Direkt zum Inhalt
Cover Lettre International 51, Asad Azi
Preis: 9,80 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis

LI 51, Winter 2000

Innerer Feind, äußerer Feind

Holocaust versus Gulag oder von der Trivialisierung der Tragödie

Edward Kanterian: Vom "roten Holocaust" zu sprechen scheint in manchen Kreisen mittlerweile eine fest etablierte Redeweise zu sein. Was halten Sie davon?

Norman Manea: Das Wort Holocaust kommt aus dem Griechischen holokauston und bedeutet "durch Verbrennung dargereichtes Opfer". Es wurde zuerst bei der Übersetzung der Bibel verwendet für das "Gott dargereichte Feueropfer". Später bezog man es auf gewisse Pogrome. In den fünfziger Jahren begann man, damit den Mord an den europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs zu bezeichnen.
Nicht jeder war mit diesem Gebrauch des Wortes einverstanden, auch nicht alle Juden, aber es ging allmählich in das öffentliche Bewußtsein ein. Gleichzeitig trat auch das hebräische Wort Shoah auf, zum ersten Mal in dem 1940 in Jerusalem erschienenen Büchlein Der Holocaust und die polnischen Juden (in Ivrit). Beide Begriffe, Holocaust und Shoah, meinen die Katastrophe, in die die Ausnahmestellung der Juden unter den Völkern der Welt mündete. Ein Volk mit einer langen Geschichte von Verfolgungen und Massakern, deren "industrieller" Höhepunkt von den Nazis und ihren Handlangern verbrochen wurde.
Dieser Genozid ist gewiß nicht der erste in der Geschichte, auch nicht der erste im 20. Jahrhundert. Es gibt noch andere, sie alle Wahrzeichen des Schreckens in all seiner Vielfalt und Tragweite. Ich denke aber nicht, daß sie alle nur verschieden gefärbte Varianten einer und derselben Bezeichnung werden sollten, sei es als der "schwarze Holocaust" (der afrikanischen Sklaven in Amerika), der "rote Holocaust" (Gulag), der "gelbe Holocaust" (China unter Maos Terror, Kambodscha unter dem Pol Pots), der "grüne Holocaust" (Ruanda) usw.
Das Wort Gulag etwa, von Solschenizyn eingeführt, bezeichnet ziemlich präzise den bürokratisch organisierten Terror des sowjetischen Systems, der natürlich auch im restlichen Osteuropa stattfand. Das bedeutet nicht, daß das Wichtigste am Gulag, mit seinen Millionen und Abermillionen von Opfern und einer blutigen und makabren Geschichte, die bisher nur partiell erforscht wurde, sein Name ist. Der bloße Name war auch bei den anderen großen menschlichen Tragödien von nebensächlicher Bedeutung.
Nicht davon ist die Rede. Gerade wegen des historischen Verständnisses und wegen des Respekts gegenüber den Opfern muß eine gewisse Einzigartigkeit bewahrt werden.
Es ist letztlich nicht angebracht, alles unter einer weitläufigen Rubrik zu führen, die jeden Unterschied aufhebt. Es gibt wichtige Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen diesen Katastrophen, deren entsetzliche Wirklichkeit bekannt und anerkannt werden muß.
Diese Massenmorde stehen nicht in Konkurrenz zueinander und schließen einander nicht aus (wie würde denn dieser "Ausschluß" aussehen?). Ihre Bezeichnungen können nur je spezifische sein, wie die Ereignisse selbst in ihrer erschütternden Vielfalt.
Auch geht es nicht um eine Vereinnahmung des Leidens oder um die Inbesitznahme eines "Monopols", wie sich jene auf politische Effekthascherei bedachten "Kommentatoren" ausdrücken. Gerade sie scheinen damit eine völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Vielfalt all dieser menschlichen Tragödien zu beweisen.

"Um Auschwitz kommt keiner herum. Auschwitz ist der negative Kulminationspunkt unserer Zivilisation; es gibt nichts, was Auschwitz übertreffen würde. An diesem ungeheuerlichen Faktum wird man sich noch lange abarbeiten" (Imre Kertész in der NZZ).
Viele Osteuropäer würden nicht zu Unrecht auch den Gulag zu einem ungeheuerlichen Faktum zählen und auf die schonungslose Aufdeckung dieser anderen Monströsität unseres Jahrhunderts bestehen, die im Namen der marxistischen Ideologie geschah. Aber wie kann man sich erklären, daß das Argument "Man darf auch den Gulag nicht vergessen" nur dazu benützt wird, Kritik an der nationalistischen Vergangenheit, die angeblich einer Verschwörung von außen entstamme, im Keim zu ersticken?

