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Cover Lettre International, Gunter Rambow
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Inhaltsverzeichnis

LI 108, Frühjahr 2015

Rächer des Propheten

Die Attentate von Paris, die Raumrevolution und der souveräne Staat

(…)

Diese Mordtaten sind hybride Akte, die in keine wohlsortierte Kategorie passen: Es handelt sich gleichermaßen um terroristische Attentate und Kriegsakte, um gemeinrechtliche Verbrechen und um eine politische Gewalt. Die Opfer spiegeln diese Heterogenität wider: libertäre Karikaturisten, Polizisten, Juden, Partisanen der Unordnung und Ordnungskräfte, Verächter der Religion und des Religiösen. Und das wiederum spiegelt sich in der Kohärenz der Reaktionen: Man ist auf die Straße gegangen für die Verteidigung der Meinungsfreiheit, aber auch, was einige anbelangt, gegen eine totale Freiheit, für die Muslime und gegen den radikalen Islam, für eine brüderliche Republik und eine unbeugsame Laizität. Man sieht keinen Widerspruch darin, starke Verurteilungen und nicht nur symbolische gegenüber jenen anzuwenden, welche die kollektive Empörung nicht teilen … im Namen der Bewahrung unserer Werte, zu denen die Meinungsfreiheit zählt. Diese Ambiguität der Reaktionen rührt von der Ambiguität der Fakten her und von den Schwierigkeiten, die Handlung einzuordnen, die man verurteilt.

(…)

Das, was letztlich am erschreckendsten ist, ist die unglaubliche Asymmetrie zwischen der Aktion einer Handvoll junger Fanatiker und der tiefgreifenden Destabilisierung eines Landes, sogar der Gemeinschaft der Nationen. Welch ein Mißverhältnis zwischen den Millionen Demonstranten, bestärkt durch die Anwesenheit von etwa vierzig Staatschefs, auf der einen Seite und andererseits einer aus drei Personen bestehenden Bande (die vermutlich nicht mehr als eine Handvoll Komplizen hatte), von der man nicht weiß, was genau sie eigentlich verkörpert. Dieses Ungleichgewicht ist im Herzen der terroristischen Beziehung; es reflektiert die Unverhältnismäßigkeit zwischen der unglaublichen technischen Macht, derer sich die Terroristen zu bedienen wußten und die sich in den letzten Jahren vervielfacht hat – Kommunikationsgeschwindigkeit, Effizienz der sozialen Netze, Verallgemeinerung des Bildes durch Smartphones –, und der offenbarten Verletzbarkeit der demokratischen Gesellschaften, zwischen der Leichtigkeit, mit der man sich Kriegswaffen beschaffen und im Herzen von Paris zuschlagen kann einerseits und andererseits der Schwierigkeit, diese Waffen zu kontrollieren, wie auch vielleicht gewisse Teile jenes Territoriums, das man nicht gut zu charakterisieren weiß (die „Viertel“, die „banlieues“).

Deterritorialisierung

Ausbruch von Kriegsakten in Friedenszeit, Import eines fernen Krieges in unseren Alltag, verstörende Permanenz des Bösen und der Gewalt in säkularisierten und relativistischen Gesellschaften, Wiederauftauchen der archaischen Rache und Sprung in die postmodernen Konflikte: Diese Gewalttaten markieren die Verwirrung der Räume und auch der Zeiten. Eine Szene derartiger Gewalt ist einzigartig für uns, aber leider weder für die Algerier, die ein Jahrzehnt des Bürgerkriegs durchlebt haben, noch für die Pakistani oder Libyer, für die eine derartige Gewalt den tristen Alltag darstellt. Eine solche Verwirrung ist nicht zufällig, sondern resultiert aus einer bedeutenden Entwicklung unserer Welt, nämlich der Globalisierung, und noch genauer der Deterritorialisierung. Diese bedeutet das Ende der politischen Verbindung zwischen einem Territorium, einer Bevölkerung und einem Raum der Legitimität.

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Die Deterritorialisierung steigert die territorialen Ungleichheiten auf allen Ebenen. In den in den Hintergrund gedrängten banlieues leben Populationen, die aus der Perspektive des Arbeitsmarktes überzählig sind. Die Art, wie man vom Territorium Gebrauch macht, das weiß man nur zu gut, stellt die große Ungerechtigkeit der Globalisierung dar: Die einen reisen in einer Welt voller Gelegenheiten, die anderen werden gescheiterten Territorien zugewiesen oder dazu verdammt, herumzuirren, um schließlich in Abschiebelagern zu landen. Al-Qaida hat dieselbe Form wie ein Unternehmen, das Franchise-Filialketten in verschiedenen Ländern betreibt, oder wie eine NGO, die, auch sie, auch in einem Raum ohne Grenzen navigiert und schneller reagiert als die Staaten; denn weder die eine noch die andere sind belastet durch ein Territorium oder eine unerwünschte Bevölkerung. Der Dschihad ist die Sündenbock-Internationale der Handlanger, das Erasmusprogramm der radikalisierten Delinquenten, der Welthorizont des Bandenführers des Viertels.

