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Cover Lettre International, Castellucci
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Inhaltsverzeichnis

LI 106, Herbst 2014

Rätsel des Buches

Zur Geschichte des Korans und der historischen Dynamik des Islams

(…)

Dogmen

Perry Anderson:
Was sind, im Hinblick auf die religiöse Gesamtbotschaft des Korans, die fundamentalen Dogmen, mit denen er den Glauben versehen hat, der zum Islam wurde?

Suleiman Mourad: Es gibt fünf Pfeiler des Islams. Die Einheit und Einzigartigkeit Gottes ist das absolute Kriterium. Aber man kann auch kein Gläubiger sein – und folglich kein Muslim –, wenn man nicht an Engel glaubt. Wenn man an der Existenz von Engeln zweifelt, ist man kein Gläubiger, denn ohne Engel gibt es keine Kommunikation zwischen Gott und der Menschheit, und folglich würde die Gültigkeit der Schrift in Zweifel gezogen. Ebensowenig kann man ein Monotheist sein, ohne die Propheten zu akzeptieren, die vor Mohammed kamen, und die Botschaften, die sie brachten. Man kann kein Monotheist sein, ohne an die Realität der Auferstehung und den Tag des Jüngsten Gerichts zu glauben. Das alles ist ein „Muß“. Dann ist unsere Pflicht als Monotheisten, Gottes Gesetz zu gehorchen, wie es im Koran offenbart und in Gottes Scharia (die der Koran nicht vollständig festlegt) verkörpert ist. Die Scharia wird jedoch in jeder einzelnen Rechtsschule des Islams (von denen es im sunnitischen Islam vier und im schiitischen mehrere gibt) ein wenig anders bestimmt. Heutzutage sind diese Dinge den Muslimen viel weniger klar, aber vor hundert Jahren sagte man nicht: Ich bin ein Muslim, basta – man mußte sagen: Ich bin Hanafit, ich bin Schafiit, ich bin Imamit; das heißt, man mußte die Schule spezifizieren, der man anhing.

Daß es in der heutigen islamischen Welt so viel Chaos gibt, liegt zum Teil daran, daß die meisten Leute nicht wissen, was die Scharia ist. Denn es gibt nicht die eine islamische Scharia – jede Rechtsschule hat ihre eigene festgelegt, und man war Muslim gemäß der Scharia dieser Schule. Das betraf beinahe jeden Aspekt des Lebens. Wenn jemand starb, mußte er zum Beispiel entsprechend der Scharia der Schule, der er anhing, bestattet werden. Wenn das Ritual nicht befolgt wurde, war das ein großer Affront gegen den Verstorbenen, viel größer, als ihn überhaupt nicht zu bestatten. Heute ist dies alles verworren und unklar. Viele Leute sagen lediglich, sie seien Muslime, und behaupten, der islamischen Scharia zu folgen. Aber was ist die islamische Scharia? Wo ist sie zu finden? Sie haben keine Ahnung. Sie sind verpflichtet zu glauben, die Scharia sei von dem einen oder anderen Geistlichen festgelegt worden. Aber was ist, wenn man aus Pakistan stammt und dieser Geistliche von einer Rechtsschule ist, die in Pakistan nicht praktiziert wird? Die eklektischen Praktiken in der modernen islamischen Welt sind mehr ein Reflex ihres chaotischen Zustands als eine tatsächliche Einhaltung von Vorschriften oder Klarheit darüber, was Islam ist.

Sie haben die eschatologische Komponente in der Botschaft des Propheten erwähnt – den Glauben, daß der Tag des Jüngsten Gerichts kommen wird, in nicht so ferner Zukunft –, auf die einige Gelehrte nachdrücklich Wert legen. Wie schätzen Sie das ein?

Das ist eines der Themen, bei denen man eine Entwicklung innerhalb des Korans beobachten kann. In den mekkanischen Teilen ist es viel ausgeprägter. Das Eschaton als das Ende der Zeit ist ein Tropus, der nur funktioniert, wenn er in der Einbildungskraft der Zuhörer das Gefühl hervorruft, dies sei ihre letzte Chance: Der Tag des Jüngsten Gerichts steht unmittelbar bevor, und wenn ihr jetzt nicht Buße tut, seid ihr verdammt. In der Medina-Zeit bleibt der Tag des Jüngsten Gerichts eine Realität, aber er ist in größere Ferne gerückt worden. Ich sage dies, weil es eine sehr verwirrende Eigenschaft in diesen Teilen des Korans gibt. Das Rechtsgebiet, das als einziges in Form von unglaublich detaillierten Vorschriften dargelegt wird, ist das Erbrecht. Wenn eine Bewegung von der Idee des Endes der Zeit besessen ist, warum gibt sie sich dann solche Mühe, genau festzulegen, wie ein Erbe aufgeteilt werden soll? Es heißt nicht bloß, man solle sein Erbe seinem Sohn geben oder wenn man eine Tochter habe, solle man ihr die Hälfte oder ein Viertel davon geben, sondern es geht um Fragen wie: Was bekommt die Mutter? Was der Vater? Was ist, wenn nur Frauen überleben? Viele verschiedene Szenarien eines Erbfalls werden durchgespielt. Dies ist eindeutig keine Gemeinde, die in Panik vor einem unmittelbar bevorstehenden Jüngsten Tag lebt. Diese Veränderung hat viel Ähnlichkeit mit der in den christlichen Schriften des späten 1. Jahrhunderts, als allmählich die Einsicht dämmerte, daß das neue Jerusalem nicht kommen würde – wir können nicht weiter darauf warten, wir müssen leben, also wie leben wir als Christen? Der Fokus der Tradition verändert sich, und ich denke, das geschah ziemlich schnell, eher noch zu Lebzeiten von Mohammed als nach seinem Tod. Nachdem er nach Medina übergesiedelt war, wurde er zu einem Herrscher, und die religiöse Dynamik wandelte sich. Er kämpfte nicht länger darum, eine Gemeinde mit einer eschatologischen Warnung zu einen; er konnte politische Machtmittel anwenden, um seinen Willen durchzusetzen. Zu diesem Zeitpunkt wird der Jüngste Tag zu einem Nebengedanken und steht nicht mehr so sehr im Zentrum.