Die menschlichen Tragödien sind einzigartig, allen Ähnlichkeiten zum Trotz. Jeder Mensch ist einzigartig. Ich möchte mich nicht auf eine detaillierte Analyse dieses furchtbaren Themas einlassen, sondern überlasse es anderen, die Frage wissenschaftlich und objektiv zu beantworten, ob Auschwitz bedeutungsschwerer ist als andere Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Was den Gulag angeht, so wurde dieser leider, wie Sie richtig sagen, zum propagandistischen Vorwand und nicht zum Thema einer echten Auseinandersetzung. Ein Vorwand für manche Rumänen, nicht nur den Westen zu beschuldigen, sondern das übliche Jammern über das Schicksal der doch immer so unschuldigen, Unrecht erfahrenden und ignorierten Heimat zu rechtfertigen. Das bedeutet nicht, daß es hinsichtlich des Gulags und Kommunismus keine berechtigten Vorwürfe gegen den Westen gibt. Man kann leider nachweisen, daß der Westen in vielen entscheidenden Situationen nur in seinem eigenen Interesse handelte, wenngleich dies wenig überrascht. Auch gibt es im Westen ein nur einseitiges oder gar entstelltes Verständnis des Ostens, was auf unterschiedliche historische Entwicklung, auf unterschiedliche Traditionen und Psychologien zurückführbar ist. Doch unser Thema wird nicht mit Hinblick auf den historischen und sozialen Kontext analysiert, sondern mit Slogans traktiert, leicht handhandbar in der Tagespolitik.

Holocaust versus Gulag?

Der Sieg, den die Trivialisierung allgemein über die Tragödie davonträgt, scheint sicherer denn je. Das hat man mehr als einmal hinsichtlich des Holocaust erlebt. Das Leugnen, Verschweigen, die Kommerzialisierung, Manipulation, Trivialisierung, Langeweile: dies sind wohl die Etappen einer nur allzu "menschlichen" Kurzlebigkeit des Gedächtnisses. Ich würde mich nicht wundern, wenn dies auch den Gulag und andere Tragödien des zu Ende gegangenen bzw. des neu begonnenen Jahrhunderts betreffen würde.
In Rumänien wird der Gulag oft verwendet, um die Auseinandersetzung mit dem Holocaust mundtot zu machen. In dieser absurden Olympiade des "ersten Opfers" gehen Tagespolitik und xenophobe Tradition Hand in Hand.

Im Westen wurde der Holocaust in den letzten Jahrzehnten ja ausgiebig diskutiert, und ein Ende ist nicht abzusehen.

Im kommunistischen Osten war das nicht der Fall. Es war ein tabuisiertes, wenn nicht sogar verbotenes Thema, obwohl es nicht die Kommunisten waren, die diese historische Mission der ethnischen "Reinigung" der Welt initiiert hatten. Die Gründe sind subtile, wenngleich nicht zu subtile, und sie verdienen eine Untersuchung eigenen Rechts.
Nach dem Untergang des kommunistischen Systems in Osteuropa hätte unter anderem die Diskussion des Holocaust nachgeholt werden sollen. Doch wen hätte dieses unbequeme Thema interessieren sollen? Etwa die neuen Machthaber, die plötzlich so viele Archive öffnen und kompromittierende Fragen beantworten sollten, kompromittierend nicht nur für die Kommunisten und Postkommunisten, sondern für die ganze "Demokratie" des Ostens in der Zwischenkriegszeit und die Geschichte des Nationalismus, deren Höhepunkt der Holocaust im Grunde ist?
Auf der Suche nach neuen alten Ikonen und Slogans, die das strahlende Bild der lieben Nation nicht bekleckern, sondern ihr schmeicheln, ist der Nationalismus nach 1989 zu notwendig geworden. Die Holocaustopfer sind nur durch eine kleine Minderheit von Überlebenden vertreten, und die Schuldzuweisung betrifft einen weniger lobenswerten Aspekt der eigenen Vergangenheit.
Dies wäre zumindest eine Erklärung für die von manchen betriebene "Substitution" des Holocaust durch den Gulag in der öffentlichen Diskussion.

