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Cover Lettre International 83, Dieter Appelt
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Inhaltsverzeichnis

LI 83, Winter 2008

Wildnisfiktionen

Naturverklärung, Naturgeschichte, Lebensrechte der Menschen

Wenn es etwas gibt, das die Menschen als Spezies auszeichnet, dann ist es unsere Fähigkeit, die Welt durch Geschichten wahrzunehmen. Was für Geschichten sind es nun, die den Kampf um die Natur mit Leben erfüllen, der jetzt in aller Welt geführt wird? Hier ist eine derartige Erzählung: Sie trägt den Titel Die indische Hütte und soll zur Lieblingslektüre von Mahatma Gandhi gehört haben. Der Text beginnt mit folgenden Worten: „In London trat vor etwa dreißig Jahren eine Gesellschaft englischer Gelehrter zusammen, die sich die Aufgabe stellten, in verschiedenen Teilen der Welt größere Belehrung in allen Wissenschaften zu suchen, um ihre Mitmenschen aufklären und glücklicher machen zu können.“ Diese Gelehrten waren zwanzig an der Zahl, und um sie für ihre Nachforschungen mit einer besseren Orientierung auszustatten, hatte die Königliche Gesellschaft jedem von ihnen ein Buch gegeben, welches 3500 dringliche und wichtige Fragen enthielt. Der bedeutendste dieser Gelehrten, welcher Hebräisch, Arabisch und Hindi verstand, machte sich auf den Weg nach Indien, „der Wiege aller Künste und Wissenschaften“. Nach einer Reise von drei Jahren gelangte er schließlich nach Benares, dem „indischen Athen“, wo er mit zahlreichen gelehrten Brahmanen Gespräche führte und eine gewaltige Sammlung von Manuskripten zusammentrug. Schon wollte er mit dieser reichen Ladung von Wissen wieder den Weg in die Heimat antreten, als ihm einfiel, daß er zwar mit jüdischen Rabbinern, protestantischen Geistlichen, französischen Akademiemitgliedern, türkischen Mullahs, alten Parsen, Hindu-Pandits und dergleichen gesprochen hatte, daß es ihm aber nicht geglückt war, auch nur eine einzige der 3500 Fragen zu enträtseln, mit denen er sich auf die Reise begeben hatte. Es war ihm lediglich gelungen, die Zweifel zu vervielfachen, die jede einzelne umgaben. Da erfuhr er, daß der kundigste aller Pandits in Indien nicht in Benares zu finden sei, sondern im Tempel des Jagannath in Orissa. Sogleich machte sich der eifrige Gelehrte auf den Weg nach Kalkutta, wo ihn die Direktoren der Ostindien-Kompanie mit einer Sänfte und Trägern für die Reise zu dem großen Tempel versahen. Auf dem Weg nach Süden beschloß der Forscher, den gelehrten Pandit nicht mit trivialen Fragen zu behelligen und sich bei seinen Nachforschungen auf drei Probleme dringlichster Wichtigkeit zu beschränken. Als man ihn nun in das innere Heiligtum des Tempels führte, hatte er sich für die drei Fragen entschieden, die ihm in ihrer Bedeutung alle anderen aufzuwiegen schienen: Mit welchen Mitteln vermöchte man die Wahrheit zu erkennen? Wo sollte man nach der Wahrheit suchen? Und: War es erforderlich, der Menschheit die Wahrheit immer zu offenbaren?

Der Pandit antwortete ohne Umschweife auf alle drei Fragen. Sämtliche Wahrheit sei in den Sammlungen der Veden enthalten, so sagte er, und sie könne nur mit Hilfe der Brahmanen erkannt werden, welche allein das Geheimnis der Sprache der Wahrheit besäßen. Und was die Mitteilung der Wahrheit an die Menschen anging, erklärte der Pandit, gebiete es oft die Klugheit, sie vor den meisten Menschen zu verbergen, während es aber die Pflicht diktiere, sie den Brahmanen stets mitzuteilen.

Diese Antworten brachten den Engländer dermaßen außer Fassung, daß er empört ausrief: „Wie! Den Brahmanen soll man immer die Wahrheit sagen, während sie selbst sie niemandem mitteilen! Wahrhaftig, die Brahmanen sind sehr ungerecht!“

Darauf kam es zu einem großen Tumult, der dazu führte, daß der Gelehrte aus dem Tempel vertrieben wurde und sich nun auf seiner Rückreise nach Kalkutta in einer noch niedergeschlageneren Verfassung befand als zuvor. Unterwegs, als sie durch einen Wald kamen, wurden er und seine Begleiter von einem Taifun überrascht, der vom Meer her wehte. Sie eilten weiter, während Wind und Regen ringsum tobten, bis sie schließlich eine kleine Hütte erblickten, die durch Berge, Felsen und Bäume vor den Elementen geschützt war. Der erleichterte Gelehrte gedachte sich zu der Hütte zu begeben, aber er konnte seine Gefolgschaft nicht dazu überreden, ihn zu begleiten. Die Hütte gehöre Parayas, so sagten sie, Angehörigen einer der niedrigsten Kasten von Indien, und in sie würden sie keinen Fuß setzen.

