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Cover Lettre International, François Fontaine
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LI 112, Frühjahr 2016

Globalisierte Gewalt

Der Terror, die Krise des Territoriums und die Verletzlichkeit der Moderne

Die Attentate vom 13. November 2015 in Paris haben uns mit einer neuen Form der Gewalt konfrontiert. Im Gegensatz zu ihrer klassischen Form reicht es nicht mehr aus, die Gewalt nur als ein Mittel zur Verfolgung politischer Ziele zu interpretieren. Es kommen andere Aspekte ins Spiel, die diese neue Form einem Typus von Gewalt ähnlich machen, der von einigen als modern1 oder extrem2 bezeichnet wird und bei dem Destruktion ein Ziel an sich zu sein scheint. Diese Dimension ist nicht neu für diejenigen, die in der Gewalt ein Urphänomen sehen, wie René Girard oder Wolfgang Sofsky,3 oder über die Grausamkeit nachdenken wie Marcel Hénaff.4 Doch entgeht diesen Sichtweisen der destruktiven Gewalt vielleicht das Neuartige an dem, was uns im Moment widerfährt: der Zusammenhang von Gewalt und Globalisierung. Letztere bringt die bisherigen Kategorien durcheinander, indem sie der Gewalt eine hybride Dimension verleiht – sie ist jeweils beides zugleich: lokal und global, archaisch und postmodern, kriminell und heilig, individualistisch und politisch, psychologisch und eschatologisch.

(…)

Der ultimative Blutrausch des Terroristen und des Massenmörders verkehren die Stigmatisierungen in eine apokalyptische Szene, die beim Dschihadisten von einem Millenarismus geprägt ist. Sämtliche Analysten sind erstaunt über die eschatologische Dimension dieser Gewalt (die umgekehrt proportional ist zum Verschwinden des Eschatologischen in unseren laizistischen Gesellschaften). Die terroristische Gewalt vermischt Individualisierung und Entindividualisierung, da der Dschihadist in einer globalen imaginären Gemeinschaft aufgeht, während er gleichzeitig seine individuelle Erniedrigung rächt.

(…)

Die Urheber der Terroranschläge von 2015 haben nichts zu tun mit den Jugendlichen, die an den Revolten des Jahres 2005 beteiligt waren, selbst wenn die Gründe, um zur Tat zu schreiten, in beiden Fällen identisch sein mögen; die Gewalt richtet sich nun nicht mehr gegen Symbole der Autorität, sondern gegen physische Personen, die unmittelbar getötet werden. Der Terrorismus beruft sich nicht auf die Situation in Frankreich, die einer der Gründe für diese Gewalt zu sein scheint: Er prangert nicht die Stigmatisierung oder die vielfache Diskriminierung auf europäischem Boden an, sondern in sehr allgemeiner Weise Erniedrigungen, die Muslimen auf der ganzen Welt zugefügt werden. Der Dschihad situiert sich auf einer anderen Ebene, der des heiligen Kriegs (daher kommt es hier zum Zusammenprall einer millenaristischen Weltsicht mit einer posthistorischen Zeit). Der Konflikt wird in eine andere Raum‑Zeit‑Struktur übertragen (der Mittlere Osten, der IS, der Millenarismus), in der die politische Beziehung aus den Fugen gerät. Es gibt keine Fronten im Raum mehr und auch keine einheitliche Wahrnehmung der Zeit mehr: Unsere Gesellschaften leben in der Geschichte; die Dschihadisten leben in der millenaristischen Apokalypse. Vor Ort ist der IS die monströse Frucht einer millenaristischen Sekte und abgefallener Angehöriger des irakischen Staates. Um den begonnenen Vergleich nun abzuschließen: Während im Falle der Revolte von 2005 die Gewalt eine gewisse Art und Weise darstellte, Politik mit anderen Mitteln zu machen, ist im Falle des Terrorismus die politische Beziehung vollkommen zerbrochen.

(…)

Die Globalisierung erschüttert die Grenzen im geographischen Sinne, sie verwischt aber auch die Abgrenzungen zwischen den Sektoren der Politik, des Rechts, der Wirtschaft und der Theologie. Die Gewalt ist indirekt das Ergebnis dieser Verwischung, wie man am Zusammenprall des Theologischen mit dem Politischen und dem Angriff auf die Lebensweise sehen kann. Man muß alles gleichzeitig angehen, sowohl die religiöse als auch die soziale Dimension, die politische und die militärische, die internationale und die innenpolitische Dimension: Wir haben keine Wahl, denn die Morphologie der Globalisierung selbst verlangt es.

Der Zusammenbruch der Bühne des Politischen, von welcher der globale Terrorismus zeugt, muß im Zusammenhang mit einer anderen Transformation verstanden werden, die sich ebenso schnell und ebenso verwirrend vollzieht: Gemeint ist die Transformation des Territoriums, natürlich nicht als physische Wirklichkeit, auch nicht als geopolitische Einheit – diese bleiben bestehen –, aber als politischer Signifikant.13 Deterritorialisierung meint nicht das Verschwinden des Territoriums, sondern eine Neuordnung der Beziehung zur Welt. Sie befreit uns nicht von den Territorien, sondern verlangt, die notwendige Beziehung zum Territorium anders zu denken.

Der globalisierte Terrorismus verändert den Wert des Raumes; er treibt uns in eine neue Dimension hinein: Ort seiner Aktivität ist nicht mehr das nationale Territorium, sondern die Welt; sein Referenzpunkt ist nicht mehr die irdische Welt, sondern das Heilige; seine Zeit ist nicht mehr die Dauer eines Lebens, nicht einmal mehr die Abfolge der Generationen, sondern die Ewigkeit; sein Gesprächspartner ist nicht mehr die Macht, sondern die Autorität der Institutionen; sein Ziel ist kein materielles Gut mehr, sondern die Zerstörung einer globalisierten Lebensweise, in der alle Welt sich mischt (wofür die Herkunft der Opfer des 13. November Zeugnis ablegt).

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Die terroristische Gewalt ist keine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, weil sie kein Mittel ist, sondern eine zerstörerische Kraft, die eben dadurch die Politik um eine andere Achse herum organisiert: jene der Angst und dem Verlangen nach Sicherheit. Das Hereinbrechen dieser autonomen Form der Macht, die nicht mehr mit der Politik kommuniziert und die die kulturellen Prinzipien (archê) eines Volkes erschüttert, befördert die Sicherheit zur einzigen möglichen Politik der Demokratien. Diese archaische Gewalt (archaisch durch ihre Grausamkeit, ihre Plötzlichkeit und ihre Unvorhersehbarkeit), die politisch nicht zu handhaben ist, ruft bei ihrem Zielobjekt einen Reflex hervor, der sich, wenn man nicht aufpaßt, als ebenso archaisch erweisen kann, indem er die politische Gemeinschaft in eine große Interessengemeinschaft der Lebenden gegen den Tod verwandelt. Wobei die Politik auf die alleinige Funktion des physischen Schutzes des Lebens reduziert wird

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