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Cover Lettre International 78, Arturo Herrero
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Inhaltsverzeichnis

LI 78, Herbst 2007

Bölls Gesammelte Welt

Indiskrete Nachforschungen zur Entzifferung einer Lebensschrift

In seinem Erinnerungsbuch Im Etablissement der Schmetterlinge erzählt Hans Werner Richter eine merkwürdige Geschichte. Er hatte in Berlin eine Fernsehdiskussion zu leiten über den 20. Juli 1944, den Tag des mißglückten Attentats auf Hitler, und fünf Schriftsteller, darunter Heinrich Böll, sollten erzählen, wo sie sich an diesem Tag aufgehalten und was sie erlebt und gemacht hatten. Richter erkundigte sich vorher, was jeder ungefähr sagen werde, und Böll bot, wie Richter empfand, „eine besonders reizvolle Geschichte“ an, die in einem Lazarett in Rumänien spielte, wo er als Verwundeter behandelt worden war und nebenbei illegal Wehrmachtshosen an rumänische Zivilisten verkauft hatte. Als dann die Kameras liefen, erzählte Böll eine ganz andere Geschichte. Habe er in der ersten Geschichte im Mittelpunkt gestanden, erinnerte sich Richter, so sei er jetzt ein kühler, distanzierter Beobachter gewesen, die starke Ichbezogenheit sei weggeblendet und er selbst nun nicht mehr der Handelnde gewesen, der sich ein wenig bloßstellte und ironisierte.

„Ich hörte ihm betroffen zu und alle anderen wohl auch“, 
schreibt Richter, „denn ich hatte vorher einigen bereits erzählt, welch wundersame, humorvolle und selbstkritische Geschichte wir von Heinrich Böll hören würden. Nun war sie mehr oder weniger belanglos, und ich war enttäuscht. Als wir dann, ein oder zwei Stunden später, in meiner Wohnung saßen, fragte ich ihn, warum er denn nicht die Geschichte erzählt habe, von der ich so angetan gewesen sei, und nun verblüffte er mich …, denn er antwortete: ,Ich werde mir doch nicht meine Biographie verderben.’ Er sagte es so selbstverständlich, so liebenswürdig, daß ich es ohne Widerspruch hinnahm, obwohl mir der Verzicht auf eine gute, selbstkritische und humorvolle Geschichte in meiner Sendung immer noch leid tat, ja, mich fast schmerzte. Ich empfand es wie den Bruch eines Versprechens. Und das mit seiner Biographie begriff ich nicht, es war mir unverständlich. Konnte man denn selbst schon zu Lebzeiten seine eigene Biographie zurechtschneidern, hier und da verfeinern und sie unter Umständen so manipulieren, daß sie keine dunklen, schadhaften Stellen mehr aufwies?“

Ich war gewarnt, als ich mich entschloß, noch einmal das Territorium von Heinrich Bölls Werk und Leben abzuschreiten, und ich bin während meiner Recherchen auch immer wieder auf von Böll zu Lebzeiten gesperrtes Terrain gestoßen, das nach seinem Tod von der Familie vermint wurde zum Schutz des „guten Menschen aus Köln“ und seiner unter Denkmalschutz gestellten Biographie. Solche Schutzmaßnahmen wirken zwanzig Jahre nach Bölls Tod natürlich nur noch grotesk angesichts der Tatsache, daß sich die öffentliche Aufmerksamkeit von Bölls Leben und Schreiben seit langem abgewendet hat. Wer sein Werk mit den dunklen Verlockungen eines „alten“ Paradieses heute liest, besichtigt eine untergegangene Welt. Was bleibt von Heinrich Böll? Was kann uns an seinem Leben als einem fremden interessieren, und können wir in diesem Fremden Dispositionen erkennen, die auch wir in uns haben und die bislang nur noch nicht durchgedrungen sind bis zu unserer Wahrnehmung?

