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Cover LI 141
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LI 141, Sommer 2023

Ein Traum vom Meer

Bulgariens Grenzen – das Gefängnis des Stillstands und der Fluß der Zeit

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Der vielbeschworene Kulturschock war bei mir ausgeblieben. Ich war nach meinem Abitur an einer Sofioter Oberschule mit einem Stipendium in die Vereinigten Staaten gegangen, hatte an einem kleinen College in Vermont Geisteswissenschaften studiert und später in Kalifornien promoviert. Schwierigkeiten, mich anzupassen, hatte ich nie. Ich glaube, ich träumte den amerikanischen Traum, der einem versprach, daß auch ein Niemand etwas werden konnte. Wie Huckleberry Finn fühlte ich mich ungebunden und frei, ins „Indianer-Territorium“ aufzubrechen, unbelastet von meiner Geschichte und Kultur, sogar von meiner Sprache und all den engstirnigen Vorstellungen von Identität, mit denen ich groß geworden war. Im Laufe der Jahre jedoch mußte ich feststellen: Ich war zu spät zur Party gekommen. Ich war bis an die westliche Grenze der Neuen Welt gereist, doch die Grenze war seit langem keine frontier mehr. Mein Traum war überholt, beinahe ein Klischee. Die Vereinigten Staaten von Amerika kamen einem alt vor, merkwürdigerweise älter als Europa, wie ein Ort, an dem, trotz der Rastlosigkeit, die Zeit stehengeblieben zu sein schien. Es gab von allem zu viel: Regeln, Arbeit, Reichtum, Armut, Waffen, Kunst. Irgendwie war die Maschine über die Jahre allzu komplex geworden, unaufhaltsam versanken ihre Fundamente unter dem Gewicht des stetig wachsenden Umfangs. Sogar der Weg zu Selbsterneuerung und Originalität, früher kaum begangen, war jetzt ausgetreten, Bestandteil eines erschöpften, endlos beworbenen, zu Geld gemachten und in ein Kapitalsystem integrierten Diskurses. Das gefeierte amerikanische Ich war zu einer weiteren Ware im Regal des Kultursupermarkts verkommen. Um in die Wälder zu gehen, um bewußt zu leben, wie Henry David Thoreau es einst getan hatte, waren jetzt eine zwanzigseitige Bewerbung für ein Forschungsstipendium und mindestens drei Empfehlungsschreiben nötig. Und so kam mir die Idee: Warum nicht nach Bulgarien zurückgehen? War das Land, trotz seiner Schäbigkeit, seiner Provinzialität und Unvorhersehbarkeit, nicht genau die Art von frontier, die zu erkunden sich lohnte, wo die Zeit nicht stehengeblieben war, wo es vorwärtsging, einem unbekannten Horizont entgegen? Schließlich ist die Erde rund, und wenn man vom „Westen“ aus nach Westen reist, stößt man irgendwann unweigerlich auf den Osten. Mein ruhiges, aber meist perspektivloses Akademikerleben in Amerika aufzugeben, um in die Klärgrube meiner Heimat einzutauchen, war ein Wagnis, andererseits aber auch etwas Uramerikanisches. Mir gefiel, was der Dichter T. S. Eliot geschrieben hat: „Und am Ende allen Entdeckens / Langen wir, wo wir losliefen, an / Und kennen den Ort zum ersten Mal.“ Es war der klassische Erzählbogen, mindestens seit der Odyssee. Konnte es sein, überlegte ich, daß die wirkliche Freiheit nicht in der Freiheit lag zu gehen, sondern in der Freiheit zurückzukehren? 

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In der unmittelbaren Nachwendezeit waren die Bulgaren geradezu erfüllt vom Zukunftsrausch: Sie beteiligten sich an der Politik, gaben unabhängige Zeitungen heraus, machten provokante Kunst, gründeten Privatunternehmen. 

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Als ich ins Teenageralter kam, begegnete mir alles, was vorher verboten oder schwer zu kriegen war: laute Musik, experimentelle Kunst, Pornographie, Drogen. Es galten keine Regeln mehr. Niemand hielt die Jungen an, sich die Haare schneiden zu lassen, wenn sie zu lang waren, oder drückte Mädchen einen Stempel auf die Schenkel, wenn die Röcke zu kurz waren, wie vorher an den Schulen übliche Praxis gewesen war. Lange Haare waren mir egal, aber ich färbte meine grün, dann blau, schließlich lila. Ich begeisterte mich für Freestyle Snowboarding und Punkrock. Man konnte anziehen, was man wollte, eng oder baggy oder zerschlissene Klamotten, und sich so viele Piercings und Tattoos machen lassen, wie auf der Haut Platz hatten. Die Beatles zu hören, die zahmen und harmlosen Beatles, war früher einmal halb illegal gewesen, galt als dissidentisch, und ihre Schallplatten weiterzureichen konnte einige Hitzköpfe ganz schön in Schwierigkeiten bringen. Unter dem neuen System fingen die Plattenläden an, jede verfügbare Musik raubzukopieren und zu verkaufen, von den Sex Pistols bis zu Cannibal Corpse. Die Theater ließen die konservative, verstaubte Parteimoral hinter sich und spielten radikale Stücke von Beckett und Ionesco, Jean Genet und Heiner Müller, Sarah Kane und Eve Ensler, bei denen manchmal nackte Schauspieler über die Bühne liefen oder vor sich hin delirierten. Die Literatur folgte nach, mit postmoderner Ironie und mit Spielen befreite sie sich von den Zwängen der Vergangenheit. Es war herrlich.

