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Lettre 149 / Pavlo Makov
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Inhaltsverzeichnis

LI 149, Sommer 2025

Edaphischer Raum

Erde, Kruste, Untergrund — Meditation über den Boden

Hand - Schrift

Auch wenn das Jahrhundert der Genetik eine andere Auffassung bevorzugt, so existiert doch eine lange Reihe von Evidenzen und Erfahrungen, wonach das Gedächtnis, das kulturelle wie das individuelle, die Hauptquelle dafür ist, warum Individuen zu dem werden und schließlich das sind, was sie sind. In jeder Wahrnehmung wirkt die Erinnerung daran, was wir früher wahrgenommen haben. In jedem Partikel von Wissen, den wir besitzen, bewahren sich sehr viel ältere Erkenntnisse auf. Unser Handeln fußt auf einst gemachten Erfahrungen. Und in jedem unserer Gefühle, ob Angst, Trauma oder Glück, werden frühere Gefühle lebendig. Jeder gegenwärtige Augenblick reicht mehr oder weniger weit zurück, ist von Vergangenheit durchtränkt.
     Gesehenes, aufbewahrt vom Gedächtnis, kann unter bestimmten Bedingungen, die etwas mit der allgemeinen und persönlichen Geschichte zu tun haben, im Lauf eines Lebens zu Phantasmen oder einer Art von Vision werden. In seiner dem eigenen Willen nicht verfügbaren Wiederkehr beginnt man, etwas zu sehen, vielleicht zeigt sich aber auch etwas darin, das dem Ursprungsmoment noch verborgen blieb. Die Dunkelheit dieses Moments beginnt sich erst auf dem Weg der Erinnerung zu lichten und manchmal visionär oder bedrängend zu werden.
     Ein solches Bild, gewissermaßen eine ikonische Initiale, zeigt für mich die Hände jener Groß­eltern, deren Leben darin bestand, einen Bauernhof zu führen, mit nicht mehr als drei Kühen, zwei Schweinen, Hasen, Enten, Hühnern und, weil es eine Vorliebe des Großvaters war, noch ein paar Bienenvölkern. Eine typische und bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts anzutreffende Subsistenzlandwirtschaft, von der zehn bis zwölf Personen lebten. Doch um genau zu sein: die vom Grund und Boden lebten, den sie bebauten, von dem die Tiere, mit denen man buchstäblich Wand an Wand und unter einem Dach lebte, ernährt wurden. Bebauen und ernähren bedeutete für diese bäuerliche Lebensweise: Hände und Boden zu verbinden, dort, wo Leben auf Materie trifft. 
     In der Erinnerung der anzestralen Hände entpuppe ich mich als neuronaler Bildträger. Verantwortlich dafür ist eine Besonderheit, die mir danach nie wieder begegnete. Die Innenflächen der Hände meiner Bauerngroßeltern nämlich waren voll dunkler Furchen, ähnlich wie sie der Großvater, die Kühe in Ermangelung von Pferden oder eines Traktors vor den Pflug gespannt, durch die Äcker zog. Über die Jahrzehnte harter Arbeit waren die Handlinien tief geworden, der tägliche Umgang mit dem Boden hatte sich darin eingegraben, unabwaschbar. Das visionäre Bild: Die Lebenslinie war voll Erde, voll nahezu schwarzem Riedboden. Wie ein Schriftzug. In diesem Schriftzug hatte sich die neolithische Bedingung über Jahrtausende fortgeschrieben, die Festsetzung auf einem Stückchen Erde, von Pflanzen und Ernten, Düngen und Bodenbearbeiten. Der kosmisch-biologische Kreislauf. 
     Abseits postmoderner Chiffren hatte sich das Reale in den Körper eingeschrieben. Die Nostalgie dieses Schriftzugs sollte gleichwohl noch während ihrer Lebenszeit hervortreten, im Zeichen der totalen Technisierung einer industriellen Landwirtschaft, die ihrerseits Teil einer epochalen Verwandlung von Biotopen in Technotope war. Inzwischen führen wir ein Dasein in einer durchwegs technotopischen Zivilisation mit sauberen und seit der Pandemie desinfizierten Händen.

