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Cover Lettre International 91, Sam Szafran
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LI 91, Winter 2010

Stamm, Ethnie, Staat

Über Gesellschaft und Gemeinschaft im Lichte der Anthropologie

(Auszug/LI 91)

 

(...) Das englische Wort tribe und das französische Wort tribu sind von dem Wort tribus abgeleitet, das aus dem Lateinischen kommt, einer Sprache, die von einer Reihe von Gruppen gesprochen wurde, welche schon lange vor dem Auftreten des Stadtstaats Rom den mittleren Teil des antiken Italien bevölkerten. Die Entsprechung zu tribus im Altgriechischen lautet phyle – ein Wort, das „Blatt“ bedeutet, aber auf das Verb phyo zurückgeht, welches „entstehen lassen“, „sprießen lassen“ bedeutet. Ein Stamm bestand im alten Rom aus einer gewissen Anzahl von Gruppen von Männern und Frauen, die durch Verwandtschaft miteinander verbunden waren; diese Gruppen bezeichnete man als gens. Das Äquivalent von gens im Griechischen ist genos. Und beide Wörter kann man zu dem Sanskritwort jati stellen, welches „Geburt“ bedeutet. Kurz gesagt, in der Antike bezeichnen die indoeuropäischen Hauptsprachen die Zugehörigkeit zu ein und derselben „Geburt“ als die Basis gesellschaftlicher Gruppen, die wir heute „Clans“, „Lineages“, „Häuser“ usw. nennen. Diese Gruppen sind Ansammlungen von Männern und Frauen aller Generationen, die sich deshalb als mitein-ander verwandt und solidarisch betrachten, weil sie behaupten, entweder in männlicher oder in weiblicher Linie von einem gemeinsamen Vorfahren abzustammen. Das bringt patrilineare Clans hervor wie in Rom oder in der arabischen Welt oder aber matrilineare Clans, wie man sie in Afrika, in Ozeanien oder bei den Indianern findet.

 

Um ein Beispiel zu geben: Bei den Baruya, einem Stamm in Neuguinea, bei dem ich gelebt und gearbeitet habe, sagt man, wenn man jemanden fragt, zu welchem Clan er oder sie gehört: Ysavaa?, das heißt: „Von welchem Baum stammst du?“, oder auch: Navaalyara?, das bedeutet: „Wer sind die gleichen wie du?“ Kurz, es liegt immer jener Gedanke vor, daß man mit anderen „identisch“ ist, weil man die gleiche „Geburt“ mit ihnen teilt.

 

Kann man demnach eine Definition für das aufstellen, was ein Stamm ist? Ich würde sagen: Ein Stamm ist eine Gesellschaftsform, die sich bildet, wenn Gruppen von Männern und Frauen, die sich, sei es tatsächlich oder fiktiv, als durch Geburt oder durch Heirat miteinander verwandt betrachten, sich zusammenschließen und sich solidarisch verhalten, um ein Territorium zu kontrollieren und sich dessen Ressourcen anzueignen, die sie gemeinschaftlich oder jeder für sich ausbeuten und die sie mit Waffengewalt zu verteidigen bereit sind. Ein Stamm ist immer durch einen Namen identifiziert, der ihm eigentümlich ist.

 

Der Ausdruck „Territorium“ bezieht sich nicht nur auf Ebenen oder Berge, die man braucht, um Landwirtschaft oder Viehzucht zu treiben. Ein Territorium kann auch eine Stadt sein, ein heiliger Ort, für dessen Bewachung und Unterhalt man zuständig ist, eine Reihe von Karawanenstraßen und dergleichen. Selbstverständlich stellt die Existenz in einem Stamm eine ursprüngliche Lebensweise und Kultur dar, die sich nie auf die Verteidigung und die Ausbeutung der Ressourcen eines Territoriums beschränkt hat.

 

Angesichts des Faktums der Stämme sind sich Anthropologen und andere Sozialwissenschaftler uneins, wenn sie dieses soziologische Phänomen und seine historische Bedeutung interpretieren sollen. Mehrheitlich haben sie die Auffassung vertreten, der Schlüssel zum Verständnis des Funktionierens von Stammesgesellschaften sei im wesentlichen in der Interaktion von Verwandtschaftsbeziehungen sowohl der Abstammung als auch der Heirat zu suchen. Diese Gesellschaften hätten also als „Basis“ die Verwandtschaft oder sie seien, um es mit einem von der anglo-amerikanischen Anthropologie geprägten Ausdruck zu sagen, kin-based societies. Diese Interpretation scheint offensichtliche Aspekte des Funktionierens von Stämmen zu berücksichtigen, beispielsweise im Fall von Konflikten zwischen Clans oder zwischen Stämmen die Solidarität der Mitglieder ein und desselben Clans, die sich im Namen ihrer Verwandtschaftsbeziehungen einander verpflichtet fühlen. Sie verdeckt jedoch zwei grundlegende Fakten, die uns dazu veranlassen, sie zu kritisieren und abzulehnen.

 

Einerseits verleitet diese Interpretation dazu, die Stämme als Fortsetzung primitiver Existenzformen anzusehen, als Zeugen, ja als Überbleibsel eines Entwicklungsstadiums der Menschheit, welches andere Menschengruppen hinter sich gelassen haben, indem sie andere gesellschaftliche Organisationsformen erfanden, die zur Geburt des Staates und verschiedener Formen von „Zivilisation“ geführt haben. Dieser Standpunkt fällt nun nicht nur ein negatives, ja implizit verächtliches Urteil über die Lebensweise von Stämmen und kann als ein ethnozentrischer Standpunkt auf seiten von Sozialwissenschaftlern aus westlichen oder östlichen Gesellschaften angesehen werden, die „zivilisiert“ zu sein behaupten; er verdrängt, ja er leugnet auch die Tatsache, daß die Stammesorganisationen im Laufe der Geschichte eine bemerkenswerte Vitalität und Anpassungsfähigkeit gezeigt haben, die erklärt, daß sie heute in zahlreichen Weltgegenden immer noch präsent und aktiv sind.

