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Cover Lettre International 94, Robert Longo
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Inhaltsverzeichnis

LI 94, Herbst 2011

Terror und Rache

Politische Gewalt, Gegenseitigkeit, Gerechtigkeit - Zehn Jahre danach

Wir haben IHN!

Am 2. Mai 2011, wenige Stunden nach der Exekution Bin Ladens durch Spezialeinheiten der U.S. Navy, legte Präsident Obama trotz bereits vorgerückter Stunde Wert darauf, dieses Ereignis dem amerikanischen Volk höchstpersönlich zu verkünden, wobei er folgenden Kommentar hinzufügte: „Der Gerechtigkeit ist Genüge getan worden.“ („Justice has been done.“) Genau das scheint spontan auch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gedacht zu haben. Auf den Straßen Washingtons, New Yorks und anderer Großstädte kam es mitten in der Nacht zu spontanen Freudenkundgebungen. Eine populistische Zeitung preschte mit folgendem Titel vor: „Wir haben ihn! Endlich wurden wir gerächt!“ Einige Journalisten und Intellektuelle waren jedoch erstaunt über die Formulierung, deren sich der Präsident bedient hatte. Sie fragten sich, wie ein derart vernünftiger Mann, der einmal Jura gelehrt hatte und sich im allgemeinen sehr legalistisch gab, wirklich denken konnte, daß der Gerechtigkeit Genüge getan worden sei. Unser Rechtssystem verlangt, daß ein Verdächtiger vor einem Gericht gehört wird, das über ihn urteilt; das setzt die Anlegung einer Akte, Beweise und den Austausch gegensätzlicher Argumente zwischen Anklage und Verteidigung voraus. Das Urteil muß in einem fairen Prozeß gefällt werden; und im Falle der Verurteilung muß die Strafe einem Verfahren gemäß vollstreckt werden, das seinerseits genau festgelegt wurde. Indem die Regierung der Vereinigten Staaten beschloß, den Verdächtigen (wenngleich an seiner Schuld keinerlei Zweifel bestand) schlicht und einfach zu töten, hat sie – so hat es zumindest den Anschein – genau jenen Typus von Gerechtigkeit gewählt, den die gesamte abendländisch-westliche Kultur seit mehr als 2 000 Jahren ablehnt: die Rache. Nun war es aber gerade Bin Laden gewesen, der sein Handeln unentwegt im Namen der Rache gerechtfertigt hatte. Will man die Rache verstehen, kann man sich vorstellen, daß sie einer gewaltsamen Logik der Gegenseitigkeit folgt, die in bestimmten Kulturen unter dem Namen der „Rachejustiz“ zweifellos ihre Legitimität besaß. Aber kann man heute noch darauf zurückgreifen, ohne unser gesamtes Rechtssystem zu verleugnen, das auf dem Prinzip der Streitschlichtung und auf dem Gesetz beruht? 

(…)

Islamistischer Terrorismus und der Westen

Wir haben es zu Beginn dieser Untersuchung gesehen: Der Typus von Terroraktion, den die Anhänger Al-Qaidas anwenden, wird explizit als rächende Antwort auf eine Reihe von Handlungen in Vergangenheit und Gegenwart präsentiert, deren sich der Westen gegenüber der islamischen Welt schuldig gemacht habe. Diese Kritik am Westen ist nicht neu: Sie wurde bereits im Laufe von beinahe hundert Jahren des antikolonialistischen Kampfes formuliert und dokumentiert, insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der die nationalen Befreiungsbewegungen in den Vordergrund rückten. Das waren in der Regel laizistische, oftmals sozialistische und manchmal auch kommunistische Bewegungen; für alle war der Nationalismus ein zentrales Element, was bedeutet, daß ihre Kämpfe in spezifischer Weise mit dem Ziel verbunden waren, die Unabhängigkeit eines unter fremder Kontrolle stehenden nationalen Territoriums zu erkämpfen. Weder in Indien noch in Vietnam, weder im Mittleren Osten noch im Maghreb galt der religiöse Faktor als entscheidendes Element der Gleichung. Daß die Bezugnahme auf die Religion für Gruppen wie Al-Qaida derart zentral wurde, ist etwas völlig Neues, das es zu diskutieren und soweit wie möglich zu verstehen gilt. Mehr noch: Die Tatsache, daß diese religiöse Dimension von Gruppen aus dem Bereich des Islam und keiner anderen Religion in Anspruch genommen wird, wirft auch wesentliche Fragen in bezug auf den Islam auf.

