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Cover Lettre International 55, Roberto Cabot
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Inhaltsverzeichnis

LI 55, Winter 2001

Die Tragödie Afghanistans

Die Buddhas wurden nicht zerstört, sie sind vor Scham versunken

Wenn Sie meinen Artikel ganz lesen, wird Sie das etwa eine Stunde Ihrer Zeit kosten. In dieser Stunde werden wieder 14 Menschen in Afghanistan an Krieg und Hunger gestorben und 60 weitere in andere Länder geflohen sein. Dieser Artikel möchte die Gründe für so viel Tod, so viel Flucht beschreiben.Wenn dieses bittere Thema belanglos für Ihr süßes Leben ist, dann lesen Sie ihn bitte nicht. (Im März 2001)

Im letzten Jahr besuchte ich das Filmfestival von Pusan in Südkorea, wo man mich nach dem Thema meines nächsten Films fragte. Ich antwortete: Afghanistan. Sogleich kam die Frage: "Was ist Afghanistan?" Warum ist das so? Warum ist ein Land so obsolet, daß die Leute in einem anderen asiatischen Land wie Südkorea nicht einmal davon gehört haben? Der Grund ist klar. Afghanistan spielt in der heutigen Welt keine Rolle. Es ist kein Land, an das man sich wegen eines bestimmten Anreizes erinnert, das durch wissenschaftliche Fortschrittlichkeit oder Ruhm in den Künsten besticht. In den USA, in Europa und im Mittleren Osten ist die Lage anders, Afghanistan wird dort als ein besonderes Land angesehen. Diese Besonderheit ist allerdings nicht positiv konnotiert. Den Namen Afghanistan verbindet man sofort mit Schmuggel, den Taliban, islamischem Fundamentalismus, Krieg mit den Sowjets, langjährigem Bürgerkrieg, Hungersnot und hoher Sterblichkeit. In diesem subjektiven Porträt gibt es keine Spur von Frieden und Sicherheit oder Entwicklung. Daher möchte kein Tourist dorthin reisen, kein Geschäftsmann dort investieren.

Warum also sollte man es nicht dem Vergessen anheimgeben? Die Diffamierung ist derart, daß bald in den Lexika zu lesen sein wird, Afghanistan sei ein Drogen produzierendes Land mit rohen, aggressiven und fundamentalistischen Einwohnern, die ihre Frauen unter ganz geschlossenen Schleiern verstecken.

Hinzu kommt nun die Zerstörung der größten bekannten Buddhastatuen, die jüngst die Anteilnahme der gesamten Welt erhielt und alle Liebhaber von Kultur und Kunst dazu brachte, die zerstörten Statuen zu verteidigen. Doch warum hat niemand außer der UNO-Hochkommissarin Ogata Bestürzung über den drohenden Tod von einer Million Afghanen als Folge einer schweren Hungersnot gezeigt? Warum spricht niemand von den Gründen für diese Sterblichkeit? Warum klagt ein jeder laut über die Zerstörung der Buddhastatuen, während niemand fragt, wie man den Tod hungernder Afghanen verhindert? Werden in der Welt von heute Statuen mehr geliebt als Menschen?

Ich bin durch Afghanistan gereist und Zeuge der Lebenswirklichkeit in diesem Land geworden. Als Filmemacher habe ich im Abstand von 13 Jahren zwei Spielfilme über Afghanistan gedreht (Der Radfahrer, 1988, und Kandahar, 2001). Dazu habe ich etwa 10.000 Seiten verschiedenster Bücher und Dokumente gelesen, um Fakten für die Filme zu sammeln. Infolgedessen habe ich ein anderes Bild von Afghanistan als der Rest der Welt, komplexer und tragischer, aber auch positiver und friedfertiger. Es ist ein Bild, das Aufmerksamkeit braucht statt Vergessen und Verdrängung.

Doch wo ist Saadi, um diese Tragödie zu sehen – jener Saadi, dessen Gedicht "Alle Völker sind Glieder eines Körpers" über dem Portal der Vereinten Nationen steht? Der Eindruck, den die Iraner von Afghanistan haben, beruht auf demselben Bild wie das der Menschen in Amerika, Europa und im Mittleren Osten. Der einzige Unterschied ist, daß der Fokus näher liegt. Iranische Arbeiter, Leute aus dem südlichen Teheran und die Arbeiterbevölkerung iranischer Städte betrachten die Afghanen keineswegs wohlwollend, vielmehr als Konkurrenten bei der Suche nach Arbeit. Mit Druck auf den Minister für Arbeit forderten sie, die Afghanen in ihre Heimat zurückzuschicken.

