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Lettre International 151
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LI 151, Winter 2025

Die Macht im Internet

Vom egalitären Traum zum Modell der Technokapitalmaschinen

(…)

Zentral ist jene Ironie, daß das frühe Internet sich rühmen konnte, den Zwischenhandel auszuschalten. Wenn sich die Leute beklagten, daß die reale Vier-Wände-Buchhandlung einen Aufschlag berechnete, dann versprach der Neuankömmling Amazon, jene Marge zu eliminieren, die für Regalraum, Ladenmiete und Verkäufergehälter notwendig war, und die Ware direkt an die Haustür zu liefern. Oder direkt vor die Augen – lassen wir die Druckereien und Papiermühlen auch weg. Das Schlagwort lautete „disintermediation“, Abschaffung der Vermittlungsinstanzen. Ein anderer Meister dieser Technik war eBay, ein Unternehmen, das Verkäufer und Käufer direkt miteinander verband und die Antiquitätenhändler und Flohmärkte ausschaltete. Napster tat dasselbe für Musikliebhaber und ließ die Schallplattenläden außen vor; die Firma begann 1999 mit den Musikdownloads, war anderthalb Jahre tätig, behauptete, 80 Millionen Nutzer zu haben, und verheerte die Plattenindustrie.
     Und jetzt? Die Plattformen sind Zwischenhändler par excellence. Sie üben Druck auf Käufer wie Verkäufer aus. Dienste für Musik-Streaming wie Spotify und Apple Music behaupten, sie wollten Künstler und Fans zusammenbringen und Musikliebhabern helfen, die Musik zu finden, die sie mögen, sowie den Künstlern ermöglichen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Tatsächlich benutzen sie ihre zentrale Kontrolle, um den Künstlern weniger denn je zu bezahlen. Google und Facebook, die den globalen Werbemarkt dominieren, haben sich abgesprochen, um die Preise für Werbekunden zu erhöhen und gleichzeitig die Entlohnung der Websites, welche die Werbung bringen, möglichst gering zu halten.
     Doctorows Warnung ist dringend und seine Analyse bestechend. Die Verscheißigung, wie er’s nennt, durchläuft drei Stadien. Zuerst muß eine Plattform Nutzer an sich binden. Dazu bietet man den Kunden erst einmal genuinen Service, gratis, nötigenfalls sogar mit Verlusten. Google bot eine wahrhaft revolutionäre Suchmaschine an, ein Portal, das die Vision von Berners-Lee optimal zu erfüllen schien. Facebook ließ seine Nutzer sich in Gruppen organisieren. Twitter war in seinen Anfängen verspielt und lustig; Doctorow schreibt: „Es war eine Party, zu der die ganze Welt eingeladen war.“ Stadium eins ist, nach Doctorow, „gut für die Nutzer“.
     Stadium zwei ist „gut für Geschäftskunden“. Als Apple genug iPhones verkauft hatte, konnte es Investoren einen blühenden Markt für seinen neuen App-Store bieten. Das klassische Netzwerk-Feedback bewährte sich: Jede neue App im App-Store machte das iPhone für die Nutzer attraktiver; jedes verkaufte iPhone machte den App-Store attraktiver für Investoren. Bei den sozialen Medien waren die Geschäftskunden jene, die bereit waren, dafür zu bezahlen, daß ihre Message in den gfeed von Nutzern Eingang fand, welche vorher ihren Informationsfluß noch selbst kontrollieren konnten. ­Facebook („Wir werden dir niemals nachspionieren“) überwachte jeden Klick seiner Nutzer und beutete aus, was sie eingaben. Ökonomisch gesehen krallte es sich Mehrwert von den Nutzern und verkaufte diesen an Geschäftskunden.
     Im dritten Stadium werden die Geschäftskunden ihrerseits ausgequetscht; die Plattform benutzt ihren Zugang zu deren Informationen, um hier wiederum Mehrwert abzugreifen. Amazon kopiert Produkte, welche seine Händler verkaufen, und unterbietet ihre Preise. Man berechnet Firmen Gebühren, damit sie bei Suchanfragen erwähnt werden – 38 Milliarden jährlich allein für diese Suchpräsenz. Das wiederum vergiftet die Nutzererfahrung. Wie Doctorow schreibt: „Im Durchschnitt ist das Zeug, was bei einer Amazon-Suche ganz oben erscheint, schlecht. Minderwertiger überteuerter Schrott … Die ganz oben angelangten Artikel mit den höchsten Nutzerempfehlungen sind häufig fürchterlich, erscheinen aber garniert mit (bezahlten) hymnischen Beurteilungen.“ 
     Auch Google unterminiert die Qualität des eigenen Suchprozesses, um bezahlte Ergebnisse nach oben zu rücken und die Anzahl der Anfragen zu erhöhen. Im Endstadium hängen die Nutzer auf der Plattform fest und bekommen immer weniger Informationen, während „die Händler, die davon abhängen, daß sie uns etwas verkaufen, ebenfalls dort festhängen und mit jedem Verkauf weniger und weniger verdienen“.
     Verscheißigung ist die Erfüllung einer Vision, die Andreessen in einem berühmten Aufsatz für das Wall Street Journal 2011 dargelegt hat, der sich immer noch auf der Website seiner Firma findet. „Software frißt die Welt auf“, verkündete er stolz. Mittlerweile hatte er viel in Facebook, Twitter, ­LinkedIn, Skype und viele andere Firmen investiert. Mit dem Auffressen der Welt meinte er: Amazon hatte Borders vernichtet, Netflix hatte Blockbuster zerstört, die Riesen des Musikstreaming ruinierten Plattenfirmen und Google „benutzte Software, um den Einzelhandel aufzufressen“. Das schienen ihm gute Neuigkeiten. Aber Software frißt gar nichts auf. Technologiefirmen tun das, wenn sie die Macht erlangt haben, die Schalthebel der Informationsökonomie dazu zu verwenden, ihre eigene Macht und ihre Dominanz zu festigen.

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 152 erscheint Mitte März 2026.