Und doch ist der Gulag selbst von einer gründlichen Analyse weit entfernt…

Ich kenne die Lage im restlichen Osteuropa nicht bis ins Detail, wohl aber die in Rumänien. Die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus (Gulag) ist nur selten tief und aufwühlend, sondern sie ist meistens bloß journalistischer und politischer Vorwand vorgaukelnder Rhetorik, vor dem eigenen Spiegel inszeniert. Es kommt nicht von ungefähr, daß sie oft die "andere", immer wieder aufgeschobene und unbequeme Auseinandersetzung ersetzt.
Die Zahl derer, die sich als Opfer des Kommunismus ausgeben, steigt inflationär, und die Schuld käme angeblich nur einer importierten, der eigenen Tradition fremden Ideologie und der sowjetischen Besatzung nach dem Krieg zu.
Einige statistische Daten mögen die Zweideutigkeiten und Manipulationen der Vergangenheit und Gegenwart am besten erklären. 1944 gab es allem Anschein nach nicht mehr als eintausend Kommunisten in Rumänien. 1989 war die Zahl auf fast vier Millionen angewachsen. Schwerlich waren unter ihnen noch tausend echte Kommunisten zu finden. Nach dem Sturz der Ceauescu-Diktatur waren die meisten der ehemaligen Parteimitglieder urplötzlich eifrige Antikommunisten geworden. Unter den leidenschaftlichen Redenschwingern von heute gibt es viele, die, versteckt hinter einem kleinen oder großen offiziellen Schreibtisch, während des Kommunismus vom Gulag überhaupt nicht betroffen waren, und die jetzt über den Holocaust nichts wissen und wissen wollen.
Die Slogans gegen die jüdisch-kommunistische Verschwörung vor dem Krieg sind in diesem Kontext auferstanden, sogar in den intellektuellen Kreisen, die sich für sehr demokratisch und prowestlich halten. Es ist ziemlich "in", die jüdisch-kommunistischen Klischees aus der Vorkriegszeit mit postkommunistischen Ornamenten zu garnieren.
So hat man etwa einen neuen, nicht weniger smarten Trick erfunden: "die jüdische Monopolisierung des Leidens". Obwohl es immer weniger Juden gibt, nehmen sie wieder den Platz mitten auf der Bühne der Seifenoper ein. Sie hätten den Kommunismus als Antifaschismus deklariert, nur um zu kaschieren, daß jener selbst ein von ihnen erfundener Faschismus war; sie hätten das kommunistische Elend über das Land gebracht; sie wurden aus ehemaligen Opfern angeblich zu unerbittlichen Henkern; und sie seien natürlich nicht an der Erforschung des Gulag, sondern nur des Holocaust interessiert, um sich so ein neues Monopol zu sichern, das "Monopol des Leidens" eben. Neben den weltweiten finanziellen und kulturellen Monopolen, längst hinzugewonnen, diene das neue "Monopol des Leidens" natürlich einer willkommenen und profitablen Bereicherung.

Wie manifestiert sich dieser Vorwurf konkret?

