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Cover Lettre International 100, Max Grüter
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LI 100, Frühjahr 2013

Der Geist der Empörung

Ein Gespräch mit Stéphane Hessel wenige Monate vor seinem Tod

(…)

Heinz-Norbert Jocks: Wie erklären Sie sich, daß, obwohl sich so viel Haarsträubendes und Unerträgliches wie der Irakkrieg oder jetzt die Finanz- und die Europakrise ereignet, keine wirklich große Empörung breitmacht? Weder in Deutschland noch in Frankreich und auch nicht in den Vereinigten Staaten? Überall hält sich der Protest in überschaubaren Grenzen. Was verhindert eine massenhafte Artikulation des Unbehagens?

Stéphane Hessel: Sie meinen, es wird zu wenig protestiert? Was geschieht, wird akzeptiert, und die Empörer stellen nur eine kleine Gruppe dar? Wenn Sie wissen wollen, woran es liegt, daß die Empörung ausbleibt, so muß man sich erst einmal im klaren darüber sein, daß dies heute nicht so einfach ist. Wir leben in einer Konsumgesellschaft, und Konsumgesellschaften haben nichts Revolutionäres an sich. Wir lassen uns einnebeln, vereinnahmen und einfangen. Was heute zählt, ist das Materielle, und weil das Materielle durch die Krise, die wir derzeit erleben, nicht mehr so einfach zu haben ist, tritt die Empörung seitens derjenigen Gruppierungen auf, die so nicht weitermachen wollen, wie die Konsumgesellschaft es ihnen aufdrängt. Dadurch wächst die Empörung. Die Marktkräfte, die uns regieren, haben, solange sie nicht in einen Strudel der Krise geraten, außerdem genügend Kraft, um die Armut niedrig zu halten, und es gelingt ihnen sogar, immer noch etwas dazuzutun, damit alles immer noch ein bißchen besser aussieht. Dieses System geriet jedoch mit der Krise 2008 mehr und mehr aus den Fugen. Wir erleben derzeit einen höchst kritischen Moment nicht nur bezogen auf die Frage der Gerechtigkeit, sondern auch im Hinblick auf den Zustand der Natur. Ja, wir befinden uns in großer Gefahr. Deshalb ist die Empörung für die Jugend das natürliche. Mit dem Büchlein Empört Euch! treffe ich auf enorm große Zustimmung. Keiner hat mir entgegnet: „Es nützt doch nichts. Was soll man sich empören? Wir können doch so weiterleben wie bisher.“ Solche Töne hört man nicht mehr. Wir leben nicht länger in einer unwidersprochenen, akzeptierten Gesellschaft, sondern in einer bekämpften.

(…)

Ist die Offenheit gegenüber anderen Kulturen und Religionen vielleicht nur von wenigen Menschen aushaltbar? Woran liegt es, daß viele diese Liebe zum Anderen nicht kennen? Liegt es daran, daß das Bewußtsein der Konsumenten von den Mächtigen künstlich in einer Enge und schmalspurig gehalten wird?

In den letzten fünfzig Jahren ist das, was ich „Konsumgesellschaft“ nenne, so dominant geworden, daß es alles überwiegt. Es stellte sich heraus, daß die beiden Ideologien, hier die kommunistische und dort die neoliberale, die uns hätten führen können, maßlos gescheitert sind. Wir stehen jetzt vor der Möglichkeit, weder das eine noch das andere fortzusetzen, und wir können den Begriff der „Demokratie“ so behandeln, wie er ursprünglich gedacht war. Der Wille und das Vorwärtskommen der Nichtprivilegierten stellen dabei eines der wichtigsten Elemente der Weltgeschichte dar. Wir  können damit rechnen, daß das Neue etwas sein wird, das weder nur Staat noch nur Markt, sondern ein Vertrauen in das Gemüt und Gefühl der Menschheit im allgemeinen ist. Dieses kann uns vorwärts- und weiterbringen und zu einem Frieden und einer Governance der Welt verhelfen, die keine einzelne Kultur tradiert, sondern die eine Möglichkeit des Zusammenlebens auch in institutionellem Sinne schafft. Wir brauchen eine Neuorganisation der Vereinten Nationen, die darauf ausgerichtet ist, die Völker, wie es in der Charta steht, zueinanderzubringen. Die Betonung liegt hier auf den Völkern und nicht auf den Regierungen. Das ist nicht leicht zu erreichen, aber Inhalt unserer Hoffnung.

Was macht den Unterschied aus: hier eine Kooperation der Regierungen und dort eine der Völker?

Der Fehler der Vereinten Nationen ist, daß dort bisher nur Regierungen zusammengetreten sind. Es gibt den Artikel 71 der Charta, wo von Nichtregierungsorganisationen die Rede ist, die dazu beitragen können und sollen. Das hat es in den letzten Jahren mehr und mehr gegeben. Wir leben zwar immer noch in Zeiten, wo Regierungen alles bestimmen. Aber der Einfluß von Nichtregierungsorganisationen ist in den letzten fünfzig Jahren größer geworden und kann noch größer werden. Bewegungen wie das Sozialforum, das vor einiger Zeit in Brasilien zusammentrat, derartige Nichtregierungsgruppen und Netzwerke, bedeuten ein Zusammenkommen der unterschiedlichsten Leute. Wichtig ist heute, daß gerade die junge Generation mit Werkzeugen ausgestattet ist, die es leichter machen, sich zu organisieren. Wir leben längst in einer Welt, wo die Regierungen zwar immer noch das Sagen haben, sich aber immer mehr Menschen zu Gruppen mit immer größerem Einfluß zusammenschließen. Wenn es uns nicht gelingt, zusammenzuleben, droht der Untergang. Die Gefahr führt die Menschen zusammen und bildet mit Hilfe der Hoffnung eine Dialektik. Man macht sich erst klar, was man tun kann, muß und soll, wenn man in Gefahr ist und diese sieht. Es kommt darauf an, daß die Völker mit ihren Netzwerken die Regierungen so stark unter Druck setzen, daß diese tun, was gut für die Völker ist.

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