LI 87, Winter 2009
Tage in Afghanistan
Begegnungen in einem Land der Ehre und des Krieges. Ein ReisetagebuchElementardaten
Genre: Reportage, Tagebuch
Übersetzung: Aus dem Portugiesischen von Inés Koebel
Textauszug
KABUL, 1. JUNI 2008
„Weißt du, wer in dem Haus dort gewohnt hat?“ fragt Peter und deutet aus meinem Fenster in der Kabul Lodge. Er grinst.
„Jemand Berühmtes, keiner kriegt ihn zu fassen.“
Haider, der Eigentümer der Kabul Lodge, hat es ihm erzählt. Osama Bin Laden lebte dort, und hier war der Sitz der Taliban. Peter geht in den Flur vor den Zimmern und zeigt auf einige Fenster.
„Da, Farbreste. Man hat sie zugemalt, damit keiner sehen konnte, was drinnen vor sich ging.“
Er zeigt mir auch eine kleine Treppe im Garten.
„Da unten, im Keller, da hatten sie ein Gefängnis. Und zwar noch bevor Bin Laden nach Kandahar ging, um den 11. September in die Wege zu leiten.“
Er soll immer in einem Konvoi von zehn schwarzen Wagen gefahren sein, alle unterschiedlich und alle gleich.
Die Leute hier sagen, eine Ausländerin geht nicht allein auf die Straße. Zum einen, weil afghanische Frauen nicht allein auf die Straße gehen. Zum anderen, weil Ausländer häufig Ziel von Entführungen sind. Deshalb sind Ausländer meist in Autos unterwegs. Die Firmen und Unternehmen haben durchweg Wagen mit Fahrern, die an die Ziegenpfade gewöhnt sind, auf denen sich ein Großteil des Verkehrs von Kabul staut.
Von außen sieht man nichts, aber alle wissen es. Dies ist das Eingangstor der Aga-Khan-Stiftung. Dahinter tiefgrüne Gärten mit hochgewachsenen seidigen Rosen, die ihren Duft verströmen, und ein großes, wunderbar renoviertes altes Haus.
Jolyon Leslie, Architekt, Südafrikaner und seit 1989 in Kabul, ist der Direktor des Aga Khan Trust for Culture (AKTC), der die alten Stadtviertel von Kabul und Herat unter Einbeziehung der Bevölkerung saniert. Er hat jahrelang für die UNO gearbeitet, ehe er wegen der Sanktionen gegen den Irak ausgeschieden ist. General McNeill, der demnächst das Kommando über die ISAF-Truppe abgibt, sagte während eines Abendessens zu ihm, er höre zuviel auf die Taliban, woraufhin Jolyon ihm erklärte, die Afghanen seien mit der ISAF unzufrieden.
Jolyon meint, die ISAF sei „ein Fiasko in Sachen Öffentlichkeitsarbeit“. Die Afghanen „haben zunehmend Vorbehalte“, sie lehnen die ISAF ab. Die Taliban waren schrecklich, aber manches an ihnen war so schrecklich wieder nicht. Viele Ausländer und zurückgekehrte Afghanen machen, um den Kampf gegen den Terrorismus zu rechtfertigen, die Situation schlimmer, als sie ist. Ausländer, NGOs und Wirtschaftsinteressen.
Die Ausländer, die ihre Bunker vor lauter Angst nicht verlassen und nichts mitbekommen hinter den getönten Scheiben ihrer 4 x 4-Jeeps. Jolyon laden sie als exotic independent zu ihren Abendessen ein.
Die Afghanen enttäuschen nicht gern. Deshalb sagen sie ja, auch wenn sie uns nicht verstehen. Nein sagt man nicht, es gehört sich sowenig, wie sich die Nase zu putzen oder die Fußsohlen zu zeigen. In der Kabul Lodge sind Steuern, Erfrischungsgetränke und Bin Laden, der Mythos aller Mythen, im Zimmerpreis inbegriffen.
Die Afghanen pflegen ihre Geschichte wie ihre Rosen. Auf der Straße zur Kabul Lodge, die voller Schlaglöcher, schlammiger Pfützen und Steine ist, gehen barfüßige Frauen in Burkas. Neben dem Eingangstor befindet sich ein verrostetes Schutzdach mit einem Wächter. Das Tor ist ein Witz. Aber dann geht es auf, und ein Weg führt zum Haus, das ganz auf den Garten ausgerichtet ist. Im Garten gibt es Rasen, er wird täglich gestutzt und gesprengt, zudem schlanke, blutrote Rosen, die ihre Köpfe so hoch tragen wie die alten Männer mit ihren Turbanen und graumelierten Bärten und wie der Gärtner dieses Hauses. Die Straße ist voller Löcher, und die Badezimmer sind Löcher, aber die Rosen in Afghanistan sind eine Geschichte für sich, hochgewachsen und nicht kleinzukriegen von der Junihitze – von Staub, Höhe und Kohlenmonoxid.