Die iranische Mittelklasse dagegen vertraut den Afghanen gerne Hausmeister- und Gärtnerarbeiten an. Im Baugewerbe hält man die Afghanen für bessere Arbeiter als ihre iranischen Kollegen, zumal sie niedrigere Gehälter akzeptieren. Die Autoritäten der Drogenbekämpfung sehen in ihnen Schlüsselelemente des Drogenhandels und verbreiten die Ansicht, daß man das Drogenproblem ein für allemal lösen könne, indem man die Schmuggler verhaftet und alle Afghanen nach Hause schickt. Arzte glauben in ihnen den Grund für einige Epidemien wie die "afghanische Grippe" diagnostizieren zu können, die es im Iran zuvor nicht gab. Sie bieten Impfungen bereits in Afghanistan an und haben so die Kosten der Polio-Impfungen auch für die afghanische Bevölkerung übernommen.

Wenn ein Land in die Schlagzeilen gerät, sollte man sich diese genauer anschauen. Das Bild eines Landes, das die Medien der Welt zu sehen geben, kombiniert Tatsachen mit einem imaginären Konstrukt, das – so wird unterstellt – die restliche Welt von diesem Land hat. Wenn diese oder jene Region der Welt plötzlich auf allgemeines Interesse stößt, dann selbstverständlich deshalb, weil die Presse davon spricht.

Nun habe ich bemerkt, daß an Afghanistan außer Drogen nichts ist, was das Interesse weckt. Deshalb erscheint dieses Land nicht oder fast nicht in den Weltnachrichten, und eine Lösung seiner Probleme liegt fern. Wenn es wie Kuwait Öl und Petrodollars hätte, dann wäre es vermutlich auch in drei Tagen von den Amerikanern zurückerobert worden; und die Petrodollars hätten die Armeekosten gedeckt.

Als es die Sowjetunion noch gab, genoß Afghanistan die Aufmerksamkeit der westlichen Medien, weil es gegen den Ostblock kämpfte und als Zeuge kommunistischer Unterdrückung diente. Warum haben die Vereinigten Staaten als deklarierte Verfechter der Menschenrechte nach dem Rückzug der Sowjetunion und ihrem späteren Auseinanderfallen keine ernsthaften Hilfsaktionen eingeleitet für 10 Millionen Frauen, denen man Ausbildung und gesellschaftliche Aktivität verwehrt, oder für die Ausrottung von Armut und Hunger, die so vielen Menschen das Leben rauben?

Die Antwort: Afghanistan hat nichts zu bieten. Es ist kein bezauberndes Mädchen, das die Herzen von tausend Verehrern höher schlagen ließe. Zu seinem Unglück ähnelt es heute dem Bild einer alten Frau. Wer immer sich ihm nähern will, wird die Kosten für eine Sterbende zu tragen haben, und wir wissen, daß unsere Zeit nicht wie die Saadis ist, in der galt: "Alle Völker sind Glieder eines Körpers."

In den letzten zwei Jahrzehnten hat es keine seriösen Statistiken über Afghanistan gegeben. Daher sind alle Daten und Zahlen nur Annäherungswerte. Demnach hatte Afghanistan im Jahr 1992 20 Millionen Einwohner. In den vergangenen zwanzig Jahren und seit der sowjetischen Besatzung sind 2,5 Millionen Menschen an den direkten oder indirekten Folgen des Krieges gestorben – Angriffe der Armee, Hungersnot oder mangelnde medizinische Versorgung. Mit anderen Worten: Jedes Jahr sind in dieser Tragödie 125.000 Menschen getötet worden oder gestorben, oder jeden Tag 340 Menschen oder jede Stunde 14 Menschen oder alle fünf Minuten ein Mensch. Wir leben in einer Welt, in der wir vor einigen Monaten per Satellit von Minute zu Minute über den Unfall des russischen U-Bootes und den tragischen Tod seiner Besatzung informiert wurden; einer Welt, die pausenlos von der Zerstörung der Buddhastatuen berichtete. Aber niemand spricht vom tragischen Tod eines Afghanen, alle fünf Minuten seit zwanzig Jahren. Die Zahl der afghanischen Flüchtlinge ist sogar noch tragischer. Genaueren Statistiken gemäß leben außerhalb Afghanistans 6,3 Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan und im Iran. Teilt man diese Zahl in Jahre, Tage, Stunden und Minuten, so ist in den letzten zwanzig Jahren jede Minute ein Afghane zum Flüchtling geworden. Und diese Zahl umfaßt nicht einmal jene, die im Land von Nord nach Süd und umgekehrt ziehen, um dem Bürgerkrieg zu entkommen. Ich persönlich erinnere mich an kein Land, dessen Bevölkerung um 10 Prozent durch Sterblichkeit und um 30 Prozent durch Flucht verringert wurde und das von der Welt so wenig Beachtung bekam. Die Zahl von Toten und Flüchtlingen in Afghanistan entspricht der gesamten palästinensischen Bevölkerung, doch selbst die Anteilnahme von uns Iranern für Afghanistan erreicht keine 10 Prozent von der, die wir für Palästina oder Bosnien aufbringen, obwohl wir eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Grenze haben.

