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Cover Lettre International 63, Max Grüter
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Inhaltsverzeichnis

LI 63, Winter 2003

Vom Geist Kaschmirs

Ein Ort, stärker als die Zeit - Reise in einen geschundene Region

Eine Autostunde Richtung Norden, länger braucht man nicht zu Khir Bhavani. Der Tempel "seine genaue Position lautet 74°48’ nördlicher Breite, 24°13’ östlicher Länge "liegt gleich an der Straße von Srinagar nach Leh. Ich bin oft hierhergekommen, und jedes Mal umfing mich ein warmes Gefühl der Heimkehr, sobald der Wagen das klare Wildwasser des Sind überquert hatte. Khir Bhavani zählt nur wenige Besucher, der Blumen-und-Räucherstäbchen-Mann steht wie immer am Tor und begrüßt mich mit ausgesuchter Herzlichkeit, indem er meine Hand schüttelt und dann auf sein Herz zeigt. "Aap theek hain? Aao chai piyo", sagt er.

Mit seinem graumelierten, ungepflegten Haarschopf, der eher an einen Mop erinnert, dazu dem räudigen Bart und den Augen, von denen eines permanent geschlossen ist, während das andere um so wilder hinter den verschmierten Brillengläsern rollt, sieht Ghulam Mohammed Ganai aus wie ein Bandit. Sein Vater war Inhaber des Tempelladens, und nach seinem Tod übernahm Ganai das Geschäft. Das war vor 17 Jahren.

"Moslems kommen nicht hierher, nachdem sie Fleisch gegessen haben. So lautet die Regel. Aber das wird auf die Dauer ziemlich kompliziert, sich ständig zu überlegen, wann man hier sein darf und wann nicht. Gab es zu Mittag Fleisch, war der Tag für mich gelaufen, und abends dasselbe. Also bin ich Vegetarier geworden. Zu Eid in diesem Jahr hat meine Familie ein großes Festmahl ausgerichtet und wollte mich überreden, daran teilzunehmen. Aber der Gedanke, daß ich IHR dafür fernbleiben müßte …, war so, daß ich es am Ende nicht getan habe …", erklärt er mit schiefem Grinsen.

"Und wie ist die Lage hier in der Gegend?"

"Im Augenblick ruhig. Es gibt nicht mehr viele, die sich auf die andere Seite der Grenze absetzen. Die wenigen, die es trotzdem gemacht haben, sind alle tot. Wer immer eine Waffe in die Hand nimmt, stirbt", sagt er, und seine Stimme fällt um eine Oktave. "Es gab natürlich immer Verrückte. Hubba zum Beispiel. Hat sich den Hisbollah-Mudschaheddin angeschlossen. Dabei hat er studiert, in Delhi, man stelle sich vor. Zwei Jahre hat er von da an noch gelebt."

Umar Butt stößt zu uns, seit 22 Jahren Hausmeister des Tempels und derselbe, der bei meinem ersten Besuch von dem Grenztruppen-purohita angeschnauzt wurde. Er begrüßt uns feierlich und hockt sich neben uns auf die Erde.

"Und dann natürlich Hamid", fuhr Gani fort. "Du kennst doch Hamid Gadda, oder?"

"Ja."

"Na ja, Hamid war der klassische Schulversager, aber den Tempel hat er geliebt. Hat die Schule ge schwänzt, seine Bücher hier vor dem Tor in die Ecke gefeuert, hier, genau hier war das, und hat den ganzen restlichen Tag nur noch bhajans gesungen. Es gab hier einen alten sadhu, der vor ein paar Jahren gestorben ist. Hamid war sein Schüler."

Ich bin mittlerweile fasziniert von diesem Ort und von der ruhigen, großzügigen Einstellung der Moslems, ganz zu schweigen von der der Pandits, denn ich kenne keinen einzigen anderen Tempel in Indien, der einen Moslem als Hausmeister beschäftigt oder in dem Moslems jederzeit willkommen sind. Umar Butt, der still zugehört hat, scheint meine Gedanken zu lesen. "Hum mannte hain", sagt er mit viel Gefühl. "Wir glauben an diesen Ort. Es ist übrigens nicht so, daß nur die Hindus glauben und daß wir die Statue der Göttin bloß als ein Stück Stein ansehen. Auch wir halten sie für heilig. So werden im Dorf beispielsweise keine Kühe geschlachtet. Und immer wieder sieht man auch Moslems, die der Quelle Milchopfer bringen "genau wie die Hindus."

"Aber machen euch die Jama’atis keine Schwierigkeiten? Wollen sie nicht die reine Lehre des Islam von allem fernhalten, was ihnen als korrumpiert erscheint?"

Darüber können die beiden nur lachen. "Die Jama’atis können schon längst nicht mehr so auftreten wie früher", sagt Umar Butt mit überraschender Vehemenz. "Sie haben so viel Angst davor, daß die Armee sie einmal für ihre Verbindungen zur Hisbollah einkassiert, daß selbst die größten Fanatiker unter ihnen schriftliche Erklärungen abgeben, mit dieser Organisation nichts zu tun zu haben."

"Und was ist jetzt mit der Quelle?"frage ich, denn ich kenne natürlich die Legenden, die sich um sie ranken.