Die schillernde postkommunistische Presse Rumäniens kennt viele Beispiele. Ich meine damit nicht nur die ausländerfeindlichen und antiwestlichen Publikationen wie die wöchentliche Familienzeitschrift Romania Mare (Großrumänien), das Organ der nationalistischen Partei gleichen Namens.
Interessanter erscheint mir eher die anspruchsvolle prowestliche und prodemokratische Presse. Hier kann man manchmal unglaubliche Irrtümer, Komplizenschaften, Relikte vermeintlich überkommener Klischees feststellen, unberechenbare und schockierende Echos einer unsäglichen, zweideutigen Tradition. Wie der Politologe Vladimir Tismaneanu zu Recht bemerkte: "Von völlig unerwarteten Seiten setzt es manchmal nationalistische Seitenhiebe mit eindeutig antisemitischer Konnotation, unverfrorene revisionistische Akte."
Nehmen wir etwa den rumänischen Kontext der Garaudy-Debatte. Wovon ist die Rede? In seinem Buch Les mythes fondateurs de la politique israélienne bezweifelt der französische Publizist Roger Garaudy den Zweck und die Ausmaße des Holocaust und "entlarvt" dessen Manipulation durch die Politik Israels und anderer Staaten. Der Autor manipuliert im Grunde selbst mit der Geschicklichkeit eines Parteipropagandisten Zitate aus der westlichen und israelischen Presse und Literatur, die, wie in der Demokratie üblich, kein gutes Haar an der herrschenden Macht lassen, jedoch nur im Zusammenhang des jeweiligen Diskurses Sinn machen.
Garaudys Buch wurde in Frankreich, der Schweiz und anderen europäischen Ländern verboten. In der Urteilsverkündung des Schweizer Tribunals hieß es, daß das Buch bezweifle oder verleugne, daß die nationalsozialistische Führung je einen Vernichtungsbefehl gegeben hätte, und es enthalte absichtlich gewalttätige Ausdrücke, mit dem Zweck, die jüdische Gemeinschaft zu verletzen. In seiner Sachverständigenaussage im Berufungsverfahren des Garaudy-Prozesses stellte Alain Finkielkraut das Buch Garaudys und die als Fälschungen bekannten Protokolle der Weisen von Zion auf gleiche Stufe: Sie seien Zeugnisse antisemitischer Ideologie. Er sagte: "Wenn behauptet wird, daß die ‘Endlösung’ nicht als geplantes Projekt interpretiert werden darf, dann wird suggeriert, die Juden seien Lügner, die die Macht besitzen, die ganze Welt von ihren Lügen zu überzeugen. Roger Garaudy setzt Tatsachen keine Tatsachen entgegen. Er propagiert die Neuauflage jener Argumentation, in deren Namen die Juden ermordet wurden… Nichts ist verletzender als den Überlebenden ihr Unglück abzuleugnen und den Toten ihren Tod."
In seinem Editorial "Der Holocaust und der Gulag" schrieb der Literaturkritiker Nicolae Manolescu, Chefredakteur der die intellektuelle Szene beherrschenden Bukarester Zeitschrift Romania Literara und führendes Mitglied der Liberalen Partei: "Jemand fürchtet sich, das Monopol der Enthüllung von Verbrechen gegen die Menschheit zu verlieren. Ein Indiz für meinen Verdacht ist der Prozeß gegen Garaudy in Frankreich. Letzterer hatte nicht behauptet, daß es den Holocaust nicht gab, wohl aber, daß man eine außerordentliche Lobby um das historische Ereignis herum bildete. Nun, es ist eben der Verlust dieses Monopols, der manche Leute zu beunruhigen scheint."
Obwohl in Europa weitestgehend verboten, wurde Garaudys Buch mit Erfolg im arabischen Raum und in …Rumänien vermarktet, in souveränen und freien Staaten also, die die herrschende Lobby offensichtlich nicht im geringsten einschüchtert. Um so seltsamer erscheint die Stellungnahme "von einer so unerwarteten Seite" wie der Romania Literara. Hat Rumänien bereits alle Probleme des Übergangs bewältigt, daß es sich nun dem widmen kann, Frankreich, die so frivole große Schwester, eines Besseren zu belehren?
Garaudys Buch erschien in Rumänien bei einem Verlag namens Alma Tip, der auch die Protokolle der Weisen von Zion und eine propagandistische Broschüre der extremistischen palästinensischen Organisation Hamas veröffentlicht hatte. Im Nachwort zur rumänischen Version wird das Verdienst Garaudys deutlich zur Sprache gebracht: "Über fünfzig Jahre nach dem Krieg kommt die geschichtliche Lüge über die Gaskammern ans Licht. In Nürnberg wurden völlig unschuldige Menschen hingerichtet. Der Nürnberger Schauprozeß stalinistischer Prägung hatte den Zweck, die Meinung der gesamten Welt zu manipulieren… Die technische Inspektion der verschiedenen Einrichtungen in Auschwitz belegt, daß diese nach dem Krieg konstruiert wurden, um den propagandistischen Zwecken der Gangster von Jalta zu dienen." Das heutige Frankreich wird vom rumänischen Verleger Garaudys als ein "totalitärer, faschistischer und rassistischer Staat" angesehen, der sich "seit über fünfzig Jahren unter zionistischer Herrschaft befindet".