 

Was aber noch schwerwiegender ist: Diese Interpretation, welche die Verwandtschaftsbeziehungen zur Grundlage der Stammesgesellschaften macht, bagatellisiert die bedeutende Rolle, die bei diesen Gesellschaften andere, im Alltag weniger sichtbare Beziehungen spielen, welche aber im Zentrum ihrer Funktionsweise stehen. Das sind die Beziehungen, welche die Souveränität organisieren und legitimieren, die die Stämme über ein Territorium, seine Ressourcen und seine Bewohner ausüben, ob diese nun Angehörige des Stammes oder von ihm unterworfen sind. Diese nun gehören niemals direkt oder ausschließlich in den Bereich der Verwandtschaft. Es sind jene Beziehungen, bei denen man sich im Westen angewöhnt hat, sie voneinander zu unterscheiden und sie in zwei Kategorien, das „Politische“ und das „Religiöse“, einzuordnen.

 

Als „politisch“ bezeichnet man Institutionen und Prinzipien, mit deren Hilfe Gesellschaften sich selbst verwalten und ihre Beziehungen zu anderen Gesellschaften, ob fern oder nah, ob Freund oder Feind, regeln. Als „religiös“ bezeichnet man Beziehungen, welche Menschen untereinander herstellen, um mit unsichtbaren Wesenheiten zu kommunizieren, von denen sie sich vorstellen, sie seien mit größeren Kräften begabt als sie selbst, und deren Schutz und Wohltaten sie daher im Gegenzug zu ihrer Verehrung und zu ihren Opfern zu erlangen bestrebt sind.

 

Selbstverständlich werden diese Definitionen nur als Hilfen zum Isolieren und Analysieren von Funktionen aufgestellt, die im Laufe der Geschichte in ihrem Verhältnis zueinander sehr unterschiedliche Positionen eingenommen haben, welche für die betreffende Gesellschaft jeweils unterschiedliche Folgen hatten: Bald waren Macht und Religion untrennbar in denselben Institutionen und in derselben Person miteinander verschmolzen, die sie verkörperte und die die höchste Macht ausübte wie etwa die Pharaonen im alten Ägypten oder, noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts, die Macht gewisser afrikanischer Könige; bald galten diese Funktionen als verschieden, aber einander ergänzend, und sie wurden infolgedessen von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen ausgeübt, so etwa von den beiden herrschenden Kasten im alten und mittelalterlichen Indien, den Brahmanen (den Priestern) und den Kshatriyas (den Kriegern), wobei der Raja, das heißt die Person an der Spitze jedes der zahlreichen indischen Königreiche, immer der Kaste der Kshatriyas angehörte; bald war es so, daß die Funktionen als verschieden, aber völlig voneinander losgelöst galten, wobei die politische Macht – zumindest in Gestalt der Ausübung der Staatsmacht – ohne irgendeine Bezugnahme nicht nur auf die in der Gesellschaft traditionell herrschende Religion (wie das Christentum in Europa), sondern überhaupt auf jegliche Form von Religion ausgeübt wurde, da die Religion zu einer Privatangelegenheit der Individuen geworden war und kein Element ihres Status als Bürger darstellte. Diese Trennung von politischer Macht und Religion ist ein neueres Ereignis in der Geschichte der Menschheit; durchgesetzt hat es sich allmählich im Gefolge der Französischen Revolution und gleichartiger Ereignisse, die in Europa den alten Ordnungen der Monarchen ein Ende bereiteten, von denen sich einige zu Herrschern von Gottes Gnaden erklärt hatten. Wenn wir aber diese neueren Entwicklungen beiseite lassen, die sich von Europa aus mit dem Export der sozialistischen Regimes bis nach China verbreitet haben, dann muß man feststellen, daß die Menschen im Verlauf ihrer Geschichte meist bei Göttern oder bei einem Gott ihr Recht gesucht haben, in ihrer Gesellschaft Macht auszuüben. Und groß ist die Zahl der Beispiele für eine Gottheit, die um so höher über andere erhoben wurde, je weiter sich der König, der sie sich als Schutzgottheit gewählt hatte, über andere Menschen oder gar über andere Könige erhob. Solches geschah, als Hammurabi (1792 bis 1750 v. u. Z.) zum König der Könige wurde und seinen Beschützer Marduk, einen bis dahin vergleichsweise untergeordneten Gott, zum größten aller Götter erklärte.

 

Lassen sich jene Beziehungen, welche die Souveränität einer Gruppe und ihre Herrschaftsweise etablieren, einzig und allein auf das Funktionieren von Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Angehörigen eines Stammes zurückführen? Nein, das Beispiel der Baruya in Neuguinea zeigt das deutlich. Wenn man in ihrer Sprache einen Mann fragen will, zu welchem Stamm er gehört, dann muß man zu ihm sagen: „Zu welcher tsimia gehörst du?“ Was ist die tsimia bei den Baruya? Das ist das große Gebäude, das sie alle drei Jahre errichten und in dem sie die Jungen und die jungen Krieger, vor den Blicken der Frauen verborgen, initiieren.

 

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