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Sobald die Beziehung zwischen dem Islam und dem Westen von den Fundamentalisten als ein Wettstreit verstanden wird zwischen einer Ordnung, die auf einer letzten Wahrheit – einer göttlichen Offenbarung – gründet, und einer anderen Ordnung, die auf eine solche Wahrheit unberechtigterweise Anspruch erhebt, indem sie sich vor allem auf materielle (wirtschaftliche, technische, militärische) Macht stützt, ist es unvermeidlich, daß jede Form von Ungleichheit – selbst ohne irgendeine Form von Herrschaft – von einigen als kränkend, ja sogar erniedrigend empfunden wird und den Wunsch erzeugt, diese Ungleichheit um jeden Preis zu beseitigen. Daß die Terroristen diese Wiedergutmachung in einer Aktion anstreben, die zuallererst symbolischen Charakter besitzt – per Zufallsprinzip beliebige Menschen zu treffen, die der für schuldig befundenen Kultur angehören –, erscheint jedoch sogleich als ein Eingeständnis, daß die beklagte Vorherrschaft immer noch wirksam ist. Auch aus diesem Grund handelt es sich nicht um einen „Krieg“, sondern um die Inszenierung einer Revanche, die angesichts einer für unerträglich erachteten Erniedrigung als zwingend notwendig dargestellt wird. So sehen das zumindest die Anhänger von Al-Qaida.

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Schicksal im Nirgendwo

Bin Laden ist tot. Nach dem alten Gesetz der Gegenseitigkeit der Gewalt, auf das er sich berief, hat er „bezahlt“. Wie Max Weber in einem bekannten Text in Erinnerung rief, ist der Staat zuallererst dadurch definiert, daß er sich das Monopol auf die legitime Ausübung von Gewalt vorbehält. 37 Im Gegenzug müssen wir zugeben, daß in staatenlosen Gesellschaften die Rachejustiz (die etwas anderes ist als die reine Rache) ihrerseits legitim ist: Sie ist öffentlich, kodiert und begrenzt. Die Rache hingegen ist unbestimmt und grenzenlos; in einem Rechtsstaat, wie alle modernen Staaten es sind, kann sie nicht zugelassen werden. Wir müssen also klar anerkennen, daß die Exekution Bin Ladens unter juristischen Gesichtspunkten nicht dem Begriff einer auf Rationalität gegründeten Justiz entspricht, wie er in unseren Rechtssystemen angelegt ist, angefangen bei dem der Vereinigten Staaten.

Ihn exekutiert zu haben läuft darauf hinaus, ebenjenen Typus der gewaltsamen Aktion zu legitimieren, den der Al-Qaida-Chef selbst für sich in Anspruch nahm. Wenn die amerikanische Öffentlichkeit kaum auf diese Verletzung der Rechtsprinzipien reagiert und sich sogar ein um das Recht besorgter Präsident über diese Prinzipien hinweggesetzt hat, dann konnte dies deshalb geschehen, weil es nicht mehr darum ging, die beispielhafte Einhaltung des Gesetzes zu gewährleisten, sondern darum, ein tiefverwurzeltes Bedürfnis nach Vergeltung zu befriedigen, das im Wesen des Massakers vom 11. September 2001 begründet liegt. Da war ein mächtiger affektiver Impuls mit im Spiel, der in der Psyche eines jeden Menschen verankert ist, in besonderer Weise aber auch mit der Geschichte der amerikanischen Nation und ihrer Einstellung zur Todesstrafe verbunden ist.

Letztere wird in erster Linie nicht als Sanktion verstanden, die das begangene Verbrechen betrifft, sondern eher als ein Recht der Opfer, für die erlittene Kränkung und den Verlust eines geliebten Menschen Vergeltung zu erwirken und ihre Würde wiederzuerlangen. Wir haben es hier mit einer Situation zu tun, die von einem Symbolismus unvordenklicher Formen geprägt ist, den niemand – jedenfalls niemand aus der politischen Klasse – zu verstehen und noch weniger kritisch zu bewerten versucht, da er aufs engste mit weitverbreiteten Affekten verbunden ist, die in Frage zu stellen ziemlich riskant wäre.

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