Die besagte anspruchsvolle Zeitschrift (Romania Literara) hat nun im "subtilen" Stil einer gediegenen intellektuellen Debatte für das Recht optiert, dieses nicht ganz so subtile und objektive Buch zu vertreiben, nicht nur in Rumänien, sondern auch im bemitleidenswerten Frankreich, dessen von der besagten Lobby terrorisierte Rechtsprechung ihre eigenen humanistischen Wurzeln scheinbar verkannte. Auch andere rumänische Publikationen nahmen am Dialog teil; unter ihnen die demokratische Wochenzeitung Revista 22, die sich eindeutig gegen Romania Literara und die auflagenstarke Tageszeitung Adevarul aussprach. Die letztere hatte ihren Protest gegen Garaudys Schuldsprechung pathetisch "Descartes’ Verurteilung" betitelt.

Iliescus ehemalige Hauszeitung Adevarul als Verteidigerin des europäischen Rationalismus gegen das heutige Frankreich also…

Nicht mehr und nicht weniger. Und die Pointe: Nicht lange nach ihrem Plädoyer für die freie Meinungsäußerung Garaudys gab Romania Literara bekannt, daß sie endgültig keine Texte von Paul Goma mehr drucken würde, dem vielleicht wichtigsten Dissidenten der Ceaucescu- Ära. Zu sehr würde Goma an Charakterschwäche leiden.
Garaudy und Goma, beide verbotene Autoren also? Der eine durch ein französisches Gericht, der andere durch eine rumänische Literaturzeitschrift. Goma war allerdings auch unter Ceauescu verboten gewesen. Andere Ähnlichkeiten gibt es zwischen den zwei Blasphemikern nicht. Charakterschwäche? Beweisen die vielzähligen Konversionen Garaudys vom Kommunismus über den Katholizismus hin zum Islamismus etwa Charakterschwächen? Sollten die Charakterschwächen Paul Gomas auf der anderen Seite so groß sein, daß das Recht zur freien Meinungsäußerung, das Garaudy doch so sehr zusteht, in Gomas Fall aufgehoben wird? Furchtbare Entgleisungen, möchte man meinen… wird doch der wichtigste rumänische Dissident mit dem Ungeziefer aus Kafkas Verwandlung verglichen!!!

…Ist doch Die Verwandlung aus einer für Gregor Samsa mitfühlenden Sicht geschrieben. Schwerlich wird man an eine primitivere Interpretation denken können.

Man muß auch sagen: Wie störend auch Paul Gomas Charakterschwächen sein mögen, sie beleidigen nicht die Erinnerung der Überlebenden und streiten nicht "den Toten ihren Tod" ab. Er ist auch kein Parteipropagandist des linken, dogmatischen "Negationismus", der den Gulag nicht wahrnehmen will, auch nicht ein jüdischer Lügner, Verräter und Profiteur.
Man sollte vielleicht daran erinnern, wie die besagte Zeitschrift, auf die Freiheit des Wortes so erpicht, bei einer anderen Gelegenheit die Sache des Holocaust behandelte, als sie nämlich im Kontext der Diskussion des rumänischen Holocaust die Berichtigungen einschlägiger Experten (Lya Beniamin, Radu Ioanid) nicht druckte.

Wie wurde diese Entscheidung begründet?

Der Chefredakteur der Romania Literara meinte, die Diskussion sei "sowohl langweilig als auch einseitig" geworden. Langweilig? Sollte das der angemessene Ausdruck sein, wenn von einer Tragödie die Rede ist, die vier Jahrzehnte lang totgeschwiegen wurde? Einseitig? Jüdisch, also? Warum sollte man eine einseitige, jüdische und gerade deswegen interessante Meinung denn nicht drucken? Man könnte sie ja kritisieren und Alternativen vorschlagen. Sollte man solche "einseitigen" Beiträge denn nicht ernst nehmen, um ein Thema besser zu erforschen, das in Rumänen nicht zuletzt aus politischen Gründen bisher verschwiegen und manipuliert wurde? Sind denn Garaudys Beiträge weniger …langweilig, weniger einseitig?
Ich bin bei diesem Beispiel geblieben, weil es gerade die subtilen Zweideutigkeiten jener rumänischen Intellektuellen anvisiert, die sich für liberal halten und für eine demokratische Vorzeigezeitschrift schreiben. Ich hoffe, diese Schilderung des Garaudy-Falls geht auf Ihre ursprüngliche Frage zu Kertész ein.