2. JUNI
Letzte Pressekonferenz von General McNeill, Kommandeur der ISAF.
Da es sich um einen Abschied  handelt, dachte ich, jede Menge „eingebetteter Journalisten“  seien zugegen, aber viele Stühle sind leer. Zum Schluß kommt doch noch  Bewegung in die Runde, durch afghanische Journalisten.
„Warum  begleiten Sie keine Patrouillen?“ will General McNeill wissen.
Ja,  warum nicht? Weil sie dann ihren Job oder ihr Leben verlieren. Die  afghanischen Journalisten, die weder Schutz genießen noch vorbereitet  sind, werden mit Kriegsherren konfrontiert, korrupten Poli-zisten,  religiösen Fanatikern, Regierungsinteressen und der ISAF-Strategie. Und  das ist tödlich.
Während General McNeill sein Bedauern über  seinen Abschied kundtut, fließt Wasser aus der Klimaanlage.
3.  JUNI
Ein großes Tor mit Stacheldraht an einer Straße voller  Schlaglöcher. Neue Einrichtungen in einem Gebäude, das früher ein  Gefängnis war, und in einem weitläufigen, nahezu leeren Büro der junge  Tarek. Ein Mann in den besten Jahren, strahlende Augen, Adlerprofil. Er  könnte auf einem Pferd daherkommen und wie Dschingis Khan alles dem  Erdboden gleichmachen.
Einer seiner Cousins serviert uns  allerbesten Tee, mit Milch, Zucker und Kardamom. Ich könnte immer weiter  trinken. Tarek zeigt mir Photos von Boxerinnen. Er fragt mich, ob ich  das Nachtleben von Kabul kenne und ob ich heute abend schon etwas  vorhätte.
Zunächst aber erzählt er mir sein Leben, nicht ohne  vorher mit der ISAF ins Gericht zu gehen.
„Wenn sie sagen,  sie haben 16 Taliban getötet, dann haben sie zwei Bauern umgebracht,  drei Frauen und fünf Kinder …“
Tarek steckt voll neuer Ideen  für Afghanistan.
„Ich versuche, die Wirtschaft von  Afghanistan unter Berücksichtigung seiner Industrie, seiner Geschichte  und seiner Landwirtschaft aufzubauen. Andernfalls werden wir zu Sklaven  der Welt. Ich habe mich ein Leben lang auf die Rückkehr in mein Land  vorbereitet. Die ganze Zeit hieß es nur: ,Dein Großvater war dies, dein  Großvater war das.‘ Mein Großvater war Schawali Khan, der erste  Kommandant des afghanischen Jagdgeschwaders. Und der Leibwächter von  König Sahir Schah. Als die Kommunisten die Macht übernahmen, kamen die  Leute zu meinem Großvater in sein Haus in Dschalalabad, um ihn zu  warnen: ,Schawali, bring dich in Sicherheit.‘ Aber er wollte nicht  fliehen und in einem anderen Land Sklave sein. Den Kommunisten erklärte  er: ,Ich habe meinen Eid auf Sahir Schah geleistet.‘ Sie haben ihn ins  Gefängnis gesteckt. Alle wissen, daß er hätte fliehen können, aber er  hat es nicht getan. Eines Tages werde ich ein Held sein, genau wie mein  Großvater.“
Tareks Großvater mütterlicherseits.
„Mein  Großvater väterlicherseits war ein großer Stammesführer in Nuristan.  Sein Vater, Schal Pascha, hat die heidnischen Stämme Nuristans  islamisiert.“
Diese gebirgige Provinz im Nordosten  Afghanistans ist sagenumwoben. Obgleich von Muslimen umgeben, blieb sie  bis Ende des 19. Jahrhunderts heidnisch. Somit ist Tarek also der  Urenkel des Mannes, der diese Stämme zwangsbekehrt hat. Er besitzt zwar  das gleiche markante Profil wie diese Paschas und Khans und trinkt Tee  mit Kardamom, spricht aber mit kalifornischem Akzent.
„Ich  kann Geschäfte über 10 Millionen Dollar tätigen. Deswegen bewege ich  mich aber noch lange nicht mit einer bewaffneten Eskorte durch die  Gegend wie alle, die es sich leisten können.“
Tarek sagt, er  möchte für sein Land leben, angefangen bei der Afghanin, mit der er  verlobt ist und Kinder haben wird.
„Ehre und Stolz ist alles,  was wir haben. Die ausländischen Truppen treten uns mit Füßen, sie  versuchen uns fertigzumachen, aber wir Afghanen geben nicht klein bei.  Kabul ist nicht Afghanistan, Kabul ist die Gosse von Afghanistan.“
Kabul  als Symbol der zentralen Macht, das gibt es nicht in der  Stammestradition.
