LI 69, Sommer 2005
Made in China
Die Arbeiter von Guangdong in der globalen ProduktionsschlachtElementardaten
Genre: Literarische Reportage / New Journalism
Übersetzung: Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay
Textauszug
(…) Die Fabrik lag in einem kleinen Dorf namens Bailijun im Bezirk  Pingfu. Der Besitzer, ein Hongkong-Chinese, war bereits seit 1984 dort,  trotzdem machte alles noch einen provisorischen Eindruck. 200 Arbeiter  produzierten unter seiner Regie Billigschmuck für den internationalen  Massenmarkt. Zwar gab es örtliche Arbeitsschutzrichtlinien, aber darum  scherte sich niemand. Der Firmenchef hielt sich oft selbst in der  Werkhalle auf. „Damals hatte er nicht mal ein Auto“, sagte Wu. „Doch  1993 hatte er plötzlich vier, eines davon ein Mercedes.“
Wu  verdiente hundert Yuan im Monat, wovon er sechzig zum Leben brauchte.  Erst hatte er nur vorgehabt, ein paar Jahre lang Geld zu verdienen, um  dann in sein Dorf zurückzukehren, aber er gewöhnte sich an das Leben in  der Stadt. 1992 kam seine Frau nach. In den ersten zwei Jahren wohnten  sie getrennt, jeder in einem überfüllten Schlafsaal mit acht bis zehn  anderen Arbeitern, bevor die Fabrik ihnen erlaubte zusammenzuziehen.  Ihre beiden Kinder hatten sie in der Obhut von Wus Eltern  zurückgelassen. Sie sahen sie alle paar Jahre, wenn sie genügend Geld  und Urlaubstage für die weite Reise angesammelt hatten. Zwischenzeitlich  schrieben sie ihnen. Ein Brief brauchte einen Monat.
Gleichwohl  war Wu nicht unzufrieden. Zwölf Stunden saß er an einer Schleifmaschine  und bearbeitete Halbedelsteine. In der Nebensaison hatte er zwei freie  Tage im Monat, in der Hauptsaison nur einen, wenn überhaupt. Wu empfand  das nicht als übertriebene Belastung. Er war jung, und jeder, der auf  dem Land groß geworden war, war harte Arbeit gewöhnt. Was zählte, war,  wieviel er der Familie am Monatsende schicken konnte. Als dann das Werk  erweitert wurde, machten sich immer mehr Mitglieder seiner verzweigten  Familie auf die Reise nach Shenzhen. Zuletzt arbeiteten fünfzig Cousins,  Cousinen, Onkel, Brüder und Schwäger für Lucky Gem. In den zehn Jahren,  in denen er dort angestellt war, schwoll die Belegschaft auf über  tausend Arbeiter an. 1997 wurde das Werk nach Huizhou verlagert, da  Shenzhen zu teuer geworden war.
Während Herr Wu erzählte, fuhren  wir weiter zu anderen ehemaligen Arbeitern von Lucky Gem. Wir bogen von  der Hauptstraße ab und fuhren auf einer Schotterpiste, die in einem  Labyrinth aus kleinen Sträßchen, geborstenem Asphalt und mehr oder  weniger planlos hingesetzten Behausungen endete. Einige davon hatten  weiß gekalkte Wände und rote Ziegeldächer, Zeugnisse einer früheren  unschuldigeren Landschaft, die nun mit hastig errichteten Betonbaracken  um Raum kämpfen mußten, die Bauern errichtet hatten, um schnelles Geld  zu machen. In einer dieser Baracken, einem fünfgeschossigen Bau mit  einem am Sockel verlaufenden offenen Abwasserkanal, lebte Herr Wu. Seine  Frau war zurück nach Sichuan gezogen.
Wir stiegen die nackte  Betontreppe hinauf, folgten einem dunklen Betonkorridor und standen  schließlich in einem großen Raum mit einem Bett, einem Tisch und zwei  Plastikhockern in Kindergröße. Herr Wu saß auf dem Fußboden, an die Wand  gelehnt, den Kopf nach hinten geneigt, damit die langen Haare nicht  seine Augen verdeckten. Ich ließ mich auf einem Hocker nieder. Von einem  Kleiderbügel, der an einem Nagel in der Wand hing, baumelte ein kleiner  Plastikspiegel. Ein Elektrokabel verlief an der Decke bis zu einer  Neonröhre. Die mit Insektengittern versehenen offenen Fenster ließen  frische Luft ein, aber der Raum war feucht und stickig. Die beiden  kleinen Ventilatoren wälzten diese Stickluft nur um. Auf dem Tisch lag  ein Päckchen Spielkarten, die Ränder schwarz vom Gebrauch.