Kommen wir auf Kertész zurück.

Ich würde Ihrem Zitat eine Formulierung von ihm hinzufügen, in der der Holocaust als "eine Kultur" der Nachkriegszeit angesehen wird.12 Dort bezieht er sich auf jene Überlebenden, die sich später umbrachten (Paul Celan, Tadeusz Borowski, Primo Levi, Jean Améry). Kertész schreibt: "Wenn ich mein Schicksal mit dem dieser Schriftsteller vergleiche, muß ich daran denken, daß mir eine stalinistische ‘Gesellschaft’ in den letzten vier Jahrzehnten zu überleben half, indem sie mir nach Auschwitz bestätigte, daß es keine Chance auf Freiheit, Befreiung, Katharsis geben kann." Ein Thema, das zur gleichen Zeit im Westen eine heftige Debatte auslöste, in jenem "freien" Westen, wo die Überlebenden ihr Trauma immer häufiger und intensiver erfuhren, bis hin zum fatalen Ende.
Im Osten jedoch scheint gerade das Leben in der "Gefängnisgesellschaft", wie Kertész sie nannte, das Dilemma der "Identität" blockiert zu haben, damit auch die Möglichkeit des nicht wiedergutzumachenden Irrtums.
Sie verstehen nun wohl, warum diese Zeilen eine besondere Bedeutung für mich gehabt haben. Sie verstehen auch, warum mir ein anderes Zitat des ungarischen Schriftstellers so nahe geht: "Nun, da die Mauern des Kerkers eingestürzt sind, hört man inmitten des Lärms und der Ruinen wieder das Krächzen des Antisemitismus nach Auschwitz."
Ich erinnere mich an den Abend, den wir vor einigen Jahren in Budapest zusammen mit Schriftstellerkollegen verbrachten. Imre Kertész teilte mir seine Enttäuschung und Besorgnis über den neuen Nationalismus im Osten mit. Er sah viele dräuende Zeichen um sich herum.
Er sprach zu mir mit verhaltener Bitternis über etwas, was uns augenblicklich verbunden hatte.

Ich frage mich, ob es im "anderen" Lager nicht ein Pendant zur Behandlung des Holocaust durch osteuropäische Intellektuellen gibt. So wurde das von Courtois publizierte Schwarzbuch des Kommunismus, gewiß keine editorische und wissenschaftliche Glanzleistung, besonders in Frankreich und Deutschland mit vehementer Kritik aufgenommen, Kritik, die genug Energie veranschlagte, um dann dem Problem selbst wenig Aufmerksamkeit widmen zu müssen: der Ungeheuerlichkeit des Gulag und aller anderer Terrorakte im 20.†Jahrhundert, die durch die kommunistische Ideologie, schiere Mythologie über die menschliche Natur und ihre soziale Verfassung, Rechtfertigung fanden.

In der Tat, es ist seltsam, daß ein Teil der westlichen Intellektuellen zögern, den Gulag einer ernsten und vorurteilslosen Analyse zu unterziehen. Seltsam, denn der Gulag bietet zum einen eine neue und immanente Legitimation der Demokratie (als wäre das noch notwendig), zum anderen aber den rechten Ideologien eine Form von Befriedigung und den Linken die Chance, einen endgültigen und klaren Bruch mit dem Kommunismus zu vollziehen. Ausgerechnet die Linke ist von diesem Zögern mehr betroffen, wo doch ihre Aufgabe gerade darin bestehen sollte, die humanistische "Mythologie" von der Pathologie der Lüge, Utopie und Tyrannei zu befreien und dem traditionellen Humanismus wieder Substanz zu verleihen, nämlich durch Rationalismus, Pragmatismus, durch das authentische Gefühl der Freiheit, den Drang nach Kontroverse und Ikonoklasmus und anderen Rechts- und Gesellschaftsidealen.
Sollte im Zögern der westlichen Intellektuellen ein tiefenpsychologisches Bedürfnis auszumachen sein, Überbleibsel aggressiver Kapitalismuskritik in transnationaler, kybernetischer, postmoderner Form in den heutigen Debatten beizubehalten? Folglich die weniger dringenden "Details" der kommunistischen Katastrophe zu vernachlässigen?

