LI 71, Winter 2005
In der Rub al-Khali
Beduinenkultur oder vom Elend der Bücher im Leeren ViertelElementardaten
Textauszug
„Der Beduine begnügt sich mit der Befriedigung seiner  Bedürfnisse. Der Seßhafte sucht Komfort und Luxus.“ 
Ibn Chaldun
Der Süden der Arabischen Halbinsel gehört zu den lebensfeindlichsten  Regionen der Erde. Seine wüstenartigen Küsten grenzen im Westen an das  Rote Meer, im Süden an das Arabische Meer, im Südosten an den Golf von  Oman und im Osten an den Arabisch-Persischen Golf. In seiner Mitte liegt  das größte wasserlose Wüstengebiet der Erde, Rub al-Khali, das  sogenannte „Leere Viertel“.
Beim Anflug auf den internationalen  Flughafen von Maskat, der Hauptstadt von Oman, sieht man es im Dunst  hinter den wie von einer geschickten Maniküre zurechtgefeilten  Bergspitzen des Hadschargebirges mit seinen weiß leuchtenden  Schotterebenen, die von breiten wasserlosen Wadis durchzogen sind.  Dahinter erstreckt sich die für Mensch und Tier gefährliche Salzsenke  Umm al-Samim.
Doch statt auf schwankendem Kamelrücken in  wochenlangen ermüdenden Märschen nähert sich der Reisende dieser  legendären Wüste heute im komfortablen, gekühlten PKW über eine  kreuzungsfreie Autobahn. Entlang gepflegter Oasenstädtchen mit akkurat  restaurierten Burgen, Wehrtürmen und Stadtmauern in mustergültigen  Palmenhainen gelangt man bis zum Zusammentreffen der großen  Wüstenstraßen bei Firq, die nach Norden in Richtung Vereinigte Emirate  und nach Westen in Richtung Dhofar führen. Diese Allerweltskreuzung mit  Tankstelle, Supermarkt und Motel hat das ehemalige Tor zur Rub al-Khali,  die Oasenstadt Adam mit ihren in mächtigen Lehmmauern versteckten  Wohnhäusern, abgelöst. Schon die Offenheit der Raststätte im Vergleich  zu der vor räuberischen Beduinenstämmen geschützten Festung demonstriert  die beeindruckenden gesellschaftlichen Veränderungen in diesem Teil  Arabiens.
Die Landschaft wird topfeben. Die Salzbüsche, Grundnahrung  der Kamele, wachsen immer spärlicher, dann verschwinden sie vollständig.  
Die aus den siebziger Jahren stammende zweispurige Fahrstraße  wird ständig gewartet und an besonders gefährlichen Stellen immer wieder  neu angelegt. In der Ferne bilden viele Bohrtürme, Strommasten oder  GPS-Stationen die einzigen vertikalen Sichtachsen. Ab und an weist ein  Schild in arabischer Schrift auf Bauarbeitercamps, Tankstellen mit  beigeordneten Moscheen, Picknickpavillons, Wanderdünen, kreuzende  Wildkamele oder mögliche Überschwemmungsgefahr in einem Wadi hin. Ihr  regelmäßiges Auftauchen vermittelt den Eindruck von Umsorgtheit,  Sicherheit und Kontrolle. Hier wird niemand seinem Schicksal überlassen,  signalisieren sie. Ständig spazieren einzelne Personen oder Grüppchen  entlang des Asphaltstreifens am Rande des „Leeren Viertels“. Sie  vermessen, sammeln Müll auf, bessern den Straßenrand aus, beseitigen  Sandanhäufungen oder vertreten sich in kilometerlangen Märschen die  Beine nach einem rituellen Gebet am Straßenrand. Der nicht sehr starke  Verkehr aus Lastwagen, Bussen, Militärkonvois, Pick-ups und  Personenwagen reißt jedoch nie ab. Die Wüste, die am Fenster  vorbeizieht, wirkt dadurch noch unrealistischer, weniger kahl und weit.  Es hat den Anschein, als könnte sie mit ihrer sonstigen vernichtenden  Gewalt gerade diesen kleinen schmalen Streifen zivilisatorischen Glücks  nicht erreichen. 
Auf 1 300 Kilometern bilden drei kleine  festungsartige Rasthäuser die eigentlichen Höhepunkte dieser  Wüstenfahrt. Ihr Vorbild sind die ehemaligen Karawansereien, gesicherte  Übernachtungshöfe für Tiere, Menschen und Waren. Auch heute noch sind  die staatlichen Rasthäuser von Ghaba, Ghaftain und Qatbeet von Mauern  umgeben. Aber sie müssen keine feindlichen Angriffe raublustiger  Beduinen abhalten, sondern sie sollen bloß der unaufhörlichen  Zersetzungskraft des Sandes einen kleinen Widerstand entgegenstellen.
