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Lettre International 135, Jaybo Monk
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Inhaltsverzeichnis

LI 135, Winter 2021

Landschaftsentfaltung

Eine Geschichte vom Vorstellen und Herstellen natural-sozialer Räume

(…)

Wie erleben wir Landschaft? Warum wirken Landschaften so faszinierend? Was ist so besonders daran, durch ein Hochmoor zu streifen oder an Feldgehölzen entlang zu spazieren? Landschaften verlocken, befremden, ergreifen oder erwecken Schauder in uns. Seit jeher wurden sie als Objekte von Bezauberung und Angst erlebt. Ob an Stränden, in Tundren oder Waldgebieten, gerade heute ist ihre Anziehungskraft trotz moderner Urbanisierung ungebrochen. Woran liegt das?
     Anders als Natur, die idealerweise als ein eigenständiges An-Sich gedacht wurde – für Hegel war sie das „Anderssein“ schlechthin –, ist Landschaft ein Bezugssystem mit ungemein vielen Falten und Formen, ein verwirrender Bereich von Beziehungen. Die Verlagerung vom naturhaften „An-Sich-Sein“ zur Landschaft als Beziehungsform setzt voraus, daß es zu einer sinnlichen, emotionalen und kognitiven Begegnung kommt. Wir riechen Landschaften, horchen nach ihrem Klang, empfinden ihre Temperaturen und Windströmungen, spüren die Feuchtigkeit auf der Haut, sehen die Lichtstimmung und das Formenspiel darin. Und diese angereicherte, dichte Sensualität wird uns auf eine kulturell geformte, unverwechselbare Weise bewußt. Allein unter der Voraussetzung ästhetischer Begegnung verwandelt sich das „An-Sich“ von Natur, oder die abstrakte Vorstellung davon, zur erlebten Landschaft.
Landschaften öffnen sich uns nur im Dreiklang von Körper, Wahrnehmung und Denken. Ihrer Natur nach fordern sie dazu auf, mit ihnen als ganze Person in Beziehung zu treten. Ohne umfassende Präsenz entgehen uns wesentliche Teile einer Landschaft. Intensiver und grundlegender als das meiste, was unser Leben beschäftigt, sind Landschaften etwas, von dem wir uns nicht ausnehmen können. Jeder von uns ist beteiligt an der Landschaft, in der er lebt und durch die er sich bewegt, er ist Mittäter.
     Und das ändert sich auch nicht, wenn wir uns in Lebensstile einfügen, die von einer spätmodernen Widersprüchlichkeit gezeichnet sind. Die mobilen Milieus mit ihrem urbanen Nomadismus, täglich innerhalb von Städten und Jahr für Jahr zwischen zahllosen Metropolen unterwegs zu sein, verspüren gleichzeitig wachsende Lust, in Naturlandschaften einzutauchen, um dort Urlaub zu machen, um die Seele in etwas baumeln zu lassen, nach dem sie sich sehnen. Wer die Möglichkeit dazu hat, reist an idyllische Karibikstrände, wandert im Andengebirge oder macht Rafting auf nepalesischen Flüssen. Gleichzeitig sehen wir auf unseren mobilen Bildschirmen die arktische Kryosphäre wegschmelzen und erwarten den apokalyptischen Niedergang weiter Landstriche des Erdballs in der absehbaren Zukunft.
     Um zu begreifen, weshalb Landschaft gerade heute eine Renaissance erlebt – ähnlich wie Volk, Nation oder Heimat –, lohnt es, sich zunächst daran zu erinnern, wie stark sich das Wissen von der Landschaft und unser Bezug zu ihr in der Moderne verändert haben. Wer sich fragt, von welchen kognitiven Voraussetzungen und Wahrnehmungsstrukturen Landschaften eingefaßt sind, was uns also dazu anleitet, wie wir ihnen gesellschaftlich begegnen, welche Sinnlichkeit und welcher Sinn daraus geschöpft werden kann und was wir als Gesamtzivilisation aus ihnen machen, der wird darauf stoßen, daß es sich bei Landschaften in Wirklichkeit um mentale Designobjekte handelt. Sie werden geformt von Überzeugungen und Einstellungen. Um den kulturellen Code aus ihnen herauszulesen und über mögliche andersartige Codierungen nachzusinnen, bietet sich vor allem ein Weg: Wir können Bildern und Vorstellungen nachgehen, die sich über Jahrhunderte als äußerst wirkkräftig, beweglich und nicht selten als widersprüchlich herausgestellt haben.
     Jede Landschaft ist ein Zeichenraum, versehen mit unterschiedlichen ästhetischen Bedeutungen und kulturellen Chiffren, mit historischen und alltäglichen Mythen. Landschaften erstrecken sich in einem weiten symbolischen Raum, der von spontaner Schwärmerei und dem poetischen Lyrismus bis zu geodätischen Vermessungen und den Zahlen von Bodenanalysen und Ackererträgen reicht. Sie zu entziffern, umzudeuten oder neu zu erschaffen, dazu haben wir die konkreten Aktionen von Zuschreibung, Sinnbefrachtung und Verwissenschaftlichung ebenso in Betracht zu ziehen wie die mannigfaltigen Entwürfe von Landschaftsbildern. Dabei ist, wie bei allen Bildern und Zeichenprozessen, der Rahmen entscheidend: die gesellschaftliche, politische, wissenschaftliche, ökonomische, religiöse Einordnung. In den allermeisten Fällen besteht, was die Sache nicht unbedingt leichter macht, eine Landschaft aus der Überlagerung mehrerer Landschaften. Die in der Moderne entstandene semantische Unruhe soll hier Anlaß für ein Nachdenken sein, an dessen Ende es darum geht zu begreifen, welch lebenswichtige Zukunftsressourcen sich in Landschaften im planetarischen Zeitalter anreichern.