Dieses Versagen, das auch ein Versagen gegenüber Millionen von Opfern ist, bleibt von entscheidender Bedeutung für die ideologiekritische Analyse dieses Jahrhunderts, die Geschichte der Linken mitgerechnet. Diejenigen, die seit längerem etwas gelangweilt in der Demokratie des Nachkriegskapitalismus leben, mehr oder weniger seinem zynischen Konkurrenzkampf unterlegen, ziehen es vielleicht vor, sich auf naheliegende Gründe der Unzufriedenheit oder naheliegende Hoffnungen auf gesellschaftliche Reformen zu konzentrieren, anstatt darauf einzugehen, was vor langer Zeit weit weg passiert ist. Ob ihnen die kommunistische Ideologie nostalgische Anfälle nach der Utopie des großen Projekts universalen Glücks verursacht? Kaum. Ich denke eher, daß Gleichgültigkeit im Spiel ist, die solide und dauerhafte Gleichgültigkeit des Menschen, der sich selbst mehr als seinen Nächsten liebt und der den Nächsten mehr liebt als den Fremden. Im Grunde fand der Gulag weit weg und vor langer Zeit statt…

Aber auch der Holocaust stieß zuerst auf Gleichgültigkeit…

Möglicherweise liegt darin auch die Lösung. Die Aufarbeitung des Kommunismus, der Pathologie des Terrors, der in den Gulag mündete, bleibt zuerst einmal dem Osten überlassen. Weder der marode Westen noch der amerikanische Imperialismus, noch die teuflische jüdisch-internationale Oligarchie, noch die französische, deutsche oder schwedische Linke können heute den Osten daran hindern, diese Tragödie kritisch zu durchleuchten, Archivmaterial zu veröffentlichen, die Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft ohne Scheu und ohne Fanatismus einer objektiven Bewertung zu unterziehen und die Zweideutigkeit und "Vorzüge" zu analysieren, die ein Leben unter dem demagogischen System der Einheitspartei ermöglichten. Eine solche gut dokumentierte und durchdringende Analyse des realexistierenden Sozialismus wäre dann die angemessenste Antwort auf die Leiden des Ostens und die Gleichgültigkeit des Westens und könnte die Weltöffentlichkeit aufrütteln, wie das auch mit dem Holocaust geschah.
Die Tatsache, daß dies nicht schnell passiert, ist kein völliges Mysterium. Es gibt möglicherweise Dringlicheres in den osteuropäischen Gesellschaften. Außerdem besetzen noch zu viele Komplizen, wenn nicht gar direkt Schuldige, die Bühne oder die Kulissen.
Nicht anders geschah das mit dem Nationalsozialismus, wie Sie sicher wissen. Die Analyse des Phänomens, die "Entnazifizierung", die Verurteilung der Schuldigen waren Etappen in einem langsamen und gar nicht mustergültigen Prozeß.
Ich habe vor kurzem bei einem osteuropäischen Literaturkritiker gelesen, daß der einzige Unterschied zwischen dem Holocaust und dem Gulag darin bestünde, daß die Verschulder des Holocaust bestraft wurden, während die des Gulag davonkamen. Was soll man zu so einer kindischen Sichtweise noch sagen? Nur krasse Verblendung kann die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Faschismus und Kommunismus, zwischen Holocaust und Gulag so sehr simplifizieren und kommerzialisieren. Die Sachlage ist nicht einmal hinsichtlich der "Schuldigen" so eindeutig. Wie man bekanntlich weiß, wurden bis heute nicht alle Naziverbrecher bestraft, und die volle Dimension des Schreckens fand nur allmählich und zögernd Eingang in das Bewußtsein der Öffentlichkeit.
Zudem haben wir es mit völlig verschiedenen historischen Ausgangssituationen zu tun. Deutschland wurde im Krieg bezwungen, und die Sieger nötigten dem Land die Pflicht auf, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, was zur moralischen Genesung führte. Die Reaktion der jungen Generation war bewundernswert, allerdings erst in den sechziger Jahren.
Der Kommunismus wurde allerdings nicht in einem kriegerischen Konflikt bezwungen. Die Sieger und Besiegten gehören vielmehr zum selben Volk. Die ehemals kommunistischen Länder müssen daher ihre Vergangenheit selbst aufarbeiten. Ich bin mir keineswegs sicher, ob daß eine so einfache Aufgabe ist. Die alte Generation, mit all den "Guten" und "Bösen", schwindet allmählich dahin. Ich bezweifle, daß im Osten oder Westen eine neue "68er Generation" aufkommen wird, die an historischer Katharsis interessiert ist, an der langweiligen kommunistischen "Story", die in der Steinzeit und auf einem anderen Planeten geschah und die in den Augen der heutigen, technisch so versierten Computerfreaks völlig absurd erscheint.

