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Cover Lettre International 33, John Baldessari
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Inhaltsverzeichnis

LI 33, Sommer 1996

Tempel des Eros

Khajuraho, das Kamasutra und Sexualität im Indien von heute

Das Kamasutra, irgendwann im 3. oder 4. Jahrhundert entstanden, ist die bekannteste indische Abhandlung ¸ber geschlechtliche Liebe. Wie die erotischen Skulpturen in den Tempeln von Khajuraho gelten die Beschreibungen des Kamasutra im großen und ganzen als präzise Darstellung sexueller Sitten und Gebräuche im alten Indien. Die 1250 Verse oder sutras des Buches sind in sieben Abschnitte untergliedert: allgemeine Betrachtungen; über den Liebesgenuþ; über den Verkehr mit Mädchen; Rechte und Pflichten einer verheirateten Frau; über die Frauen anderer Männer; Hetären und geheime Praktiken. Vatsyayana, der legendäre Autor des Kamasutra, präsentiert das Buch nicht als sein eigenes Werk, sondern als Sammlung von Meinungen verschiedener früher Meister auf diesem Gebiet. Dazu zählt auch Auddalaki Svetaketu (etwa 10. Jahrhundert vor Christus), dem die Einführung eines neuen Diktums für den indischen Sittenkodex zugeschrieben wird, nämlich das Verbot, mit den Ehefrauen anderer Männer zu schlafen.

Im Gegensatz zu seinem pikanten Ruf ist das Kamasutra ein eher nüchternes Werk. Sein Autor, der angeblich enthaltsam lebte, verlieþ nie die Grenzen hinduistischer Wissenschaft. Er zitiert die Meinung anderer Spezialisten zu einem Problem, analysiert die Schwächen ihrer Argumentation, betrachtet m gliche L sungen des Problems, entscheidet sich dann für die beste und gibt seine Gründe dafür an. Auch die vielen Aufzählungen, einschlieþlich jener berühmten, die verschiedene Stellungen beim Geschlechtsverkehr umfaþt und von denen einige selbst die Fähigkeiten eines durchtrainierten Akrobaten übersteigen, gehen keineswegs über das hinaus, was man von einem Gelehrten bei der Bewältigung seiner Aufgabe erwarten durfte. Das Ziel war Verständlichkeit, die Vielfalt der Stellungen zeigt uns nicht nur, was ist, sondern was sein kann; sie stellt die Grenzen unserer sexuellen Phantasie auf die Probe. Vatsyayana bemüht sich, alles anzuführen, was im Bereich der Sexualität auch nur im entferntesten m glich ist, obwohl einiges recht unwahrscheinlich klingt. Es ist die Suche nach der unendlichen Liebe, ein Versuch, Vollständigkeit zu erlangen unter Berücksichtigung all dessen, was relevant sein k nnte. Auf der anderen Seite hat das moderne Empfinden, das der Sexualität eine so hohe Stellung einräumt, daþ man glaubt, sie k nne die letzte Wahrheit über einen Menschen enthüllen, m glicherweise Probleme mit Vatsyayanas nüchterner Betrachtungsweise, und eine wissenschaftliche Er rterung des Themas Fellatio erscheint dem gleichen Empfinden, das sich in sexuellen Angelegenheiten keineswegs von seiner judäisch-christlichen Erblast befreien konnte, m glicherweise befremdend.

Auf den ersten Blick ist das Kamasutra nicht im geringsten radikal. Da es sich im traditionellen Gefühe der drei wesentlichen Lebensziele bewegt, sieht auch das Kamasutra ein tugendhaftes Leben im dharma (Frömmigkeit, Moral, Tradition) als höchstes Ziel der menschlichen Existenz, erst dann folgen artha (Erwerb, Bildung, Ansehen) und kama (erotische Liebe). Schon der allererste Vers deutet auf die von Vatsyayana vertretene Hierarchie hin? Er beginnt sein Werk über die Erotik mit dem Begriff dharma, also Tugend oder Gesetz. Insgesamt viermal betont er im Text, daþ das Hauptanliegen des Kamasutra keineswegs die Förderung der Leidenschaft sei. Im Gegenteil, ein Mensch, der das Buch wirklich versteht, weiß seine Sinne zu beherrschen. So beginnt das Kamasutra mit folgender sutra: "Dem dharma (Erwerb religiöser Verdienste), artha (Erwerb von Reichtümern) und kama (Lehre von der Liebe und dem Liebesgenuß) sei Ehre erwiesen! Dem dreifachen Ziel des Lebens soll dieses Werk gewidmet sein!" und es endet mit der Mahnung: "Wer den Sinn dieses Lehrbuchs kennt, der zähmt seine Leidenschaft, indem er dem dharma, artha und kama ihre Bestimmung wahrt, die sie auf der Welt einnehmen. Der Wissende also, der sich darauf versteht und auf dharma und artha achtet, erreicht sein Ziel, wenn er in der Verliebtheit handelt, ohne von blinder Leidenschaft erfüllt zu sein."

