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Lettre International 151
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LI 151, Winter 2025

Achtundsechziger Denken

Der trumpistische "Deal" ist der Nullpunkt des Gesellschaftsvertrags

(…)

Nicolas Trunog: Wie sehen Sie die aktuelle geopolitische Lage, die insbesondere durch den Autoritarismus von Donald Trump und den Totalitarismus von Wladimir Putin geprägt ist?

Julia Kristeva: Trump hat unsere Zivilisation in eine Gesellschaft des Deals und des Machtwillens geführt, in eine Gesellschaft der Effizienz und der Brutalität. Wenn man Trump, Putin und Konsorten beobachtet, hat man den Eindruck, Freud zu lesen: Die Brüder der Urhorde kommen zusammen, um Konsumgüter, Waffen und Frauen zu teilen, und dabei einen imaginären, allmächtigen Vater verehren. Der Deal ist der Nullpunkt des Gesellschaftsvertrags.

Läß sich der Putinismus, der scheinbar mehr Wert auf Symbole, insbesondere religiöse, legt, auf einen Deal reduzieren?
Die orthodoxe Version dieser Brutalisierung der Beziehungen ist kaum beneidenswerter, da sie Teil einer Kultur ist, in der der Sohn (der Gläubige) ein Diener des Vaters (per filium) ist. Im Katholizismus und Protestantismus hingegen wird der Sohn mit dem Vater assoziiert (filioque), was die Autonomie und Unabhängigkeit des Menschen vorwegnimmt und den Weg für den westlichen Individualismus und Personalismus ebnet.
     Im Maskulinismus, wie er von Trump und Putin verkörpert wird, spielt eine homoerotische Beziehung gegenseitiger Faszination mit. Auch dieses Gefühl entspringt dem Pakt der Urhorde: Wie Sandor Ferenczi, ein Schüler Freuds, sagte, bremst die Erotisierung seinesgleichen die sexuelle Gier der Männer, indem sie dem Trieb eine psychische Bedeutung verleiht. Das verhindert jedoch nicht eine offenkundige Homophobie, eine gewalttätige Abneigung gegen Transgender-Personen, die besonders ausgeprägt ist bei denen, die wie Trump und Putin ihre eigene Homoerotik nicht akzeptieren.

Kann man dieser vom Willen zur Macht dominierten Zeit entkommen?
Angesichts dieser Situation erscheint Europa als ein Versprechen, ein singulärer Weg, ein widerständiges Überleben gegen den Strom. Es ist bedauerlich, daß ein Teil des sogenannten „globalen Südens“ dem von Putins Rußland und der Wagner-Miliz eingeschlagenen Weg folgt. Auch wenn Europa in der Zeit des Holocaust und der Kolonialisierung versagt hat, trägt es doch die kritischen Kräfte in sich, um sich dem zu widersetzen.

Die Philosophie und die Demokratie sind aus einem „griechischen Wunder“ hervorgegangen. 
Gibt es etwa ein „griechisch-jüdisch-christliches Wunder“, das, nachdem es identitären Dogmen erlegen ist, nun mit dem Unbehagen der liberalen Demokratien konfrontiert ist? Der französische Laizismus ist die treibende Kraft dahinter, ebenso anregend wie außerhalb Frankreichs unverständlich. Es ist unsere Aufgabe, zu diesem Erbe zu stehen, wenn uns der europäische Zusammenhalt fehlt und die Autorität Europas durch den globalen Süden und die MAGA-Bewegung („Make America Great Again“, die Trump-Bewegung) bedroht ist.

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Die kommende Ausgabe Lettre 152 erscheint Mitte März 2026.