Verbleiben wir noch etwas bei der linken Ideologie: Manche Anhänger des Kommunismus hegen den Glauben, daß der stalinistische Terror gewiß "schlecht" gewesen sei, aber daß dies mitnichten die "Güte" der marxistischen Lehre beeinträchtige. Das Argument lautet: In der Theorie sei der Kommunismus gut, aber er wurde in der Praxis bisher schlecht ausgeführt. "Bisher schlecht ausgeführt": das heißt, er könnte auch gut, richtig ausgeführt werden.

Die marxistische Kapitalismuskritik könnte auch heute noch einige gute Argumente vorbringen, selbst wenn diese verbessert und an die Struktur der komplizierteren heutigen Gesellschaft angepaßt werden müßten. Könnte sie dazu beitragen, die manchmal erschreckenden Differenzen zwischen den begüterten und den unterentwickelten Ländern, zwischen den allzu reichen und den äußerst armen Menschen zu verringern, so wäre sie doch wohl nützlich. Der Kommunismus als Lehre hat aber eine naive und gefährliche Vereinfachung der menschlichen Existenz zum Ausgangspunkt, und es ist fatalerweise der Mensch, der sich seinem Dogma anpassen muß, nicht umgekehrt. Die Ausbeutung des Menschen durch den Staat anstelle der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen hat zu keinen beneidenswerten Resultaten geführt. Die Übernahme des Privateigentums durch den Staat führte nicht nur zum wirtschaftlichen Desaster, sondern auch zu einem Menschen im Besitztum des Staates. Anstelle der banalen politischen Demagogie zwischen den Parteien kam es zur absoluten Demagogie der Einheitspartei. Das kulturelle Chaos der freien Marktwirtschaft, das Primat der Vulgarität, Kakophonie und des Kommerzes wurde durch den ideologischen Zensor ersetzt, der eine Schizophrenie voller Tabus und Komplizenschaften nach sich zog. Und die Abschaffung des Konkurrenzkampfes durch die Einführung des Parteibuchs führte zu einer pathologischen Perversion, die letztendlich den ganzen Kreislauf der Gesellschaft ruinierte. Um den Terror erst gar nicht zu erwähnen, den als "schlecht" zu bezeichnen natürlich eine Untertreibung ist. Er war radikal, irrsinnig, grotesk. Nicht nur der stalinistische Terror, mit seinem Alptraum Gulag, nicht nur die Verbrechen in China und Kambodscha oder in den "marxistischen" afrikanischen Staaten, sondern der alltägliche Terror der Überwachung und des Verdachts, von einer Gesetzgebung geschützt, die ausschließlich nur der obersten Autorität diente, nie aber dem einzelnen.

 

Die verständliche Unzufriedenheit, die viele heute gegenüber dem fortgeschrittenen Kapitalismus haben, mit all seinen Widersprüchen und Konflikten, seinem oft abstoßenden Zynismus, der alles im Namen des Kapitals nivelliert und simplifiziert, sollte uns niemals das kommunistische Experiment zu wiederholen versuchen lassen. Es gibt, wie ich zu hoffen wage, vernünftigere Wege der Veränderung als jene, die Verkehrtes in noch Verkehrteres verwandeln.

 

Ich möchte hoffen, daß dieses alptraumhafte soziale Experiment für immer Teil der Vergangenheit bleiben wird. Sozialisten haben nun überall die Aufgabe, sich vom Kommunismus loszusagen und ihre Visionen der heutigen Wirklichkeit anzupassen.

 

 

Preis: 9,80 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis
Zum Seitenanfang

Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024