Vatsyayana ist jedoch kein bloßer Anhänger traditioneller ethischen Normen. Zwar ist er nicht offen rebellisch, untergräbt aber dennoch auf subtile Art überlieferte Wahrheiten, während er sie rein äußerlich akzeptiert. So hat die erotische Liebe in allen Abhandlungen über das dharma negative oder abwertende Konnotationen. Ein Vergehen, das unter dem Einfluß des kama begangen wird, ist unausweichlich ernster und fordert eine strengere Bestrafung als andere. Vatsyayana leugnet nicht, daß erotische Leidenschaft zu unerwünschten Folgen wie Verkehr mit Niedrigen, schlechte Unternehmungen, Unreinlichkeit und Vernichtung der Zukunft, ferner Nachlässigkeit und Unbesonnenheit führen kann. Er selbst schildert wohlbekannte Fälle von Menschen, die sich ins Unglück stürzten wegen ihres starrsinnigen Festhaltens am kama. In seiner Vernarrheit beschlief König Dandekya die Tochter eines Brahmanen, wofür er "samt Sippe und Reich" den Tod fand. Die Liebe des Götterkönigs Indra zu Ahalya und Ravanas Leidenschaft für Sita hatten sowohl für den Gott wie für den mächtigen Dämon katastrophale Folgen. Das kama birgt Gefahren und erfordert Wachsamkeit. Doch schnell wird klar, daß Vatsyayanas Faszination für die Sexualität das Bewußtsein ihrer Gefahren überwiegt. Die Unterwanderung der Tugend beginnt mit der wie immer völlig sachlich vorgetragenen Erklärung, daß die Taten des kama ein natürliches Bedürfnis sind, genauso wie Essen. Kama und Nahrung sind für das Gedeihen des Körpers unerläßlich. Man hört weder auf, Topfspeisen zu bereiten, weil es Bettler gibt, die sie wegessen könnten, noch unterläßt man die Aussaat von Getreide, weil es Gazellen gibt, die es abweiden könnten.

Die Trennung von Tugend und Sexualität wird am deutlichsten, wenn es um Ehebruch geht, der in allen dharma-Texten unmißverständlich als große Sünde verurteilt wird. Vatsyayana entschuldigt den Ehebruch nicht und folgt auch nicht dem Beispiel einiger sanskritischer Modepoeten, die wehmütig einer durch den Ehestand nicht behinderten Liebe nachtrauern oder das Nachlassen der Gefühle in der Ehe beklagen. Er steht irgendwo in der Mitte zwischen dem Priester und dem Dichter. Zwar mißbilligt er die freie Liebe, widmet aber trotzdem das gesamte fünfte Kapitel seiner Abhandlung der Kunst, mit den Frauen anderer Männer zu schlafen und zählt in fünfzehn sutras die Gründe auf, die es einem Mann erlauben, einer verheirateten Frau den Hof zu machen. Seine Einstellung zum Ehebruch läßt sich etwa so zusammenfassen: "Das ist verboten. Du solltest es nicht tun. Doch wenn du es aus bestimmten, verständlichen Gründen tun mußt, dann geh folgendermaßen vor. Natürlich wäre es besser, du wärst nie auf die Idee gekommen." Es ist klar, daß Vatsyayana, obwohl er den fundamentalen Rahmen des dharma nicht in Frage stellt, der allgemeinen Einstellung seiner Zeit folgt, die die Stellung der Erotik im menschlichen Sein und Tun auf eine höhere Stufe stellen will. Im Gegensatz zu dem, was lange Zeit als Lehre anerkannt war, befürwortet er, daß nicht nur die Aussicht auf Steigerung der Tugend oder Vergrößerung des Reichtums das menschliche Handeln bestimmen sollen, sondern auch die Aussicht auf Lust. Das Kamasutra stellt das Lustprinzip gleich mit allen ethischen und ökonomischen Grundsätzen, die das menschliche Verhalten prägen.

Um die Vorstellung, daß das Kamasutra sozusagen auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzt - Tugend und Vergnügen - richtig zu verstehen, müssen wir es daher in seinem sozialhistorischen Kontext betrachten. Hauptsächlich an die reiche Bürgerschicht gerichtet, entstand es in einer Zeit großen materiellen Wohlstands, den das Land dem blühenden Handel mit China und Rom verdankte. Die indische Gesellschaft tauchte gerade aus mehreren Jahrhunderten buddhistischer Unterdrückung mit einer recht düsteren Lebenseinstellung auf, die den Gott der Liebe mit mara oder Tod gleichstellt. Obwohl noch weit entfernt von der unbekümmerten sexuellen Freiheit der vor-buddhistischen Periode, wo Männer und Frauen, wie im Epos des Mahabbharata dargestellt, unter einem ausschweigenden Himmel lebten und liebten, der von lüsternen Göttern und himmlischen Huren wimmelte, unirdisch und unendlich begehrenswert zugleich, nur allzu bereit, Lust zu geben und zu nehmen, gewann die erotische Liebe allmählich wieder an Bedeutung. An den Höfen blühten Poesie und Drama auf, und die Liebe - ein äußerst sinnliches und zugleich von gegenseitiger Leidenschaft durchdrungenes Gefühl - wurde zum beherrschenden Thema, das jede andere Empfindung verdrängte.