Selbst das Mausoleum von Dimitroff, dessen Mumie entfernt und eingeäschert wurde, erwachte zu neuem Leben. Die Kalksteinwände waren mit eindeutigen Graffiti besprüht, die Türen standen sperrangelweit offen, Betrunkene torkelten hinein, um sich zu erleichtern; Skateboardfahrer zogen ihre Runden, führten auf den Kantsteinen kickflips und nosegrinds vor; ein amerikanischer evangelikaler Prediger, der unbedingt die Seelen der ehemaligen Kommunisten retten wollte, veranstaltete auf dem Platz vor dem Heiligtum von einst eine Erweckungsversammlung; Tausende von Menschen drängten sich auf der Tribüne, von der aus früher das Politbüro die vorbeiziehenden Massen gegrüßt hatte – „Gott heilt dich hier und jetzt! Im Namen Jesu! Hallelujah!“ rief er … 

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Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber es scheint so, als lägen wir alle – in Bulgarien, im übrigen Europa, in den Vereinigten Staaten – krank in unseren Betten, während uns jemand immer und immer wieder die gleiche Suppe reicht. Denn die Schließung von Grenzen ist nicht allein eine räumliche Angelegenheit, sondern auch eine zeitliche, da Raum und Zeit zusammenhängen. So wie der Kommunismus ist auch der Kapitalismus im Kern ein teleologisches System, das sich auf eine Fortschrittserzählung, einen nach vorne gerichteten Zeitvektor stützt, doch wenn die Zeit zyklisch verläuft, sich wiederholt, ohne eine klare Richtung, dann zerfällt das System, nicht unter der Last seiner eigenen Widersprüche, wie Marx sagen würde, sondern unter der Last seiner Uniformität. Die jüngste Corona-Epidemie, die in Jahreszeiten gemessen wurde – Winterhochs gefolgt von Sommertiefs –, hat dies nur noch deutlicher gezeigt. Aber auch die sozialen Medien, mit ihren im wesentlichen zyklischen Feeds, mit ihrem periodischen Informationsfluß, der zu Nicht-Informationen gerinnt, hat das Gefühl vertieft, daß man im Gefängnis der Zeitlosigkeit dahinsiecht. Es heißt oft, daß wir in der dynamischsten Ära der Menschheitsgeschichte leben, in der Veränderungen – politische, ökonomische, technologische – zum Alltag gehören. Auf der materiellen Ebene mag das zutreffen, doch psychologisch betrachtet verhält es sich anders. Wie ein Rad, das sich so schnell dreht, daß seine Speichen unbeweglich erscheinen oder so, als würde es sich rückwärts drehen (der sogenannte Wagenradeffekt), so hat man auch bei der Transformation den Eindruck, als wäre ihr rasches Tempo zum Stillstand gekommen. Wir rasen auf ein Schwarzes Loch zu und scheinen auf immer im Ereignishorizont festzustecken, ohne wirklichen Horizont. Wir sind Bürger eines globalen, im Sinne Breschnews kapitalistischen Staates geworden, der uns keine inspirierende frontier mehr zu bieten hat – vorbei die Zeiten von Kennedys „New Frontiers“ oder Obamas „Veränderung, an die wir glauben können“ – und daher zunehmend verknöchert und auf sich selbst zurückgeworfen ist.

Mein Eindruck ist, daß alle Konflikte, die wir in den vergangenen zehn Jahren beobachten konnten – Trumpismus, Brexit, das Erstarken des Nationalismus in ganz Europa, Rußlands aggressiver Imperialismus –, Versuche sind, nicht nur die herrschenden politischen Systeme zu destabilisieren, sondern auch die Zone der ewigen Wiederholung. In den meisten Fällen sind diese Versuche absurd, Ersatz, fehlgeleitete Nachahmungen von Ideologien, die der Vergangenheit entlehnt sind und nur den eigenen Mangel an Phantasie offenbaren – sie trachten danach, den Uhrzeiger zu bewegen, und sei es rückwärts –, aber man muß zugestehen, daß sie eine Unzufriedenheit mit den Verhältnissen widerspiegeln. Mir scheint, es gibt eine unbewußte Sehnsucht danach, aus der Langeweile der Zeitlosigkeit herausgerissen und in den Fluß der Zeit zurückgeworfen zu werden, auch wenn es Gewalt oder Krieg bedeutet – alles, nur nicht die Suppe!

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024