„So bleibt hier, wenn ihr wollt“, entgegnete der Gelehrte; „mir sind die indischen Kasten alle gleich.“ Mit diesen Worten betrat er die Hütte und wurde von den Bewohnern, einem Mann von sanften Gesichtszügen und seiner Frau, freundlich aufgenommen. Während draußen der Donner tobte, führte der Gelehrte ein langes Gespräch mit seinem Gastgeber und fand bald heraus, daß dieser ein Mann von weit größerer Intelligenz und Verständigkeit war als irgendeiner der Gelehrten und Pandits, denen er auf seinen Reisen begegnet war. Wie hatte dieser schlichte Mann solche Weisheit erworben? Schließlich konnte er nicht mehr an sich halten und fragte seinen Gastgeber, wo sein Tempel liege.

„Überall“, antwortete der Paraya, „mein Tempel ist die Natur.“

„Und aus welchem Buch“, wollte der Gelehrte wissen, „habt Ihr diese Grundsätze geschöpft?“

„Aus der Natur“
, antwortete der Paraya; „ich kenne kein anderes.“

„Ja, das ist ein großes Buch“
, sagte der Engländer, „aber wer hat Euch darin lesen gelehrt?“

„Das Unglück“
, erwiderte der Paraya; „da ich zu einer Kaste gehöre, die in meinem Land für verfemt gilt, und kein Inder sein konnte, so habe ich einen Menschen aus mir gemacht; von der Gesellschaft zurückgestoßen, habe ich mich in die Natur geflüchtet.“

Und auf die Frage, ob man einer Welt, welche Ehrlichkeit so oft mit Verfolgung belohnt, die Wahrheit überhaupt mitteilen solle, lautete die Antwort: „Allerdings muß man den Menschen die Wahrheit sagen, aber nur denjenigen, die ein einfältiges Herz haben.“

Dies ist, zusammengefaßt, die Handlung der Erzählung Die indische Hütte, die 1791 erschien und von einem Franzosen verfaßt war, der nie einen Fuß auf indischen Boden gesetzt hatte. Ihr Autor Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre (1737 bis 1814), ein Romancier, Naturforscher und Philosoph, war ein Freund und Jünger von Jean-Jacques Rousseau.

Im Laufe eines abwechslungsreichen und interessanten Lebens erfuhr Saint-Pierre zahlreiche Enttäuschungen, bis er sein eindrucksvolles mehrbändiges Werk Études de la nature herausbrachte, mit dem er auf der Stelle einen durchschlagenden Erfolg erzielte. Sainte-Beuve sollte später von ihm sagen, er habe für die tropische Natur das geleistet, was Rousseau für die Alpen vollbracht hat. Saint-Pierres unerschrocken romantischer und außerordentlich populärer Roman Paul und Virginie sollte ihm die Bewunderung Alexander von Humboldts wie auch Napoleon Bonapartes eintragen; letzterer soll dieses Werk auf Sankt Helena immer wieder gelesen haben. Zweifellos ließen bei Napoleon die Themen des Romans – Ablehnung, Abgeschiedenheit und Rückzug – ebenso eindrucksvolle Erinnerungen aufkommen wie der Schauplatz des Werkes, die Insel Mauritius, auf der sich Saint-Pierre 1768 aufgehalten hatte. Aus dieser Erfahrung sollte jenes Werk hervorgehen, das wohl sein nachhaltigstes ist: die in den Niederlanden veröffentlichte Reisebeschreibung Voyage à l’Isle de France. Während er auf Mauritius lebte, trat er mit dem Kreis um Pierre Poivre in Verbindung, einen französischen Naturforscher und Verwaltungsmann, der in Asien weit gereist war. Das einzigartige Ökosystem der Insel war von den ersten niederländischen Siedlern ernsthaft gestört worden. Im frühen 18. Jahrhundert hatte man bereits den Dodo ausgerottet und die Wälder abgeholzt. Pierre Poivre erkannte, wie gefährdet die natürliche Umwelt der Insel war, und er leitete eine Reihe von Schutzmaßnahmen in die Wege, die auf seinen Kenntnissen über das traditionelle Forstwesen in China, Indien und Indonesien sowie in der niederländischen Siedlung am Kap beruhten. Diesen Maßnahmen war zwar keine lange Dauer beschieden, aber man hat sie als einige der frühesten staatlichen Eingriffe eingestuft, die von ökologischen Motiven getragen waren. Somit ließe sich von Bernardin de Saint-Pierre sagen, er sei bei der Geburt der Ökologie und des Umweltaktivismus, wie wir sie heute kennen, dabeigewesen; in diesem Sinne war er auch Miturheber einer Vision von der Natur, deren Einfluß sich weit über seine Zeit hinaus bemerkbar machen sollte. Gemeinsam mit seinem vielbewunderten Mentor Rousseau war Saint-Pierre sowohl Schöpfer als auch Verbreiter jener romantischen Sicht, die auf die Naturwahrnehmung nicht nur in Europa, sondern in aller Welt starken Einfluß ausüben sollte: Im Laufe der Zeit sollten ihr Könige, Präsidenten und Bürger gleichermaßen verfallen. Daß die Romantik bei der Schaffung der ersten Nationalparks in den Vereinigten Staaten eine bedeutende Rolle gespielt hat, ist gut belegt; nicht weniger gut dokumentiert ist die Tatsache, daß amerikanische Parks wie Yosemite als Modelle für jene Kolonialverwalter dienten, welche die frühesten Parks in Afrika und Asien einrichteten. Saint-Pierres Indische Hütte ist daher keine gewöhnliche Geschichte: Sie hat eine Rolle dabei gespielt, reale Ökosysteme zu gestalten und zu formen, einschließlich derjenigen des Landes, in dem sie vorgeblich spielt.

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