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Lettre 143 / Wilhelm Sasnal
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LI 143, Winter 2023

Im Heiligen See gebadet

Zum hundertsten Geburtstag von Luigi Nono am 29. Januar 2024

(…)

Luigi Nono ist ein für „glückliche Einfälle während der Arbeit“ offener Geist. Als Komponist und Musikpraktiker ist er neugierig und gierig nach neuartigen Versuchen. Er ist kein „Planwirtschaftler der Töne“, wie man seinen Schwiegervater Arnold Schönberg nennen könnte. Aber auch dem hat das Genie und die innere Vielstimmigkeit oft einen Strich durch die methodische Rechnung gemacht. Seinen Schwiegersohn Nono, der hundert Jahre alt wird, würde ich eher mit dem für das menschliche Ohr freundlichen Vincenzo Bellini vergleichen, der inzwischen seinen 222. Geburtstag feiert. Oder ich vergleiche ihn mit dem venezianischen Komponisten Francesco Cavalli, dem Meisterschüler Monteverdis, der die ersten Opern schrieb. Alles dies ist in den fertigen Werken Nonos nicht leicht zu hören. Es ist aber die „Singstimme“ darin. Es ist eingebettet in die verschiedenen Formate konsequenter Moderne.

Es kommt hinzu, daß Luigi Nono nicht mit seinen musikalischen, sondern mit seinen politischen Sinnen auf die Herausforderungen unserer Zeit und der revolutionären Bewegungen in den Zeiten vor 1989 mit Ernsthaftigkeit antwortet. Solche Gedankenarbeit wiegt schwer. Ich weiß nicht, ob die Musik tatsächlich große Theorie und Gedankenarbeit beantworten kann. In der Operntradition tut sie das wohl nicht. Aber das Versteinerte in unserem Herzen in Bewegung zu setzen, das vermag die Musik. „Unter der großen Sonne mit Liebe beladen“ ist der Titel eines Großwerks Nonos. Man könnte die Last, die zu tragen ist, auch umschreiben mit der Gedankenlast, die von Marx und Hölderlin ausgeht. Und auf den Schultern Nonos liegt auch (bis zurück zu Palestrina) die Last der großen Meister der Musik. Es ist nicht leicht, diese Last auf der Schulter zu spüren und frei wie die Vögel zu singen. Da muß man sich gelegentlich aufwärmen.

Nono warf in die Debatte: Wie würde man ein Gestein, einen monumentalen Bau wie die Theorie von Karl Marx – zum Beispiel Das Kapital, in einem Musikwerk zum Tanzen bringen? Vermutlich kann man das nur versuchen mit Fragmenten dieses Werkes. Dabei würde man aber bemerken, daß das Monument selbst eine fragmentarische Struktur hat. Ein Gedanke, so Nono, wird nicht durch bloßes Lesen lebendig, sondern dadurch, daß man ihn fortsetzt. „Im Gehen denken wir.“ Mit der nötigen Sinnlichkeit und Lust läßt sich das bewerkstelligen, wenn man die Tonart beim Marschieren moduliert. Musik ist Tonversetzung. Dafür ist es richtig, wenn man das Metier, das Ausdrucksformat, die Grenzen der Kunstgattungen überschreitet. Bei jeder Transformation entsteht ein intelligenter Funke. So wäre es richtig, wissenschaftliche oder politische Texte in Musik oder in literarische Texte oder gleich in eine kollektive Praxis, ein Bauwerk oder in eine Stadt zu verwandeln. Wie geht das? Das müssen wir lernen, antwortet Nono. Wenn wir das mit Zeitaufwand und mit Ernst versuchen, finden wir heraus, ob es geht. Bertolt Brecht hat das in politischem Vokabular verfaßte Kommunistische Manifest in Hexameter umgedichtet. In Homers Rhythmus. Das sei kein „Verfremdungseffekt“, behauptete Nono, sondern poetische Transformation. Die Worte blicken uns neu an. Das wird bei Musik noch deutlicher. „Sinnlichkeit muß die Basis aller Wissenschaft sein.“ (Marx)

So schweiften spätabends die Debatten hin und her. Wenn es im Augenblick nichts Praktisches bewirkt, dann wärmt es doch. Nonos Idee hat sich in mir festgesetzt und mich lange Zeit bewegt. Ich habe später mehrfach Versuche gemacht, etwas davon zu realisieren. Aus Respekt vor seiner Gedankenlinie, aber auch aus Respekt vor Sergei Eisenstein, der nach 1929 sein Projekt, Das Kapital von Marx zu „kinofizieren“, abgebrochen hatte (er hinterließ ein dickes Konvolut von Unterlagen mit Drehbuch, Texten und Bildern), habe ich eine Sammlung von neun Stunden Film hergestellt, die auf der Biennale in Venedig lief.

An einem der Abende brachte mir Nono eine Kassette mit Tonfragmenten aus der Orchesterprobe mit. Nicht von den Proben selbst, vielmehr hatte er Musiker überredet, ihren Instrumenten „ungewohnte Töne“ abzuverlangen. Diese „Spurenelemente ernsthafter Orchestertätigkeit“ – unkomponierte Musik – findet sich zerstreut in den Jahrgängen 1987 und 1988 meiner ersten Kulturmagazine im Fernsehen, der Stunde der Filmemacher und in 10 vor 11.

Die Aufführungspraxis der Musik besteht aus fertigen Werken. Nono hat mich – schon in der Zeit, als wir an der Frankfurter Oper im Umkreis des Dirigenten Michael Gielen zusammen waren – davon überzeugt, daß man die Töne der fertigen Werke und das Potential der Musikinstrumente und menschlichen Stimmen einsammeln, aber dann auch wieder rematerialisieren sollte. Die Musik existiert, so Nono, als ein solcher „Grundstrom der Töne“, also als Material und als gestaltetes Werk. Wie bei einem Eisberg, an dem die „Titanic“ scheiterte, kann man beobachten, daß das, was unter der Wasserlinie liegt, deutlich mehr Substanz enthält als das, was sich als Eisberg über Wasser zeigt. In der Musiktheorie und bei Theodor W. Adorno heißt das an der Oberfläche nicht Sichtbare das „Subkutane“. Das, was unter der Haut liegt. Das Lebendige sieht man nicht bloß von außen. In Luigi Nonos Werk gibt es viel zu graben, zu entdecken und zu finden. Seine Musik hat „sieben Häute“.

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024