LI 73, Sommer 2006
Autobomben
Die Waffen für den kleinen Mann - Geschichte einer WeltkarriereElementardaten
Genre: Essay, Historische Betrachtung
Übersetzung: Aus dem Englischen von Herwig Engelmann
Textauszug
„Ihr habt kein Erbarmen mit uns gezeigt! Wir werden es genauso  machen. Wir werden euch in die Luft sprengen!“ – Anarchistische  Drohbotschaft, 1919
An einem warmen Tag im September 1920, einige  Monate nach der Verhaftung seiner Genossen Sacco und Vanzetti, stellte  ein rachsüchtiger italienischer Anarchist namens Mario Buda seinen  Pferdewagen unweit der Kreuzung Wall Street und Broad Street ab, direkt  gegenüber der Bank J. P. Morgan Company. Buda stieg in aller Ruhe vom  Wagen und verschwand unbemerkt in der Menge der Leute, die soeben zum  Mittagessen aus ihren Büros kamen. Ein paar Häuserblocks weiter fand ein  erstaunter Postangestellter Zettel mit der Forderung: „Laßt die  politischen Gefangenen frei, oder der Tod ist euch allen sicher!“ Gezeichnet  war die Warnung von „amerikanischen anarchistischen Kämpfern“.  Die Glocken der nahegelegenen Trinity Church begannen zwölf Uhr zu  schlagen. Als sie verstummten, explodierte der Pferdewagen mit seiner  Ladung Dynamit und Schrott wie ein Feuerball aus Schrapnell.
„Das  Pferd und der Wagen wurden in Stücke gerissen“, schreibt Paul  Avrich, der Historiker des amerikanischen Anarchismus, der die  Geschichte des Anschlags rekonstruierte. „Glasscherben rieselten aus  den Fenstern der Büros, und noch zwölf Stockwerke über der Straße  fingen die Markisen Feuer. Die Leute flohen in Panik, als eine riesige  Staubwolke die Gegend einhüllte. In der Wertpapierabteilung der Bank  brach Thomas Joyce unter Trümmern aus Gips und Mauersteinen an seinem  Schreibtisch tot zusammen. Die Straße war mit unzähligen Toten übersät.“
Mario  Buda war bestimmt enttäuscht, als er erfuhr, daß J. P. Morgan selbst  nicht unter den vierzig Toten und mehr als 200 Verletzten war: Der große  Räuberbaron weilte auf der Jagd in Schottland. Aber es war Buda, dem  armen Einwanderer, gelungen, mit etwas gestohlenem Dynamit, einem Haufen  Metallschrott und einem alten Pferd unvorstellbaren Schrecken über den  heiligen Bezirk des amerikanischen Kapitalismus zu bringen.
Budas  Wallstreet-Bombe war der Höhepunkt eines halben Jahrhunderts  anarchistischer Phantasien von Racheengeln aus Dynamit. Wie die  Differenzmaschine von Charles Babbage war sie der Vorstellungskraft  ihrer Zeitgenossen weit voraus. Erst als die Barbarei strategischer  Bombardements zur Gewohnheit wurde und als Kampfflugzeuge Aufständische  bis in die Labyrinthe städtischer Armenviertel verfolgten, konnte sich  das radikale Potential von Budas „Höllenmaschine“ entfalten.
Sein  Pferdewagen war im wesentlichen der Prototyp der Autobombe: Zum ersten  Mal transportierte jemand mit einem unauffälligen Fahrzeug, das in fast  jedem urbanen Umfeld anonym blieb, große Mengen Sprengstoff in  unmittelbare Nähe eines hochrangigen Angriffszieles. Meines Wissens  wurde dieses Verfahren erst wieder am 12. Januar 1947 angewendet, als  die Stern-Bande einen Lastwagen voll Sprengstoff vor einer  britischen Polizeistation im palästinensischen Haifa in die Luft jagte,  vier Menschen tötete und 140 verletzte. Die Stern-Bande (eine  faschistische Abspaltung von der rechtsgerichteten, paramilitärischen,  zionistischen Irgun) setzte kurz darauf weitere Auto- und  Lastwagenbomben ein, um Palästinenser zu töten – eine mörderische  Kreativität, die von britischen Deserteuren im Dienst des  palästinensischen Nationalismus alsbald erwidert wurde.
Danach  kamen Bomben in Fahrzeugen eher sporadisch zum Einsatz. Sie richteten  1953 in Saigon, 1962 in Algier und 1963 in Palermo denkwürdige Massaker  an. Endgültig aufgestoßen wurde das Tor zur Hölle im Jahr 1972, als die provisionals  der Irisch-Republikanischen Armee rein zufällig, wie es heißt,  die erste Autobombe aus Ammonsalpeter und Heizöl zusammenbastelten.  Derartige ANFO-Bomben erfordern nichts als Kunstdünger und andere  gewöhnliche, industriell erzeugte Zutaten. Sie sind billig herzustellen  und von erstaunlicher Sprengkraft. Sie haben den urbanen Terrorismus vom  handwerklichen auf ein industrielles Niveau gehoben und anhaltende  Bombenkriege gegen ganze Stadtzentren ermöglicht. Sogar Hochhäuser aus  Stahlbeton und ganze Wohnblocks sind ihnen zum Opfer gefallen.