"Die Quelle ist schwarz", seufzt Umar Butt. "Sie war einmal weiß und manchmal sogar rosa. Das erste Mal, als das Wasser schwarz wurde, war 1984. Kurz darauf erfuhr ich vom Tod Indira Gandhis und daß in den Straßen von Delhi Sikhs abgeschlachtet wurden. Schwarz wurde das Wasser auch, als hier der Bürgerkrieg ausbrach oder als die ersten Luftangriffe auf Kargil geflogen wurden …"Langsam, als wolle er sichergehen, nichts auszulassen, zählt er die Ereignisse auf. "Erst 1995 wurde das Wasser wieder weiß. Aber seit einem Monat ist es abermals schwarz. Wenn sich etwas zum Schlechten wendet, sieht man es zuallererst an diesem Wasser."

Die Tage in Anantnag (wörtlich: endloser Frühling) sind weich wie pashmina. Die Sonne streichelt unsere Haut mit der daunigen Leichtigkeit von chiru-Wolle. Shafi Chaman ist ein Künstler, der seine Berufung gewissermaßen vor sich herträgt. Alles an ihm, sein federnder Gang ebenso wie sein anmaßendes Lächeln, drückt sein Künstlertum aus, und die Leute verneigen sich davor. So stolzieren wir in unseren pherans die Straße entlang, ("Hör mal, Anfang der Neunziger machten sich hier noch Mast Gul und seine Kumpane mit ihren AK47 breit"), vorbei an Bäckereien, den Läden der Kupferschmiede, vorbei an Schrein und Moschee. In diesem Moment könnten wir auch Cézanne und Monet sein. Die Leute hier haben traditionell große Hochachtung vor Künstlern. Über vielen Tassen besten Darjeeling-Tees erzählt mir Shafi von den Reisen seines Freundes Ibn Batuta durch China, aber so, als hätten sie erst gestern stattge funden.

Später besuchen wir Mattan Nag. Mit der Zeit ist das regelrecht zu unserem Ritual geworden. Zu jedem Besuch in Anantnag gehört der Besuch der Quelle von Mattan. Und jedes Mal bin ich aufs neue überwältigt von dem intensiven Blau, in dem sich ein Schwarm zuckender, springender, goldgefleckter Welse bewegt wie ein einziges Wesen und das Wasser in ein tanzendes Mosaik reinen Glitzerns verwandelt. Wir werfen Puffreis in das Gewimmel, und die kleine Nishan klatscht glucksend mit den Patschhändchen und sabbert auf den Arm ihres Vaters. Ihre Mutter, ein Raquel-Welch-Lookalike, wandelt mit Schwiegermutter Jaana um die Quelle, bis beide den Tempel erreichen, wo sie mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen verharren wie zwei fromme Pandits beim Gebet. Niemand, am wenigsten sie selbst, stört sich an der Tatsache, daß sie eigentlich Moslems sind, Moslems vor einem Hindu-Schrein. Aber sie lassen sich einfach nicht nehmen, was sie ihr ganzes Leben gern gemacht haben.

Wasser, Quelle, Fels, Höhle, Baum, Berg "Dinge, die in Kaschmir von Pandits und Moslems gleichermaßen als etwas Heiliges betrachtet werden, weil dort der Weltgeist zu ihnen spricht. Tatsächlich liegen die religiösen Unterschiede hauptsächlich in Äußerlichkeiten. Darunter sind sie Animisten, die die Traditionen ihrer gemeinsamen Vorfahren nie vergessen haben. Auf Schritt und Tritt stößt man in Kaschmir auf Schreine und Tempel, die in Felsnischen geschlagen, unter Bäumen oder über Quellen errichtet wurden "allesamt Inseln des Friedens in diesen unruhigen Zeiten. Shafi zeigt auf den Tempel unmittelbar hinter der Moschee von Bab Dawood Khaki. Ein Nachkomme des großen Baba, der Imam der Moschee, hat die Schlüssel und geht voran.

Die Sharika-Devi-Bal-Quelle ist winzig, der mandir darüber kaum größer als ein Wandschrank, doch das tut ihrer Bedeutung für die Pandits von Anantnag keinen Abbruch. Knirschend öffnet sich das Tor, und ich schaue hinein. Der Tempel wirkt verwaist und ist in einem traurigen Zustand, nur ein paar verblaßte Bilder der Göttin schmücken die Wände. Aus der Quelle rinnt schwarzer Schlamm über den Marmorboden. Eine verrostete Pumpe liegt vergessen in der Ecke.

"Unsere Frauen kommen ab und zu zum Saubermachen, aber gegen das Wasser können sie nichts ausrichten", entschuldigt sich der Imam. "Ich habe Pyare Lal Handoo bei seinem letzten Besuch im vergangenen Jahr über den Zustand des Tempels informiert, aber ihr wißt ja, wie die von der Regierung sind."

Ich trete an die Quelle heran und schaue hinein. Die Wasseroberfläche ist stumpf und glanzlos wie das Auge eines Toten.

"Im Winter 88/89 wurde das Wasser plötzlich schwarz und hat hier alles überflutet. So etwas ist zum letzten Mal vor fünfzig Jahren geschehen "damals hatten wir eine Seuche hier, die viele Tausend Menschen das Leben gekostet hat", erklärt er ernst.

"Ja, eine richtige Überschwemmung war das", erinnert sich Shafi. "Das Wasser lief direkt an meinem Haus vorbei. Und die Pandits bekamen es mit der Angst zu tun. Einige sprachen schon von einer Katastrophe und wollten lieber heute als morgen weg. Aber Sorgen machten wir uns alle. Irgend etwas Schreckliches lag in der Luft, das spürten wir."

(...)

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