(…)

Ist es ein gnadenloser Eroberungskrieg, den wir gegen unsere natural-sozialen Lebensräume führen? Unstrittig ist: Die Moderne geht mit ihrer Zivilisationsform als imperiales Subjekt vor, das aus ehemals stabilen Lebensräumen durch Strategien der Dominanz unruhige, inzwischen sogar dramatische Landschaften gemacht hat. Sie entsprechen sehr präzise der kolonialistischen Logik, in althergebrachte, integrale Lebensgefüge einzugreifen, um sie gewaltsam in ausgebeutete Größen zu transformieren. Diese Intervention läßt sich anhand der ertragsgetriebenen Transsubstantiation von Böden beispielhaft nachvollziehen. Jeder Boden ist ein holobiontischer Metaorganismus, worin einzelne Lebewesen und unterschiedliche Spezies einen Gesamtorganismus erschaffen, in dem sie untrennbar zusammenleben und zusammenwirken. Durchwoben von Bakterien und Pilzen, belebt durch Springschwänze, Fadenwürmer und Asseln bilden Böden ein variierendes, sich lebendig selbst organisierendes und aus sich heraus entwickelndes Gefüge symbiotischer Verbindungen, das mehr ist als jedes seiner Bestandteile, mehr auch als die Summe der Unterschiede. Durch Einsatz von Herbiziden, Fungiziden und Insektiziden werden Böden biologisch weitgehend abgetötet, um, angereichert mit Phosphat, Nitrat und anderen chemischen Substanzen, in ein synthetisches Nährsubstrat umgewandelt zu werden, das kein komplexes lebendes System mehr, sondern ein genau eingestellter und kontrollierter Produktionsfaktor von Agrarerzeugnissen für teilweise globale, in jedem Fall kapitalgetriebene Absatzmärkte ist, der sich gleichzeitig vermehrt Erosion, Nährstoffmangel und Trockenheit ausgeliefert sieht. Die Folge: degradierte Böden und Ackerflächen als ökologische Todeszone.
     Nicht nur ist es den Landschaften verwehrt, ihren Status, in Ruhe gelassen zu werden, auch nur in winzigen Resten zu behaupten. Sie sind zudem höchst beunruhigend, sofern sie von einer Wachstumszivilisation mit enormem Landschaftsbedarf permanent angegriffen und in dramatisch zugespitzte Unruhe versetzt werden. In dieser Entwicklung werden die Landschaftsräume – Permafrostgebiete, Gletscher, Moore, Wälder, Savannen – in eine aktuelle Zivilisationsdramatik eingeschrieben, deren Bezugsrahmen ein vorindustrieller Zustand abgibt. Sofern die vorindustrielle Landschaft somit in den Beschreibungen von katastrophalen Umweltentwicklungen – Kipp-Punkten, dem point of no return – gegenwärtig ist, tragen die dramatischen Szenarien ein altes landschaftliches Gedächtnis in sich weiter. Doch weisen sie darüber hinaus auf etwas anderes hin: auf die Entstehung einer universellen Landschaftspolitik. Denn die Gefährdung und die wachsenden Risiken für Landschaften politisieren selbst jene Terrains, die man bis vor kurzem noch außerhalb von Politik wähnte, Sommerseen, Bergwiesen, Wanderdünen oder Froschtümpel.
     Wenn das Ökosystem Erde in unserer Zeit Veränderungen unterworfen ist, die von der menschlichen Lebensweise verursacht werden, und wenn diese Veränderungen das geobiologische System insgesamt prägen, das heißt: seine atmosphärischen, ozeanischen, geologischen und biologischen Gegebenheiten, dann legt das in der Tat nahe, die Erdgeschichte in ein neues Zeitalter einzuteilen. Der Schatten des Menschen fällt auf jede Landschaft des Erdballs. Und jedes einzelne Wesen im Tier- und Pflanzenreich sendet die Botschaft aus, noch nicht der Extinktion anheimgefallen zu sein, noch seine Gattung zu repräsentieren, der Bedrohung durch die menschliche Zivilisation bis zu diesem Moment noch standgehalten zu haben. Das verändert den biologischen Status von Tieren und Pflanzen, aber auch von ganzen Lebensräumen grundlegend. Ihre Existenz als Art, über die während der Erdgeschichte in evolutionären Prozessen bestimmt wurde, steht jetzt unter dem Vorbehalt menschlicher Handlungsweisen, die über Noch-Sein und Nicht-mehr-Sein verfügen. Der Menschheit obliegt es, die Lebewesen in ihrem landschaftlichen Lebensraum und Lebensrecht zu berücksichtigen oder nicht. Inwieweit mit dieser Entscheidung auch über die Lebenschancen einzelner menschlicher Individuen oder großer Teile der Menschheit entschieden wird, darüber dauert die globale Auseinandersetzung an.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.