(…)

Obwohl die Erde, der Boden unter den klassischen vier Elementen traditionell keine dramatisch erstrangige, imaginationsführende Rolle spielt – Wasser und Feuer eröffnen da weitaus spektakulärere Vorstellungsräume von Sintfluten und Weltbränden –, tritt innerhalb abendlän­discher Denkgeschichte die Risikoerfahrung von fluidem wie auch aviatischem Wissen gegenüber dem Grund und Boden allmählich in ihrer Bedeutung zurück. Das Bewußtsein von etwas, das allem seinen Halt gibt, stützte sich dabei nicht ausschließlich auf die Evidenz der Gesten des Stehens und die Formen des Siedelns und Bodenbebauens. In einer selbstreflexiven Bewegung ließ die philosophische Recherche in ihren Bemühungen nicht nach, von Parmenides bis Descartes nach einem sicheren Seinsboden für alles Erscheinende und Zufällige zu suchen. Nicht nur bei Schopenhauer und Heidegger blieb die Frage nach dem „Wesen des Grundes“ (Heidegger) virulent. Denn stets ging es ja um das Entscheidende, nämlich sich innerhalb der existentiellen Unsicherheit des menschlichen Daseins eine verläßliche Basis des Denkens und Weiterbestehens zu verschaffen. 

(…)

Als Boden, Erdhaut (Geoderma), gilt im allgemeinen die oberste Erdschicht, worin in einem geologischen, chemischen und biologischen Zusammenwirken ein Stoffwechsel organischer und anorganischer Materien und Körper stattfindet. Das führt in einem Zeitraum von Jahrmillionen zu einer unfaßbaren Vielheit und Mannigfaltigkeit an Lebewesen. In einer Handvoll gutem Boden leben mehr Organismen, als Menschen die Erde besiedeln. Heute gelangt die Forschung zu der Einschätzung, ungefähr zwei Drittel der Vielfalt an irdischen Lebewesen finde sich im Boden. Phantastische Figuren: Asseln, Springschwänze, Milben, Fadenwürmer, Hundertfüßler, Rädertiere. ­Bizarre Gestalten, die anmuten, als wären sie einem Pandämonium des Unterbewußten entsprungen. In Wahrheit bildet der Untergrund, den sie krabbelnd, bohrend und kriechend bevölkern, keine Zone der Bedrohung, sondern eine Welt intensiven Lebens. Organismen, Sedimente, Feuchtigkeit verbinden sich zusammen mit Myzelien, Wurzelgeflecht und Bodenmatrix zu einem Integral von Austausch und convivir. Ein biosymbiotischer edaphischer Raum.

(…)

Aus dem Bewohnen des vertrauenswürdigen Erdbodens entfaltet sich die Gewißheit, eine Zukunft zu haben. Wurzeln schlagen zu können. Das erschütternde Gefühl der Bodenlosigkeit rührt aus diesem archaischen, bodenständigen Wissen. Tatsächlich entspricht jenes lebensweltliche Bewußtsein, ob bodenständig (Heidegger) oder bodenlos (Flusser), einer über die meiste Zeit der Geschichte dominanten Wirklichkeit zutiefst bodengebundener, sprich agrarischer Lebensformen. Bei näherer Betrachtung der postagrarischen, industriellen und postindustriellen Gesellschaftstypen neuerer Zeit sticht indessen hervor, daß der Boden mit seinen gelebten Bezügen von Fruchtbarkeit, Ernährung, Festigkeit, Einwurzelung und Tragfähigkeit größtenteils aus der Erfahrungsunmittelbarkeit verschwindet.

(…)

Solo-Gesellschaft und gemeinsame Konsole

Wem gehört der Boden? Der Satz entfaltet seinen geschichtlichen Sinn im Rahmen von Landschaften. Landschaften stellen seit jeher, streng genommen, Laboratorien dar, Arbeits- und Versuchsräume. Ihr zentrales Ereignis, unendlich wiederholt, liegt darin, das natural-soziale Beziehungsgefüge intakt zu halten und behutsam neu zu arrangieren, gemäß einem Ethos der wechselseitigen Verbundenheit. Der Boden stellte das Fundament bereit, ohne den kein Leben und keine Beziehung zu anderem Leben möglich ist. Er bildet die transzendentale Bedingung des Bios und in letzter Konsequenz der menschlichen Kultur.
     An der Frage, wem der Boden gehört, entzündeten sich regelmäßig Aufstände und Kriege. Eine der ersten politischen Erzählungen, die ich in meinem Leben zu Ohren bekam, verbindet sich direkt damit. Denn in dem Dorf der bäuerlichen Großeltern hatte der süddeutsche Bauernaufstand, der im Deutschen Reich des 16. Jahrhunderts ein politisches Beben auslöste, seinen Anfang genommen, was man, nicht zuletzt der schmerzhaften Folgen wegen, nie mehr vergessen hatte (auch wenn sich die ersten widerständigen Bauern nicht, wie mir in einer hartnäckigen Familienlegende gesagt wurde, im Haus der Großeltern trafen, denn das wurde erst ein Jahrhundert später während des Dreißigjährigen Kriegs errichtet).

(….)

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Die kommende Ausgabe Lettre 150 erscheint Ende September 2025.