LI 74, Herbst 2006
Komplett erfunden!
Wie ein chinesischer Dorftyrann zum Provinzvorbild wurdeElementardaten
Genre: Literarische Reportage / New Journalism
Übersetzung: Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann
Textauszug
IN den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab es in chinesischen  Beamtenkreisen eine Erscheinung, die man unter dem Schlagwort „Beamte  machen Zahlen, Zahlen machen Beamte" zusammenfaßte. Das hieß: Beamte auf  allen Ebenen meldeten hemmungslos überhöhte ökonomische Indikatoren  nach oben, um ihre eigenen Meriten größer erscheinen zu lassen; und  diese falschen Zahlen wuchsen von Verwaltungsebene zu Verwaltungsebene.  Damit soll nicht gesagt sein, die Beamten hätten nicht gewußt, daß es  sich um falsche Zahlen handelte, sondern, daß sie diese falschen Zahlen  dringend brauchten. Die Tatsachen zeigen: Je mehr ein Beamter übertrieb,  um so schneller stieg er auf - von wegen „außerordentlicher  Verdienste"!
Davon abgesehen nahmen die Lügengeschichten  orientalische Formen an, es war fast wie in Tausendundeiner Nacht.  Nehmen wir den Distrikt Shiyan in der Provinz Hubei. Wie in der Presse  enthüllt, konnte ein Beamter aus dieser Gegend ein großes Stück  unfruchtbaren Berghangs grün anstreichen lassen, um vorzuspiegeln, daß  seine Begrünungsarbeit gut voranging. Die vorüberfahrenden hohen Beamten  sollten einen „Berg ganz in Grün" zu Gesicht bekommen. Um den  Inspektoren Erfolge in der Schafzucht vorzuführen, versammelte man im  Kreis Fang der Provinz Hubei Grundschüler auf den Hügeln, durch die die  Inspektoren kommen würden, legte jedem die Plastiktüte eines  Düngemittels um die Schulter, fertig war die Schafherde. Es gab nichts,  was es nicht gab.
Im politischen System Chinas gab es aber noch  einen anderen Spruch: „Beamten machen Vorbilder, Vorbilder machen  Beamte". Jede Region entdeckte und propagierte ihr eigenes Vorbild, man  kann sagen, sie taten ihr möglichstes; ein Vorbild von Provinzgeltung  war gut, eines von nationaler Bedeutung am besten. Ein großes Vorbild  war auch ein großes Verdienst der regionalen Beamten.
In der  Frühe des 16. Aprils 1999 gab es in Danjiangkou, einer Stadt, die zum  Verwaltungsbezirk von Shiyan gehört, ein „großes Ereignis": Min -Dewei,  der Parteizellensekretär der Gemeinde Minjiagou des Kreises Yun, starb  an Kehlkopfkrebs.
Am 17. April befahl der Komiteesekretär von  Danjiangkou drei Mitglieder des Ständigen Ausschusses der Stadt zu einem  Kondolenzbesuch „bei Nacht und Regen".
Am 23. April  wurde von der Stadt die Kampagne „Lernen von Min Dewei"  gestartet.
Am 19. Mai wurde die Kampagne auf den ganzen Distrikt  ausgeweitet.
Am 28. Mai wurde Min Dewei von sämtlichen  Nachrichteneinheiten der Provinz Hubei als großes Vorbild hingestellt.
Vom  18. Juni an machte man sich an eine konzentrierte Propagierung und  organisierte Interviewteams aus mehreren Dutzend Leuten.
Das  Volkskunsttheater von Danjiangkou setzte sofort die groß angelegte,  moderne Fassung von Die Seele des Flusses Han auf den Spielplan  und führte es dreißig Mal auf; das Stadtkomitee organisierte, edierte  und publizierte Das Vorbild - Sammlung der Erfolge Min Deweis;  ein Pekinger Verlag brachte ein reportageliterarisches Werk heraus mit  dem Titel Min Dewei - guter Parteizellensekretär in armer Bergregion,  und ein Reportageteam hielt landauf, landab Vorträge über Min Deweis  Meriten.
Ob die Leute es im Radio hörten, im Fernsehen sahen oder  dem Reportageteam lauschten, es flossen Tränen, Geld wurde gespendet,  Position wurde bezogen.
Am Zeitablauf kann man erkennen, daß das  Ganze sorgfältig und „von langer Hand" vorbereitet war. Man könnte  sagen, noch bevor der Tote unter der Erde war, war er zum Vorbild von  Danjiangkou geworden. In nicht ganz zwei Monaten stieg der Tote „Schritt  für Schritt"  auf, wurde zunächst zum Vorbild der Stadt Shiyan  (Distrikt-ebene), dann zum Vorbild der Provinz Hubei, und wenn es so  weiterging, konnte er auch noch zu einem nationalen Vorbild werden.
Anfang  2000 erhielten wir die Information, daß der ganze Trubel um Min Dewei  Schwindel war, eine himmelschreiende Lüge.