Die Deterritorialisierung bedeutet nicht das Verschwinden des Territoriums, sondern eine neue Beziehung zum Territorium, geboren aus der Vielfalt der Räume (und der somit naheliegenden Möglichkeit, diese Diversität auszuspielen), aus ihrer Überlagerung und ihrer wechselseitigen Verflechtung. Die Vorstellungswelten durchdringen sich: Die Jugendlichen, versucht von der Radikalisierung, bewohnen mehrere mentale Räume, Frankreich einerseits, aber auch den Nahen Osten; sie sind hier und auch dort. Die Karikaturen werden in sehr genauen Kontexten gezeichnet, in einem Europa, das eine sehr lange Tradition des Wechsels und der Koexistenz von Heiligem und Sakrileg hat (denken wir an die Narrenfeste des Mittelalters, von denen das paradoxe Symbol einer Justiz mit verbundenen Augen zeugt). Aber diese Bilder, die mit elektronischer Geschwindigkeit zirkulieren, erreichen per Internet ihre unfreiwilligen Empfänger völlig von ihrem kulturellen Kontext getrennt. Für einen Teil der Franzosen stellen diese eine vom Geist der 68er geprägte Aktualisierung der Aufklärung dar oder vielleicht auch des Voltaireschen Geistes, aber in einem anderen Rezeptionszusammenhang, in einer Kultur, in der dem Heiligen noch sehr große Bedeutung zukommt, laden sie sich mit anderen Bedeutungen auf. Dem Empfänger wird der Subtext fehlen oder die historischen und kulturellen Vermittlungen, und so wird die Karikatur als Beleidigung aufgefaßt und als unerhörte Gewalt unserer Pariser Milieus verstanden. Die Globalisierung bedeutet derart eine Konfrontation von Vorstellungswelten ohne Vermittlung.

Fügen wir der unvermittelten Konfrontation von Vorstellungswelten die Konkurrenz der Symbolwelten hinzu, die nicht mehr vom Politischen überragt wird. Es ist die Krise der politischen Legitimität, welche die antagonistischen Weltbilder als Rahmen umfaßt: „Euer Gesetz ist nicht mehr unser Gesetz“; und man geht zum nächsten Stadium über: „Unsere religiöse Symbolik kann es nicht ertragen, daß die Gesetze der Republik die Desymbolisierung akzeptieren.“

(…)

Während das Strafrecht sich um die Idee der Gefährlichkeit herum gestaltet, stellt der Dschihadismus eine Gefahr für den Staat im Reinzustand dar, die hervorgeht aus einem zerstörerischen Willen, (zumeist) unversehrt von jeder Pathologie und unreduzierbar auf das soziale Elend. Wenn es kontraproduktiv ist, einen Dschihadisten einzusperren, so ist es nicht erfolgreicher, ihn zu behandeln. Besser wäre, sich jene Programme zur Entradikalisierung näher anzuschauen, die in einigen Ländern auf den Weg gebracht worden sind und die soziales Verständnis, Psychologie und Religion verbinden. Ihr Interesse ist es, das Ziel einer sozialen und politischen Integration zu verfolgen, ausgehend von der Feststellung, daß man gegen die Plage des Dschihadismus keinen Sieg erringen wird, wenn nicht durch eine politische Antwort auf die Fragen, die er stellt. Gegen diese zerstörerischen Glaubensüberzeugungen kämpft man vermittels einer Reaktivierung unserer politischen Glaubensüberzeugungen, durch eine Aktualisierung unseres demokratischen Pakts und eine Modernisierung der Republik. Dies wäre eine Form, sich den Zentrifugalkräften mittels eines neuen politischen Bandes zu erwehren.

Die Dschihadisten wollen einen Religionskrieg wieder entfesseln, dem eine Verteidigung mittels einer blinden und unbeholfenen Repression Nahrung geben könnte. Man muß ihnen bedeuten, daß wir nicht im Namen der christlichen Religion gegen sie kämpfen, sondern im Namen der Überschreitung (dépassement) dieser durch das Politische, also einer bestimmten Art, die menschliche Koexistenz friedlich zu organisieren und insbesondere die Anwesenheit verschiedener Religionen auf einem Territorium möglich zu machen.
 

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