Im  Inneren der Mauern versuchen Akazien und Palmen tapfer gegen Hitze,  Staub und Wassernot anzukämpfen, um wenigstens den Eindruck einer  schattigen Oase zu erwecken. Das Rasthaus wirkt mit seinen fensterlosen  Wänden und einer schweren Eingangstür wie eine Trutzburg. Die Zimmer  jedoch bieten jede Art von modernem Komfort: fließendes kaltes und  warmes Wasser, Satellitenfernsehen, Klimaanlage und Heizung. Nur der  Becher milchig-süßen Tees, den der indische Diener im Innenhof unter den  Oleanderbüschen serviert, erinnert in seiner luxuriösen Einfachheit an  den allgegenwärtigen Mangel, den das Leben ehemals in der Wüste  bedeutete. Hunger und Durst, die ständigen Begleiter der Beduinen und  anderer Reisender, zeichneten das Lebensgefühl in diesen sandigen Weiten  aus. 
Zwischen dem Rasthaus und der Tankstelle befindet sich ein  kleines Ladengeschäft mit einer riesigen vielversprechenden Aufschrift:  „Foodstuff & Luxuries“, Nahrungsmittel und Luxuswaren. In  seinem Inneren kann man fast alles erwerben, was die Einheimischen für  „notwendig & begehrenswert“ halten. Zur ersten Kategorie gehören  unter anderem in Plastikflaschen abgepacktes Trinkwasser, Speiseöl,  Reis, Brot, Zucker, Salz, Fischkonserven und getrocknete Datteln.  Daneben stehen auf staubigen Regalbrettern die Luxusartikel: Kaffee,  Parfümflakons in bauchiger oder schlanker Form mit türkisfarbenem, rosa  oder amberfarbenem Inhalt, Weihrauch in Klumpen und Splittern, Kolliers  und Armbänder, Ohrringe und Broschen aus Gold, Silber oder Billigmetall,  belegt mit wertvollen Steinen oder Glasperlen, bunte Nippesfiguren und,  als Höhepunkt des Angebots, Schokoladenzuckerzeug gegen den „kleinen  Hunger“ und internationale Limonaden gegen den „großen Durst“. Manchmal  findet man zwischen all diesen mundwässernden Verlockungen auch  Billiguhren, ein Transistorradio, ein paar veraltete Action-Videos oder  Musikkassetten. Was es jedoch hier nicht zu kaufen gibt, sind  Druckerzeugnisse, weder Zeitschriften noch Schulbücher noch  Unterhaltungsliteratur. Nur ein Werk stellt auch hier die Ausnahme zur  Regel dar. Man findet in diesen „Ali-Baba-Höhlen des glücklichen  Konsums“ einige abgegriffene Koran-Ausgaben, als Kurzversion zum Reisen  oder als integralen Text für zu Hause.
Nach Ansicht der  allermeisten Omani, gleichgültig ob sie des Lesens und Schreibens kundig  oder Analphabeten sind, ist der Besitz dieses einen Buches völlig  ausreichend. Denn so steht es bereits in „Surat Ya-Sin“, der „Sure vom  Offensichtlichen“, geschrieben: „… und von allem berichten wir in  einem einzigen, alles erklärenden Buch“. Es sei dahingestellt, ob  diese jahrhundertealte Einsicht ins „Offensichtliche“ bei den Beduinen  der südlichen arabischen Halbinsel durch massiven Druck oder Überzeugung  hervorgerufen wurde. Denn die Herrscher über das damalige Territorium  Ghubaira, dem heutigen Oman, die Brüder Jaufar und Abd al-Julandi,   erhielten im Jahr 630 einen Brief von einem bis dahin eher unbekannten  Kaufmann, Abu al-Kasim, genannt Mohammed. Er forderte in  vorweggenommenem Größenwahn die Herrscher von Byzanz, Äthiopien,  Persien, Ägypten, Jemen und eben auch des kleinen Oman auf, sich zur „neuen  Religion aller Gläubigen“ zu bekehren. „Wenn Ihr Euch zum  Islam bekehrt, werde ich Euch dazu ermächtigen, zu herrschen, und wenn  nicht, wird Eure Herrschaft vorbei sein, und meine Pferde werden Eure  Gebiete überrennen, und meine Prophezeiung wird wahr werden.“ Ohne  das Ergebnis der Drohung abzuwarten, bekehrten sich die Brüder zum  Islam, und mit ihnen ihre Untertanen. Doch schnell entschieden sie sich,  der neuen Glaubenslehre ein eigenes Gesicht zu geben. Sie wurden zu  Anhängern des in Basra predigenden Ibn Ibad, der die Auffassung vertrat,  daß jeder gläubige Muslim, der eine religiöse Ausbildung genossen habe,  zum weltlichen und religiösen Oberhaupt gewählt werden könne, und nicht  nur die nahen oder fernen Verwandten des Propheten.
(…)
 
   
   
   
  