Die  Autobombe entwickelte sich also plötzlich zu einer halbstrategischen  Waffe, deren Feuerkraft unter bestimmten Voraussetzungen der einer  Luftwaffe entsprach. Mit ihr ließen sich urbane Knotenpunkte lahmlegen,  militärische Hauptquartiere zerstören und die Bevölkerung ganzer Städte  in Panik versetzen. Die Lastwagenbomben, die 1983 die US-Botschaft und  die amerikanische Marinekaserne in Beirut zerstörten, waren – in  geopolitischer Hinsicht – der geballten Feuerkraft aller Kampfflugzeuge  und Kriegsschiffe der 6. US-Flotte überlegen. Sie zwangen die  Regierung Reagan zum Rückzug aus dem Libanon.
Im Libanon der  achtziger Jahre ging die Hisbollah ebenso rücksichtslos wie  brillant mit Autobomben gegen die überlegene Kriegstechnik der  Vereinigten Staaten, Frankreichs und Israels vor. Das ermutigte ein  Dutzend anderer Gruppen, ihre jeweiligen Aufstände und heiligen Kriege  in der Hauptstadt auszutragen. Unter den Bombenbauern der jüngeren  Generation waren einige Absolventen der Terrorschulen, die vom CIA und  vom pakistanischen Geheimdienst ISI mit saudischer Finanzhilfe seit  Mitte der achtziger Jahre Mudschaheddin für den Terrorkrieg gegen die  damaligen russischen Besatzer in Kabul ausbildeten. 16 größere Attentate  mit Fahrzeugbomben in 13 Städten gab es zwischen 1992 und 1998. Dabei  starben 1 050 Menschen, und fast 12 000 wurden verletzt. In  weltpolitischer Hinsicht noch wichtiger war, daß es der IRA und der  Gruppe Gamaa al-Islamiyya mit Terroranschlägen gelang, in den  beiden wichtigsten Steuerungszentren der Weltwirtschaft – London (1992,  1993 und 1996) und Manhattan (1993) – Milliardenschäden anzurichten und  das globale Versicherungswesen auf den Kopf zu stellen.
85 Jahre  nach jenem ersten Massaker an der Wall Street sind Autobomben auf der  Welt fast so allgegenwärtig wie iPods und Aids. Von Bogotá bis Bali  reißen sie tiefe Krater in die Straßen der Großstädte. Inzwischen sind  auch die Selbstmordattentate mit Autobomben kein unverwechselbares  Markenzeichen der Hisbollah mehr, sondern längst auch für Sri  Lanka, Tschetschenien, Rußland, die Türkei, Ägypten, Kuwait und  Indonesien lizensiert. In jeder statistischen Darstellung des urbanen  Terrorismus steigt die Kurve der Autobomben sehr stark – beinahe  exponentiell – an. Der Irak hat sich unter amerikanischer Besatzung zu  einer wahren Hölle des Autobombenkrieges entwickelt. Über 9 000 Menschen  – die meisten davon Zivilisten – sind dort zwischen Juli 2003 und Juni  2005 bei Bombenanschlägen mit Fahrzeugen gestorben, und seither hat die  Häufigkeit solcher Anschläge noch dramatisch zugenommen. Im Herbst 2005  waren es durchschnittlich 140 pro Monat, und am 1. Januar 2006 gingen  allein in Bagdad 13 Autobomben hoch. Während auch schlichte  Eigenbaubomben am Straßenrand ein wirksames Mittel gegen gepanzerte  Fahrzeuge der US-Armee sind, gibt es nichts Besseres als Autobomben,  wenn es darum geht, schiitische Zivilisten vor ihren Moscheen oder auf  Märkten niederzumetzeln und so einen apokalyptischen Krieg der  Konfessionen anzuzetteln.
Umzingelt von Waffen, die sich vom  gewöhnlichen Autoverkehr nicht unterscheiden lassen, ziehen sich die  Apparate der Verwaltung und Finanz hinter „stählerne Gürtel“ und in  „grüne Zonen“ zurück. Darüber hinaus scheint es kein wirksames Mittel  gegen die Autobombe zu geben. Zwar gelten unsere „schlimmsten  Befürchtungen“ eventuell gestohlenen Atombomben, Sarin und Anthrax; das  tägliche Handwerk des städtischen Terrors aber ist immer noch die  Autobombe.
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