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Inhaltsverzeichnis

LI 126, Herbst 2019

Gandhis Vermächtnis

Über Wahrheitsmacht, spirituelle Kriegsführung und Gewaltlosigkeit

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   Es gibt viele widersprüchliche Ansichten zu Gandhis Persönlichkeit und zu seinen Methoden. Vielleicht war sein wichtigster Beitrag zum Unabhängigkeitskampf seine geistige Führerschaft und sein sich daraus ergebender Einfluß auf die Bevölkerung Indiens. Sein ganzes Leben lang hielt er an zwei fundamentalen Prinzipien fest, an seinem Glauben an das ahimsa, die Gewaltlosigkeit, und an dem Begriff des satya, der Wahrheit; wie er in der Einleitung zu seiner Autobiographie sagte: „Meine gesamte Erfahrung hat mich davon überzeugt, daß es keine andere Gottheit gibt als die Wahrheit. Und wenn nicht jede einzelne Seite dieses Buches dem Leser verkündet, daß der einzige Weg zur Verwirklichung der Wahrheit ahimsa ist, dann waren … alle meine Mühen umsonst.“

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   Es ist allerdings nicht leicht, Gandhi anderthalb Jahrhunderte nach seiner Geburt seinen Platz anzuweisen – einem nicht nur höchst fruchtbaren Schriftsteller (die gesammelten Werke werden hundert Bände umfassen), sondern auch ausgesprochen global orientierten Denker. Seine engsten Freunde in Südafrika waren jüdische Intellektuelle aus England und Deutschland. Nachdem er Anfang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts vergeblich versucht hatte, sich in einen englischen Gentleman zu verwandeln, führte ein russischer Theosoph ihn in den Hinduismus ein. Doch entlieh er ebenso viel dem Neuen Testament, den Schriften von John Ruskin, Thoreau, G. K. Chesterton und Tolstoi wie der Bhagavadgita, deren Bekräftigung des gerechten Krieges er als eine Parabel der Gewaltlosigkeit interpretierte.
   Obwohl er als frommer Hindu bekannt war, besuchte er nur selten einen Tempel und war allgemein abgestoßen von den Ritualen und Gebräuchen organisierter Religion. Er rief seine alte Partei, den Kongreß, nach der Unabhängigkeit Indiens dazu auf, sich aufzulösen und nicht zur neuen herrschenden Klasse zu werden. Er lehnte alle Verantwortung für das ab, was seine Jünger und Kritiker „Gandhismus“ nannten, und er erklärte: Jeglicher ideologische „‘Ismus’ muß zerstört werden … Es ist mir wichtig, den Gandhismus bald ausgelöscht zu sehen.“ Den im 19. Jahrhundert so weitverbreiteten Glauben an die Geschichte als sinnvolle Abfolge ständigen Fortschritts lehnte er ab, und die im Westen herrschende Ansicht, die Gesellschaft sei eine Ansammlung von Individuen mit vernünftigem Selbstinteresse und ökonomischer Motivation, verabscheute er. Er bediente sich zwar der Sprache des modernen Antiimperialismus – der Kritik der Ausbeutung, der Forderungen nach rassischer, zivilisatorischer und nationaler Gleichheit. Doch setzte er seinen Glauben nicht in eine konstitutionelle Demokratie, nicht in den Kommunismus, nicht in die Industrialisierung oder andere Formen des Machtgewinns, wie indische und asiatische Antiimperialisten sie vertraten.

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   „Die Politik“, meinte er, „umschlingt uns heute wie eine Schlange, deren Druck man nicht entgehen kann, wie sehr man sich auch müht. Deshalb will ich mit der Schlange ringen.“

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   Heute, in einer Epoche erfolgreicher rechtsextremer Bewegungen, bekommt Gandhis politisches Denken eine neue Bedeutung. Er hat viel zu den heute dringlichen Fragen zu sagen: zur Ungleichheit, dem Ärger der Zurückgesetzten, dem Aufstieg der Demagogen und dem Zusammenbruch der demokratischen Prozeduren. Man könnte in Gandhi durchaus – wie es Faisal Devji in The Impossible Indian: Gandhi and the Temptation of Violence (2012) tut – einen der wichtigsten politischen Denker unserer Zeit sehen. Eine solche Einschätzung wird durch die Chronik von Gandhis Torheiten und Absurditäten, die Kritiker jüngst wieder zusammengestellt haben, durchaus nicht widerlegt.
   Gewiß, Gandhis Ideen lassen sich nicht so leicht aus der Geschichte entfernen wie seine Denkmäler, obwohl ihr kühner Radikalismus oft in der verniedlichenden allgemeinen Verehrung untergeht, mit der sein Name heute genannt wird. Es stimmt schon, daß manche seiner Argumente an das Toben eines altmodischen Maschinenstürmers und Brachialkritikers erinnern – seine Anklage beispielsweise, daß die modernen Ärzte und Rechtsanwälte die Menschen nur verantwortungsloser und gieriger machen. Doch ganz ohne wahren Kern ist das vielleicht nicht: Uns liegen heute Vorstellungen wie die, daß Profitgründe Anwälte eher dazu bringen, die Menschen zum Streit aufzustacheln, als sie zusammenzuführen, oder daß das lukrative Geschäft der modernen Medizin eher Symptome behandelt und die wahren Ursachen einer Krankheit ignoriert, nicht so ferne.

