im wahrsten Sinne des Wortes, durch den Kopf rammte! Er stand fast neben mir ... und auch mein Kameramann – wir drehten die Beerdigung für den Weltspiegel – und wir konnten die Szene ganz aus der Nähe aufnehmen. Die Wunde sah natürlich furchtbar aus: Das war kein Schnitt – das war ein Bruch durch die Schädeldecke! Die Priester hievten den Mann auf ihre Schultern und trugen ihn eine Stunde lang um das Grab ... er war jetzt besessen von Kokou, dem Krieger-Gott. Wenn die Männer sich im Ritual verletzen (meistens schneiden sie sich), dann um zu zeigen: Wir sind stärker als Hexen – bleibt weg! Wagt euch nicht herzukommen! Nach einer weiteren Stunde, ich war überzeugt, er ist tot – man hatte inzwischen das Messer aus seinem Kopf gezogen, die Blutung mit einem Pflanzensud gestillt und die Wunde verbunden – kam der Mann wieder zu sich ... Er war ganz klar, zeigte keine Schmerzen, und wir konnten ein Interview mit ihm machen, ein Bier zusammen trinken. Soviel ich in Afrika auch schon erlebt hatte – das hat mich umgehauen! Ich bin mit dem Filmmaterial zu einem Chirurgen, an die Universitätsklinik in Cotonou gegangen, um ihn zu fragen, wie dieser Mann überleben konnte, warum er nicht tot ist. Der lachte nur und meinte: „Henning, du bist doch lange genug in Afrika, um zu wissen, nicht der Mensch war hier in Aktion, sondern der Gott, der ihn ‘geritten’ hat.“ Und Götter können sich nicht verletzen oder sterben. Und das war die Aussage eines Arztes, der einmal in Paris studiert, also eine westliche Ausbildung genossen hatte. Ich habe den Mann, einen Bauern, im letzten Sommer wiedergesehen; es geht ihm gut, Nervenschäden oder irgendwelche Behinderungen sind nicht zu erkennen, nur die riesigen Narben, auf beiden Seiten des Kopfes. Er kann sich an nichts von diesem Tag, von dieser Beerdigung erinnern – und man darf ihm auch nichts davon erzählen: Er würde auf der Stelle tot umfallen!

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.