Das war keine Information,  wie sie normale Menschen bekamen, sondern ein genauer  Untersuchungsbericht, den drei Reporter des „Vierzehntägigen Gesprächs"  der Nachrichtenagentur Neues China nach einem eigens dazu  unternommenen Besuch im Heimatdorf Min Deweis verfaßt hatten. Die  Schlagzeile „Wie aus einem Dorftyrann ein Provinzvorbild wird"  hatte folgende Untertitel: „Heimliche Untersuchung der Stimmung in  einem Bergdorf", „Höchst widersprüchliche Einschätzungen:  öffentliche Propaganda versus Anklage der Massen - was ist wahr, was ist  Lüge?", „Die Bauern von Minjiagou fassungslos: die wiederholte  Posse vom Vorbild", „Die demokratischen Gesetze werden mit  Füßen getreten, Basisorganisationen in Unordnung", „Schwere  Versäumnisse bei Untersuchung - über posthume Meriten".
Mit  diesem Untersuchungsbericht vor Augen hatte ich den Eindruck, die  verfälschende Idolatrie einiger Regionalbeamter habe pathologische  Ausmaße erreicht. Ich fragte die Reporter des Neuen China,  warum sie das Manuskript nicht veröffentlicht hätten. Sie antworteten,  es sei zunächst für das „Vierzehntägige Gespräch" bestimmt gewesen. Dann  habe man in Hubei davon Wind bekommen und die Sache „abgebügelt",  daraufhin hätten sie das Manuskript aus Ärger an das Magazin -Bingdian   weitergegeben.
Wie man uns sagte, muß die Untersuchung der  Reporter des Neuen China glaubwürdig gewesen sein, und ich  hatte ursprünglich vor, sie deshalb auch zu bringen. Doch am Abend bekam  ich einen Anruf der Verfasser, in dieser besonderen Situation könne man  unter ein solches Manuskript nicht den Namen von Reportern des Neuen  China setzen und ob ich es nicht unter anderem Namen  veröffentlichen könnte. Das ging natürlich nicht. Unter einem kritischen  Enthüllungsbericht mußten die wirklichen Namen der Verfasser stehen.  Ich sagte ihnen, in diesem Fall würden wir selbst Reporter zu einer  Untersuchung vor Ort entsenden.
Das Frühlingsfest war gerade  vorüber, als wir Cai Ping losschickten, um der Sache auf den Grund zu  gehen. Bevor sie sich auf den Weg machte, hatte Cai Ping nahezu  sämtliche Berichte über Min Dewei gesammelt. Das Material zeigte, was  die wichtigen „Meriten" Min Deweis waren: Bevor er Dorfvorsteher  geworden sei, hieß es, habe er zu einer der wenigen reichen Familien des  Dorfes gehört. Empfohlen und gewählt von den „Massen" habe er auf ein  Jahreseinkommen von 6 000 Yuan [c.a. 600 Euro] als Schreiner zugunsten  der kleinen Aufwandsentschädigung eines Dorfvorstehers von nur 600 Yuan  verzichtet.
Kaum im Amt, habe er „eine Offenlegung der  Dorfgeschäfte" verkündet, einen kleinen Ausschuß für die Verwaltung  der Dorffinanzen gegründet und auf einer Dorfversammlung die Verwendung  der Ausgaben und Einnahmen der Kader und so fort bekanntgegeben.
In  den sechs Jahren als Dorfkader habe er sich von Anfang an die größten  Vorbilder auf die Fahne geschrieben, nie auch nur einen Fen an  öffentlichen Geldern verschwendet oder auf Kosten der Allgemeinheit  persönlichen Nutzen aus seinem Amt gezogen. Er habe die Massen bei Eis  und Schnee angeleitet, das öde Berggebiet zu kultivieren, und ein paar  hundert Mu Orangenhaine der Spitzenqualität aufgebaut.
Mit aller  Kraft habe er die Entwicklung von Fischzuchtbetrieben befördert und die  Familie von Min Deshan, den ärmsten Problemhaushalt des Dorfes, mit  eigenen Händen zu einem Modellhaushalt gemacht: Er half ihm, einen  Schweinekoben zu bauen, Ferkel und Futter zu kaufen, in einem Jahr acht  Schweine großzuziehen und über zehntausend Yuan einzunehmen.
Der  Problemfamilie von Zhou Youchun, die neben dem Deich von Danjiangkou  wohnte, habe er 5 000 Yuan, Ersparnisse aus seiner Zeit als Schreiner,  ausgehändigt, damit dieser am Deich mit Netzkörben Fische ziehen konnte -  am Ende habe er 30 000 Yuan im Jahr verdient.
Über zehn Jahre  habe er den siebzigjährigen Zhou Dafu, krank und verwitwet, wie er war,  bei sich untergebracht und ihn wie den eigenen Vater behandelt. Um das  Problem der Wasserversorgung von Mensch und Tier zu lösen, habe er die  Massen angeleitet, den Bau von sieben Teichen, fünf Wasserpumpstationen  und sieben Bewässerungsgräben in Angriff zu nehmen, wodurch in Minjiagou  das permanente Problem mit der Wasserversorgung abgestellt wurde - mit  einem großen Sprung war man zu einem Fortschritts- und Wohlstandsdorf  geworden.
Von seiner Amtsübernahme im März 1993 bis Ende 1994  seien für die verschiedenen Dorfabgaben über 280 000 Yuan aufgebracht  worden, die geschuldeten 240 000 habe man gezahlt und noch 40 000  übrigbehalten.
Min Dewei habe von ganzem Herzen nur an die Arbeit  gedacht und sich als einzig „Privates" einen Sarg vor der Türe gegönnt.  Als er starb, waren Hunderte von Menschen untröstlich. (In einer  anderen Quelle ist sogar von über tausend Männern, Frauen und Kindern  die Rede.)
(...) 
 
   
   
   
  