LI 78, Herbst 2007
Demaskiert!
Elementardaten
Genre: Erzählung
Übersetzung: Aus dem Französischen von Esther von der Osten
Textauszug
(...) Von den Schauspielern werde ich sprechen. Sie sind angekommen,  unentschieden, losgelöst, unverkleidet, ohne Rang, ohne Waffe, ohne  Eigenes. Fröhlich bereit für das Schicksal. Es gibt keine Brüder, es  gibt keinen Krieg. Er hätte als sie geboren sein können. Sie wird  vielleicht später für ihn gehalten werden heute Nacht. Sie sind  gekommen, um unbekannt zu werden. Diese Entsagung geschieht nicht ohne  Leid.
Er rührt an Sie. Seite-an-Seite-Sein. Erodersie ist jemand,  der für eine gewisse Zeit (Stunden, Tage), nicht mehr ist. Nicht mehr  Ich ist. Folgen wir dem furchteinflößenden Ritus. Zuerst ist es  vonnöten, daß er oder sie sich seiner selbst entledigt, sich entäußert,  sich anstarrt, bis des Gesichtes bar er oder sie fast niemand wird:  jetzt setzt ersie vor dem Spiegel eine Maske auf. Dies ist  (k)eine Metapher: „Persona“ setzt eine der Masken auf, der magischen  Figuren, die aus Bali oder Italien kommen, stets dieselben. Vielleicht  gibt es nur eine einzige Maske, die aus all diesen Masken entsteht. Die  Maske ist sehr stark, mit riesig großen Zügen, eine lange Nase,  vorstehende Zähne, dichtbuschige Brauen. Sie muß nämlich ihre Kräfte  aufbieten, um das Gesicht des Schauspielers zu bekämpfen, es in die  Flucht zu schlagen, rasch ein völlig fremdes Gesicht aufzuzwingen.
Wenn  die Person ihre Maske zum Spiegel wendet mit ihren eigenen Augen  erkennt sie sich nicht mehr. Er-sie erkennt sich auch nicht in der  Maske. Die Maske ist da, um das Ich daran zu hindern, sich an seinem  Gesicht zurückzuholen. Sie ist apotropäisch: Sie vertreibt das Ich.  (Später wird die Maske ersetzt werden können durch eine Schminke von  heiterer Schönheit.) Es gibt niemand Bekanntes da vorn. Die Trennung  vollzieht sich. Erste Phase der Niederkunft. Jetzt wird die großartige  und schmerzvolle Geburt geschehen. Lang ist die Arbeit. Für den Moment,  hinter der Maske, hechelt eine Abwesenheit. Der innere Raum ist frei für  den anderen. Für das Kommen Heinrichs V., Desdemonas oder von König  Lear. Ja: Die eine, der eine oder andere, der Raum ist bereit, sie zu  empfangen, ohne Unterscheidung nach Geschlecht, Alter oder Herkunft. Es  gibt kein Eigenes.
So geht es mit der sterblichen Hülle von  ihm-ihr, großzügige Haut, ergeben in den Vorgang der Inkarnation. Was  geschieht in diesem empfindenden Gehäuse, ganz Ohr, noch unbewohnt?  Gespannt, Gehör, wartet es. Daß die Figur kommen möge. Königin oder  Mörder, alles ist möglich. Oder eine Mischung. Daß der innere Fremde  kommen möge, auf Marionettenschritten, es entleihen, es prägen, es  beeindrucken. 
Gäbe es einen Rest von Ich, von Identität, von  Sorge, von Gedächtnis im Schauspieler, gäbe es beschäftigte Unruhe, dann  vollzöge sich das Zur-Welt-Kommen nicht. (Manchmal geschieht es, daß  verkrampft, von Angst gepackt, betört vom Dämon der Ungeduld und des  Mißtrauens, die Maske die Erwartung verrät und eilig eine fabrizierte  Figur auf die Bühne wirft, die unverzüglich nach Schande und Betrug  riecht. Doch ein Simulakrum kann nicht dauern.) 
Die Erwartung  ist weder erstarrt noch eigenwillig. Sie ist aufmerksam, offen, gegeben.  Schmerzhaft, denn sie ist Passion, doch auch Verheißung des Kommens.  Stumme Anrufung: Komm! Komm! Und dann, in der fruchtbaren Nacht, die  sich zwischen dem Text des Stückes und den noch unbewohnten Körpern  erstreckt, wagen die Seelen der Figuren sich vor. Sie sprechen. Ich weiß  nicht genau, was dann geschieht. Die Seelen der Figuren sprechen den  Körpern ins Ohr. Und dann gibt es Kontakt zwischen der einen und dem  anderen, ein innerer Kontakt, der nicht einfach Berührung ist, sondern  er druckt, er prägt die Trägersubstanz – das Subjektil, würde Jacques  Derrida sagen –, prägt die Wahrheit selbst von Cordelia oder Macbeth in  das lebendige Gewebe dieses jemand ein (der keine Frau ist, der kein  König ist), der ein Mutter-Jugendlicher ist ohne jegliche historische  Erfahrung und jedes akademische Wissen, er-sie ist weder gelehrt noch  unwissend, noch auswählend, noch analytisch, es ist ein Ja, er-sie ist  in der absoluten Zustimmung. Innerlich. Sein Inneres ist Zustimmung. Höre,  oh höre raunen, was da kommt. Das ganze Theater ist noch  jungfräuliches Ohr.