Da wäre zunächst die Frage, was Böll überhaupt ins Leben hineingetrieben hat, wie er Welt in sich aufgenommen hat und durch welchen Widerstand der Realität er sich durcharbeiten mußte, um allmählich ein eigenes Bild von sich zu realisieren; welche Irrtümer er mit seinem Leben produziert hat, welche Widersprüche er andererseits produktiv machen konnte und welche besonderen Erkenntnischancen in seinem Leben enthalten waren? Aber wo anfangen, und wie? „Das ist nebensächlich: In einen Toten tritt man ein wie in eine offene Stadt“, hat Jean-Paul Sartre gesagt. Man kann folglich aus einem fremden Leben etwas Beliebiges herausgreifen, um in dieses Leben hineinzukommen, und kann in Bölls Lebens- und Textlandschaft erst einmal querfeldein herumlaufen und darauf achten, welches disparate Material in den Blick gerät, um aus diesen noch nicht miteinander verbundenen Imponderabilien ein erstes Fragmentbild seines Lebens zusammenzusetzen, denn ein Leben ist nichts anderes als ein Sammelsurium von einigem Notwendigen und viel Zufälligem, das für das Unkalkulierbare des Lebens steht, das Nichtdazugehörige und Kompakte, das sich einem in den Weg wirft und an einen hängt; aber vielleicht macht gerade das die Identität und den Geschmack des Lebens aus – daß man durch dieses Unkalkulierbare hindurch muß, aufgehalten und abgelenkt wird, vielleicht auch verformt. Da gibt es zum Beispiel die aus dem Nachlaß veröffentlichten Kriegsbriefe, die Böll an seine spätere Frau Annemarie geschrieben hat. Nicht überrascht wird ein Leser dieser Briefe gewesen sein, zu erfahren, daß Böll eine Kaserne für das „absolute Institut des Stumpfsinns“ und überhaupt das Soldatenleben für „eine große Scheiße“ hält. Durchaus überrascht wird er jedoch Sätze wie diese zur Kenntnis genommen haben: „Du weißt, daß ich den Krieg hasse, wirklich, dazu braucht es keine Worte mehr“, schrieb Böll an seine Frau Annemarie, nachdem deren Bruder „gefallen“ war. „Aber ich sage dir, ganz nüchtern und ganz klar, mit aller Nüchternheit und aller Phantasie meines Wissens, daß es nach dem Märtyrertod keine höhere und edlere Art zu sterben gibt als die, zu fallen als Soldat vor dem Feind, irgendwie und irgendwo.“

So lernt man in diesen Kriegsbriefen einen Heinrich Böll kennen, der vielen nicht in das Bild zu passen scheint, das man sich in der Nachkriegszeit von dem guten Menschen aus Köln, dem moralischen Gewissen und Repräsentanten der Bundesrepublik, gemacht hatte. Der Mann, der einem in diesen Briefen entgegentritt, war voll unbeherrschter Wut, voller Vorurteile, Voreingenommenheit und manchmal bodenlosem Haß. Wenn er sich umschaute, sah er nur „eine Welt von Schweinen“. Zugleich folgte er, wenn er sich selber betrachtete, schon sehr früh einem starken Ichideal, er hielt sich für etwas Besonderes, träumte von seiner geheimen Mission auf der Welt, fühlte sich dabei unter dem Schutz Gottes und wußte von daher auch sich – und seine Familie, zunächst seine Eltern und seine Geschwister und später seine Ehefrau – von der verruchten Welt auszugrenzen. „Ich sehne, sehne mich nach dem Tag“, schrieb er seiner Frau Annemarie unter dem 13. August 1942, „wo ich mein eigenes Leben beginnen kann und mich rächen kann an dieser wahnsinnigen Zeit.“

So führt uns diese Kriegsbriefwelt mitten hinein in die geheimen Abgründe und Widersprüche Bölls – „bin ich geboren zu einem anderen Leben“ – und wir hören nicht nur die Geräusche des Zweiten Weltkriegs, sondern auch die Geräusche des Krieges, den er mit sich selber und seiner Zeit führte. Ein Autor, dessen Kritik an den Verhältnissen in der Bundesrepublik mindestens zwei Generationen zu einem politischen Bewußtsein verholfen hat, erscheint da in ganz neuem Licht, indem diese Briefe ganz ungeschminkt das Zeug enthalten, aus dem Böll gemacht war. Der Leser dieser Kriegsbriefe ahnt, daß er sich von Heinrich Böll zu Lebzeiten möglicherweise ein völlig falsches Bild gemacht hat und Böll in der Rolle des „Gewissens der Nation“ – in die ihn einige Mitglieder der Gruppe 47 früh gedrängt hatten, nachdem der ebenfalls auserkorene Gerd -Gaiser für diese Rolle dann doch nicht in Betracht kam – wirklich gelitten hat. Vielleicht ist es an der Zeit, Bölls Lebensarbeit im Hinblick auf seine Widersprüche, Ungereimtheiten und Defizite neu zu bewerten.

(...)

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