Andere  Arbeiter blieben an der Tür stehen und starrten mich an, während Wus  Freunde eintrafen, die Flip-Flops im Flur abstreiften und sich auf den  Boden oder auf das Bett setzten, um ihre Geschichte zu erzählen. Ein  dünnes Blatt Papier machte die Runde. Darauf notierten sie ihren Namen  und ihr Herkunftsdorf. Alle waren Bauern aus Sichuan. Alle waren  verheiratet, alle hatten Kinder, und sie alle sahen einem frühen Tod  entgegen.
Keiner der Männer in Wus Zimmer arbeitete noch für  Lucky Gem. Herr Wu zeigte auf einen kleinen Mann, der sich still an die  Wand gesetzt hatte, die Beine vor sich ausgestreckt. Sein Gesicht war  bleich. Liu Huaquan, so Wu, war der erste, der krank geworden war. Liu  nahm es mit einem Lächeln zur Kenntnis, wohl aus einem eigenartigen  Stolz über den Spitzenplatz. Die ersten Symptome, Atemnot und Husten,  machten sich 1999 bemerkbar. Die Ärzte diagnostizierten eine  Tuberkulose, und zweieinhalb Jahre lang zahlte er 300 Yuan monatlich für  die Behandlung. Doch sein Zustand verschlechterte sich zusehends, und  als er im Zentrum für Berufskrankheiten in Guangzhou ein zweites  Gutachten einholte, hieß es, er habe Silikose.
„Von so etwas  hatte ich noch nie gehört“, sagte Liu. „Sie sagten, es sei  eindeutig berufsbedingt und ich solle aufhören zu arbeiten. Sie sagten  auch, ich solle von der Fabrik Schadenersatz verlangen. Ich wollte aber  lieber arbeiten. Ich will es immer noch. Ich habe eine Frau und zwei  Kinder. Aber inzwischen verlangt man überall ein Gesundheitszeugnis, und  ich kriege keine Stelle mehr.“ Sein Gewicht hatte sich von 60,5  Kilo auf 45 Kilo verringert, und er schaffte es kaum die Treppe hoch.  Silikose ist unheilbar, aber mit der richtigen Behandlung läßt sich ihr  Verlauf verzögern. Liu hatte eine Einmalzahlung aus irgendeinem  Sozialfonds erhalten, wollte aber das Geld nicht für eine  lebensverlängernde Therapie ausgeben, da er befürchtete, für seine Frau  und seine Kinder bliebe dann nichts mehr übrig. Seine einzige Hoffnung  bestand darin, die Fabrik irgendwie zu einer Entschädigung zu zwingen. „Daß  so etwas geschehen könnte, wäre mir im Traum nicht eingefallen“,  sagte er. „Ich dachte, ich arbeite da eine Zeitlang, kehre  irgendwann in die Heimat zurück und mache mich selbständig.“
Einer  der Männer war auf Wus Bett eingeschlafen und schnarchte.
Silikose:  Arbeiter im Steinbruch bekommen sie, Bergleute bekommen sie. (Auch wenn  in England nur noch wenige Zechen in Betrieb sind, ist das Entschädigungsprogramm  für ehemalige Bergleute eines der größten der Welt.) Die Krankheit  führt zu Entzündungen und Gewebeveränderungen in der Lunge durch das  Einatmen von quarzhaltigem Staub, jener Art von Staub, die an den  Schleif- und Poliermaschinen bei Lucky Gem anfiel. Nach Lius Befund  wurde den anderen nach und nach klar, daß auch sie krank waren. Alle  ließen sie sich im Zentrum für Berufskrankheiten untersuchen, und alle  erhielten sie ihr Todesurteil ausgehändigt. Insgesamt wurde bei 45  Arbeitern von Lucky Gem Silikose diagnostiziert.
(…)
 
   
   
   
  