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   Doch Gandhi verfügte über eine größere Weltkenntnis als die moral economists, die christlichen Humanisten oder selbst die deutschen Flüchtlinge vor dem Nazismus. Im Gegensatz zu ihnen war er gezwungen, schon sehr früh im 20. Jahrhundert die westlichen Demokratien zu analysieren, und zwar von ihren zutiefst undemokratischen asiatischen und afrikanischen Kolonien aus. Eher ein Aktivist als ein Theoretiker, holte er eine nie gekannte Zahl von gewöhnlichen Männern und Frauen ins politische Leben. Und das Wichtigste: Er formulierte eine Strategie des Widerstands, die geschickt Massenpolitik mit einem moralischen Imperativ verband: dem, den Teufelskreis gewaltsamer Gegnerschaft aufzulösen. Jacques Maritain beschrieb satyagraha richtig als „spirituelle Kriegsführung“, bei der dem Bösen nicht Gewalt entgegengesetzt wird, die „zum Vergießen … des Blutes anderer Menschen“ führt, sondern „das Erleiden und Ertragen – ein Weg, der in letzter Konsequenz zum Opfer des eigenen Lebens führt“. Tatsächlich nannte Gandhi diejenigen, die satyagraha praktizierten, „wahre Krieger“, furchtlos genug, um niemals zu den Waffen zu greifen – im Gegensatz zu den Feiglingen, die von ihrer Angst in die Gewalt getrieben werden.
   Dies war ein neuer Weg, unter Umständen massiver Unterdrückung zu verantwortlichem moralischem Handeln zu gelangen. Faisal Devji schreibt über Gandhis Position, daß „Freiheit und Souveränität sofort jedem zur Verfügung stehen, der furchtlos genug ist, Leiden und Tod auf sich zu nehmen, indem er einer ungerechten Sozialordnung die Mitwirkung aufsagt“. Devji legt im weiteren dar, Gandhi sei kein Humanist gewesen; es sei ihm nicht vorwiegend darum gegangen, menschliches Leid zu lindern. Tatsächlich bestand seine Politik darin, „die Gewalt herauszufordern, um sie durch die Kraft des Leidens in etwas völlig Unerwartetes zu verwandeln“.
   Diese Herausforderung der Gewalt mag ganz und gar irrational scheinen. Doch Gandhis Salzmarsch im Jahre 1930 sowie Martin Luther Kings ebenso epochale Kampagne 1963 in Birmingham beweisen die Effektivität der Strategie. In beiden Fällen forderte die Führung die extreme Brutalität der Polizei heraus und gebrauchte dann das Schauspiel der erlittenen Gewalt, um die Meinung der Öffentlichkeit über die ungerechten Gesetze, gegen die man protestierte, entscheidend zu verändern. Wie Gandhi bemerkte: „Ein bloßer Appell an die Vernunft nützt nichts, wo Vorurteile uralt sind … Ins Herz dringt das Leiden ein. Es öffnet das innere Verständnis des Menschen.“ Im übrigen waren das gemeinsame Ertragen der Schmerzen und die Weigerung, zurückzuschlagen, nicht nur eine pragmatische Taktik für die Kameras. Hinter Gandhis Stoizismus lag – so argumentiert Devji – die tiefe Überzeugung, daß die Gesellschaft viel mehr ist als ein sozialer Vertrag zwischen egoistischen Individuen, vom Gesetz garantiert und von Institutionen geformt; sie beruht tatsächlich auf Beziehungen, in denen das Opfer eine Rolle spielt, ob nun unter Liebenden, Freunden oder Eltern und Kindern.
   Durch die Hervorhebung interesseloser Beziehungen zwischen den Menschen und der Betonung moralischer Verpflichtungen wollte Gandhi die liberale Logik des rationalen Selbstinteresses zügeln – die in der Moderne Leben und Eigentum als die höchsten Güter statuiert und das politische und wirtschaftliche Leben entsprechend geformt hatte. Er konnte erkennen, daß ein öffentliches Leben, das um ein unmoralisches Konzept des Privatinteresses organisiert ist, immer in Gefahr steht, in wilde Konkurrenz und gewaltsamen Zwang abzusinken. „Schrankenloser Individualismus“, warnte Gandhi, „ist das Gesetz des wilden Tiers im Dschungel.“ Er unterminiert die soziale Kohärenz und schafft am Ende die Bedingungen für eben das, was der Gesellschaftsvertrag eigentlich verhindern sollte: den Krieg aller gegen alle.

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