Als ich in Dogharun die Grenze nach Afghanistan überquerte, sah ich ein Schild, das Besucher vor seltsam aussehenden Objekten warnte. Das waren Minen. Ich las: "Alle 24 Stunden treten sieben Menschen in Afghanistan auf Minen. Geben Sie acht, heute oder morgen nicht einer von ihnen zu sein."

In einem Lager des Roten Kreuzes habe ich noch Schlimmeres gehört. Eine Gruppe von Kanadiern, die zur Minenbeseitigung gekommen waren, hatte vor dem Ausmaß der Verminung die Hoffnung verloren und war umgekehrt. Demnach müßte die afghanische Bevölkerung noch fünfzig Jahre lang auf Minen treten, um ihr Land sicher und bewohnbar zu machen. Der Grund dafür ist, daß jede der vielen Kriegsparteien planlos Minen gegen andere gesät hat ohne irgendeine Karte oder einen Plan, der erlaubte, sie später wiederzufinden. Die Minen sind nicht nach einer militärischen Strategie gelegt, die eine Entminung zu Friedenszeiten ermöglichen würde. Das bedeutet, eine Nation hat Minen gegen sich selbst gesetzt. Und bei starken Regenfällen werden einst sichere Wege zu Gefahrenzonen, weil Schlammströme die Minen an andere Orte tragen.

Diese Fakten zeigen, in welchem Ausmaß das Leben in Afghanistan unsicher ist, und unablässig treibt dies Menschen in die Flucht. Die Afghanen nehmen ihre Lebenssituation als gefährlich wahr. Immerzu müssen sie Tod und Hunger fürchten.

Warum sollten sie nicht fliehen? Eine Nation mit einer Auswanderungsrate von 30 Prozent setzt keine Hoffnungen mehr in die Zukunft. Von den bleibenden 70 Prozent sind 10 Prozent getötet worden oder gestorben; den restlichen 60 Prozent ist es nicht gelungen, die Grenze zu überqueren – und wenn, dann sind sie von den Nachbarländern zurückgeschickt worden.

Diese gefahrenvolle Lage ist auch ein Hindernis für jegliche ausländische Präsenz in Afghanistan. Ein Geschäftsmann würde niemals riskieren, dort zu investieren, es sei denn, er ist Drogenhändler, und politische Experten ziehen es vor, direkt in die westlichen Länder zu fliegen. Dies macht es schwierig, Afghanistans Krise zu lösen. Gegenwärtig gibt es aufgrund der UNO-Sanktionen und der dramatischen Sicherheitslage keine politischen Experten in Afghanistan, mit Ausnahme derer, die offiziell von drei und inoffiziell von zwei weiteren Ländern gesandt wurden. Die politischen Vorschläge, die es gibt, werden aus der Ferne gemacht.

Dies macht die Lage noch auswegloser für ein Land, das eine so schwere Tragödie und solch bitteres Desinteresse der Welt erfahren muß. In der Umgebung der Stadt Herat sah ich etwa 20.000 Männer, Frauen und Kinder an Hunger sterben. Sie konnten nicht mehr gehen und lagen auf dem Boden in Erwartung des Unausweichlichen. Das war die Folge der jüngsten Hungersnot. Am selben Tag besuchte die damalige Flüchtlings-Hochkommissarin der UNO, Sadako Ogata, diese Menschen und versprach, daß die Welt ihnen helfen werde. Drei Monate später hörte ich dieselbe Frau Ogata im iranischen Radio die Zahl der verhungernden Afghanen nennen: eine Million.

Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß die Statuen Buddhas von niemandem zerstört worden sind – sie sind vor Scham eingestürzt. Vor Scham über die Gleichgültigkeit der Welt gegenüber Afghanistan. Sie zerbrachen über dem Wissen, daß ihre Größe nichts Gutes vermocht hat.

In Duschanbe in Tadschikistan sah ich eine unfaßbare Szene: Hunderttausend Afghanen flohen zu Fuß von Süd nach Nord. Es sah aus wie der Jüngste Tag. Solche Szenen werden in keinen Nachrichten der Welt gezeigt. Die kriegsgezeichneten hungrigen Kinder waren barfuß Kilometer über Kilometer durch das Land gelaufen. Später wurde dieser Flüchtlingsstrom von internen Feinden angegriffen, und in Tadschikistan verweigerte man ihnen Asyl. Zu Tausenden starben sie und starben, im Niemandsland zwischen Afghanistan und Tadschikistan und weder du noch irgendein anderer hat es je erfahren. Frau Golrokhsar, die bekannte tadschikische Dichterin, schrieb: "Merkwürdig wäre es nicht, wenn angesichts der bitteren Not Afghanistans einer in der Welt aus Jammer stürbe. Merkwürdig ist, daß keiner daran stirbt."

(...)

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