Jetzt: tritt die ungeheure Figur ins demütige  Innere ohne Ich. Und plötzlich steigt ein unbekanntes, nie gesehenes,  einzigartiges Gesicht auf das Antlitz des Schauspielers, unter der  Wirkung der heftigen Leidenschaften der Figur. So ist es: Es kommt über  das entblößte Gehäuse eine Transfiguration. Und wir sind alle erstaunt  darüber. Denn hier ist Hamlet, und ich sehe ihn zum ersten Mal, und ich  hatte ihn mir nie so vorgestellt. Ich erinnere mich an meine  Überraschung, als ich Orest sah. Er war gerade erschienen (oder  auferstanden), und da machte ich erste Bekanntschaft mit ihm. (Wenn ich  unglücklicherweise eine Figur „wiedererkenne“, dann hat sich der  Schauspieler einer vulgären Kopie von Reproduktionen hingegeben.) 
Und  nichts verwehrt, daß ein Frauen-Gehäuse die Transfiguration einer  männlichen Figur empfängt. Denn hier, in diesem Königreich, das sich  jenseits der Gegensätze und Ausschlüsse erstreckt, weiß man wohl, da man  es oft erfahren hat, daß es die Seele (das heißt das Herz) und ihre  Befindlichkeiten sind, die das Gesicht, die Stimme, die unerklärliche  und komplizierte Wahrheit eines menschlichen Geschöpfes ausmachen. So  kann ich eine andere sein, ein anderer sein, der ich selbst nicht bin?  Wer also wollte in dem menschlichen Schmelztiegel, worin wir sind, an  der „Gleichheit der Geschlechter“ zweifeln? Wer denkt überhaupt daran?  Das Geschöpf ist: Jedes Geschöpf enthält unendliche Möglichkeiten, ein  anderes zu sein. Eine Möglichkeit ist soviel wert wie eine andere.  Unsere innere Welt, reduzierte sie sich auf ein Ich und ein Geschlecht,  welch langweiliges Stück, welche Sterilität. Es liegt an uns, bevölkert  und bezaubert, voll Gesang zu sein. Doch dazu braucht es den schwierigen  Mut, die Last des Ich abzuwerfen und sich unwägbar, ohne Gewicht auf  die himmlische Bühne fallen zu lassen.
Das Gewicht des Ich  abwerfen, doch nicht die Erinnerung und auch nicht die Spur. Denn er-sie  wird nicht einfach ein ganz-anderer. Der feinste und kostbarste Zug der  Transfiguration, ohne den es weder Freude noch Lernen gäbe, ist, daß  ich-ein-anderes (Geschöpf)-sein-kann, das ich-nicht-selbst-bin: Dies ist  vielleicht die schönste der Erfahrungen, sich die Chance und den Genuß  zu eigen machen zu können, eine andere Person zu sein, wissend, daß ich  nicht die andere bin, sondern der empfindende Ort der anderen, und daß  ich-anderer stattfindet. Für eine gewisse Zeit zumindest.
Denn  dieser Zustand der äußersten Grenze dauert nur, solange er gespielt,  gehandelt, geschaffen wird. Und solange die Schauspieler in den heiligen  Mauern bleiben. Doch in dieser Zeit bin ich die beiden, bin ich eine  andere Person, die zugleich mein nicht-diese-andere-Sein -bewahrt.  Deshalb zittert der Schauspieler stets ein wenig, in der Furcht, nicht  genug, zuviel, nicht richtig genug, zu schwerfällig der andere zu sein.  Unablässig retuschiert er das Geschöpf. Es handelt sich insgeheim um  Hochzeit, um Liebe. Zwischen dem Schauspieler und der Figur. Um sublimen  Respekt. „Bin ich genug du und nicht zu viel? Liebe ich dich richtig?“  fragt der Schauspieler die Figur.
In diesem unablässigen Bemühen  darum, genau nicht mehr nicht weniger zu sein, begegnet man dem Punkt  absoluter Nichtaustauschbarkeit, wo die sexuelle Differenz spürbar wird.  Am Kontaktpunkt ist der Abstand gelegen, winzig und zugleich  unüberbrückbar, der uns trennt und uns als zwei bewahrt, zusammen, ganz  zwei zusammen, alle zwei, alle beide zusammen. Wie wenn wir uns die  Liebe machend dahin gelangen, das Unbekannte zu kosten.
Alle  haben wir eines Tages im Dunkel einer Kindheit Lust gehabt, „Theater zu  machen“: sterben zu gehen und als Phädra oder als Junge neugeboren zu  werden. Den erschreckenden Genuß zu erleiden, heimgesucht zu werden. Und  wenn wir es nicht getan haben, dann weil wir Angst hatten, in den  anderen hinüberzugehen und nicht zurückzukehren. Doch wir sind am Rande  dieser gefährlichen und prophetischen Neugier geblieben. Wir erinnern  uns, den Wunsch gehabt zu haben, Du zu sein, ein Leben lang. Deshalb  gehen wir ins Theater mit der glücklichen Erregung dessen, der sich  davon bedroht weiß, transfiguriert zu werden. Wer weiß, vielleicht werde  ich nachher du sein, in der fruchtbaren Nacht? 
(...)
 
   
   
   
  