Die eigentliche Herausforderung für die Einstellung einer Gesellschaft zur Sexualität ist ihre Haltung zur Partizipation durch die Frau. Literarische Werke der Zeit zeigen, daß Frauen eine bedeutsame und aktive Rolle in Liebesbeziehungen übernahmen. Die Frau war leidenschaftlich wie der Mann, von ihr gingen die gleichen Anreize aus wie von ihm. Männlichkeit wird keineswegs mit Eroberung gleichgesetzt. Tatsächlich zeigen die erhaltenen Gedichte der seltenen Dichterinnen, daß sie häufig freier im Ausdruck waren als ihre männlichen Kollegen.

Der aktive Genuß ihrer Sexualität durch Frauen wird im Kamasutra reflektiert und gefördert. Vatsyayana legt den Frauen das Studium des Kamasutra ausdrücklich ans Herz, selbst vor dem Eintritt in die Pubertät. Am liebsten hätte er, daß sie es auch nach der Heirat zu Rate ziehen, räumt jedoch realistisch ein, daß dies von der Meinung des jeweiligen Ehemannes abhängig sei. Zwei von sieben Abschnitten des Buches richten sich ausschließlich an Frauen - der vierte an Ehefrauen und der siebte an Kurtisanen. Der dritte Abschnitt versucht Männern die Sexualität eines jungen Mädchens zu erklären und betont, wie wichtig Rücksichtnahme und Sanftheit vor dem Geschlechtsverkehr ist, um ihr die Schüchternheit und Angst zu nehmen.

Mit dem Eintreten für die sexuelle Freiheit der Frau sah sich das Kamasutra der Feindseligkeit und Ablehnung durch die Priester konfrontiert. Die Abhandlungen über das dharma beispielsweise verurteilen jegliche Art von Prostitution. Auf einem Berg wächst kein Lotus, wo man Gerste sät, wird kein Weizen wachsen, eine Frau, die im Bordell geboren ist, kann nicht rein sein - so betonen sie gern. Die Prostituierte gehört zu den Individuen, von denen niemand, vor allem kein Brahmane, Nahrung annehmen sollte. In einem Atemzug mit Dieben genannt, gilt das Haus der Kurtisane als Ort, den die Polizei im Auge behalten muß - immerhin treibt sich dort jede Menge Gesindel herum. Im Gegensatz dazu ist die Kurtisane, wenn es überhaupt eine Heldin im Kamasutra gibt, diejenige, deren Wohlergehen Vatsyayana am meisten am Herzen liegt.

Ein weiteres Thema im Kamasutra ist die Ermutigung der Frau, eine aktive Rolle beim Geschlechtsakt zu übernehmen. Hier ist sie eher ein Subjekt im Reich der Erotik als ein passives Gefäß für die Lust des Mannes. Bei den vier Arten des Liebesvorspiels, die Vatsyayana beschreibt, übernimmt die Frau zweimal die aktive Rolle. Einmal umschlingt sie ihren Liebhaber wie die Liane einen Baum, bietet ihm die Lippen zum Kuß, wendet sich wieder ab, bis er rasend vor Erregung ist. Ein andermal, beim sogenannten "Baumbesteigen" stellt sie einen Fuß auf den des Mannes und den zweiten auf seine Schenkelgegend. Ein Arm liegt auf seinem Rücken, und der andere umfängt Schulter und Nacken, wobei sie so tut, als wollte sie an ihm hochklettern.

Es folgt ein ganzes Kapitel über männliches Verhalten bei Frauen und die Umkehrung der Geschlechterrollen. So empfiehlt Vatsyayana an einer Stelle, daß sich die Frau, wenn der Mann sein Pulver beim wiederholten Geschlechtsakt verschossen hat und sie noch nicht befriedigt ist, auf ihn legen und einen Dildo in seinen Anus einführen soll.

"Sie soll die Blumen im Haar durcheinander schütteln, ihr Lachen durch Seufzen unterbrechen, ihre Brüste auf seine Brust drücken, um ihr Gesicht zu verbergen, immer wieder ihren Kopf neigen und so die Handlungen nachahmen, die der Liebhaber vorher selbst ausgeführt hat. 'Ich, die ich eben besiegt worden bin, werde nun dich besiegen`, soll sie unter Lachen, Drohen und Schlägen sagen. Danach soll sie abwechselnd Scham, Ermüdung, Sehnsucht nach Aufhören zeigen. So soll sie den Koitus entsprechend den Gewohnheiten des Mannes vollziehen."

Vatsyayana klärt sie auf, daß selbst wenn ein Mann sich den Dildo im Anus wünscht, ihm dieser Wunsch möglicherweise peinlich ist. "Um seine Verlegenheit zu überspielen, lenk ihm mit Geplapper ab, während du verstohlen seine Unterkleider löst. Sollte er sich aus Schamhaftigkeit verkrampfen, liebkose das Innere der Schenkel, spreize mit der Hand die Pobacken und führe dann einen Finger oder ein anderes Instrument ein."

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