Tarek blickt nach vorn wie ein professioneller  Kämpfer. Diese Nase hat er nicht nur von seinen Vorfahren, sondern auch  von den Faustschlägen im Ring. Der Mann ist ein Boxer, und jetzt ist er  hier, um zu gewinnen.
„2004, als ich zurückkehrte, war ich  ziemlich aggressiv. Bei uns zählt die Ehre, und man hat es meiner  Familie gegenüber an Achtung fehlen lassen. Ich bin ein Kämpfer, und ich  bin gekommen, um die Dinge wieder zurechtzurücken. Fünfzig Männer haben  mich am Flughafen empfangen. Als ich in die Stadt kam, habe ich  gesehen, wie die Menschen hier leben. Ich bin mit Leib und Seele  Afghane, so hat mich Gott geschaffen. Ich bin auf dem Besitz meiner  Großeltern aufgewachsen, aber ich konnte reisen und die entsprechenden  Schulen besuchen, und irgendwann dachte ich: Ich werde die Welt durch  den Sport revolutionieren. Mit Jungen und Mädchen. Ich setze dabei auf  Jugendliche unter 17, die einzigen, die noch unverdorben sind. Zuerst  mache ich ein Fußballprogramm mit Jungen und Mädchen. Dann einen  Boxerinnenverband. Meine Mutter meinte: ,Die bringen dich um.  Afghanistan ist noch nicht soweit. Der hiesige Kriegsherr bringt dich  um.‘ Aber ich habe meine afghanischen Kleider angezogen und ihm einen  Besuch abgestattet, habe mich zu ihm auf den Boden gesetzt und mit ihm  gegessen: ,Ist es nicht Zeit, der Welt zu zeigen, wer wir sind? Alle  wollen sie das Land wiederaufbauen, aber dazu brauchen wir die Zukunft,  und das sind die Kinder und Jugendlichen.‘ Ich hab’ ihn  herausgefordert.“
Daran denkt nämlich keiner, wenn versucht  wird, dem Opiumanbau einen Riegel vorzuschieben, meint Tarek.
„Den  Leuten wird gesagt: ,Hört auf mit dem Opium.‘ Und die Leute fragen:  ,Wieso? Was haben wir denn für eine Alternative?‘ Die Welt erwartet, daß  diese Menschen, die nichts haben, was sie statt dessen machen könnten,  die nicht lesen und nicht schreiben können, sich in sechs Jahren ändern.  Wenn man ihnen aber Alternativen bietet, sind sie durchaus dafür offen.  Der Typ, der mich angeblich umbringen wollte, bekam feuchte Augen, als  ich ihm von meinem Sportprojekt mit den Kindern erzählte, und hat mich  einen Engel genannt.“
Inzwischen trainiert Tarek die  Boxermädchen bereits. Die jüngste ist zwölf, die älteste 17 Jahre alt.
Ramin  führt mich in ein Restaurant, in dem nur Afghanen verkehren, das Bab  Amir. Wir setzen uns in den kleinsten Raum, da, wo die Familien sitzen  oder, genauer, wo auch Frauen sein dürfen. Ich kann mein Tuch vom Kopf  nehmen und auf die Schultern legen. Man bringt bitteren Joghurt, warmes  Brot und kabuli, ein Gericht aus gebratenem Reis mit Rosinen,  Pistazien, Karottenstreifen und einem Stück Hammelfleisch, alles  ausgezeichnet. Und Coca-Cola.
„Unter den Kommunisten haben  die Afghanen noch an etwas geglaubt; seit die Amerikaner hier sind,  glauben sie an nichts mehr“, sagt Ramin. „Die Amerikaner setzen  sich nicht wirklich mit Afghanistan auseinander, und die Leute spüren  das. Da liegt der Unterschied zwischen einem Untertan und einem Bürger.  Es gibt hier keine bürgerliche Kultur, keine soziale Verantwortung. Nur  internationale Verlierer. Hier sind unfähige Ministersöhnchen in der  Regierung, und den Amerikanern ist das egal. Accountability lost.  Das ganze Geld wird wahllos ausgegeben. Wir haben 400 Schulen gebaut,  sagt die USAID. Great. Aber es gibt keine Lehrer und kein  Erziehungssystem. Und auch keine Ärzte; sie sind schlimmer als Metzger,  niemand bildet sie aus, dafür gibt es kein Programm. Wenn es hoch kommt,  sind vielleicht zehn Prozent der finanziellen Hilfe gut angelegt. Sein  Ziel erreicht man nur über Bestechung oder indem man über Leichen geht.“
(...)
 
   
   
   
  