(…)

Pansunnismus

Wie läßt sich das heftige Wiederaufflackern von Feindseligkeiten zwischen Sunniten und Schiiten im heutigen Nahen Osten erklären? Spannungen dieser Größenordnung zwischen den beiden Gemeinden hat es viele Jahrhunderte lang nicht gegeben – welche aktuelle Dynamik steht dahinter?

Es gibt drei bedeutende Figuren des modernen Islams, die Panislamisten waren: Sayyid Qutb in Ägypten, Khomeini in Iran und Maududi in Indien/Pakistan. Alle drei wollten, daß die Muslime ihre Differenzen in einer islamischen Einigkeit überwinden, die in der Lage wäre, über die beiden Übel, den dekadenten Kapitalismus und den atheistischen Kommunismus, zu triumphieren. Alle waren sie der Auffassung, daß die Muslime in einer Zeit leben – es gab eschatologische Untertöne –, in der die Gläubigen zwischen diesen beiden Felsen erdrückt und gezwungen würden, für das eine oder für das andere zu optieren. Sie priesen den Islam als Alternative. Aber der Islam konnte dies nur bieten, wenn er einig war. In der sunnitischen Welt predigten Maududi und Qutb Panislamismus, aber beide starben, bevor ihre Ideen eine große Zuhörerschaft gefunden hatten. Es war der Erfolg der Iranischen Revolution von 1979, der die ideologische Landschaft neu gestaltete. Khomeinis ursprüngliches Projekt war ein grandioser Panislamismus, der Schiiten und Sunniten gleichermaßen in einem gemeinsamen Kampf gegen die beiden Feinde aller Muslime vereinen sollte. Aber als Saddam Hussein seinen Angriff auf Iran begann und das Überleben der Islamischen Republik bedrohte, wurde Khomeini in die Defensive gezwungen und mußte Kompromisse bei seiner Vision machen. Da er im eigenen Land belagert wurde, war die Einheit aller Gläubigen außer Reichweite. Was sich allerdings erreichen ließ, war Panschiismus. Das iranische Regime öffnete überall Kommunikationswege zu Schiiten und sandte ihnen Hilfe – einschließlich Waffen, Geld und Expertise –, ohne Bedingungen zu stellen. Wo immer es Schiiten jedweder Spielart gab – im Jemen, in Syrien, im Libanon, im Irak – flossen Beratung und Hilfeleistung in enormem Umfang. Nie zuvor hatte es unter einer schiitischen Dynastie ein solches Maß an Toleranz gegenüber allen Formen des Schiismus gegeben. In der Vergangenheit war immer Druck ausgeübt worden, sich zu bekehren: Man sollte Zwölfer-Schiit werden. Der Khomeinismus vermied das. Zaiditen, Alawiten, Drusen konnten bleiben, wer sie waren, ohne theologische Belehrung aus Iran. Alles, was nötig war, war schiitische Solidarität. Die Strategie war entwickelt worden, um regionale Unterstützung für die Iranische Revolution zu erwirken, die sich selbst – dies ist ein wiederkehrendes Thema in der modernen iranischen Geschichte, von der Verfassungsbewegung von 1908 bis 1911 bis zum Sturz Mossadeghs 1953 und darüber hinaus – als Ziel westlicher Aggression empfand. Die Erfolgsgeschichte dieser Politik war die Herausbildung der Hisbollah als mächtigste Kraft im Libanon nach 1982.

Das zweite umgestaltende Ereignis war die sowjetische Invasion in Afghanistan, ebenfalls 1979. Sie verlieh einem Panislamismus aus der anderen Richtung, einer sunnitischen Variante, den entscheidenden Schwung. Die erfolgreiche Vertreibung der Roten Armee aus Afghanistan hatte eine ideologische Wirkung, die dem Sturz des Schahs vergleichbar war. Die Iraner hatten gezeigt, daß sie den Westen besiegen konnten – und wir Sunniten haben jetzt den Osten besiegt: Der Islam kann über Kapitalismus und Kommunismus zugleich triumphieren. Aber so wie Khomeinis Panislamismus durch den Iran-Irak-Krieg gezwungen wurde, sich auf einen Panschiismus zurückzuziehen, so schrumpfte der sunnitische Panislamismus unter dem Druck desselben Krieges zu einem Pansunnismus zusammen. Saddam Hussein selbst, der als extrem säkularer Führer begonnen hatte, schaltete auf eine religiöse Rhetorik um, appellierte an sunnitische Unterstützung, als er den Krieg zu verlieren drohte, und pries sich selbst als Verfechter des Sunnismus, obwohl die Mehrheit seiner Armee schiitisch war. Dann kam die amerikanische Invasion in den Irak von 2003, welche die sunnitischen und die schiitischen Gemeinden im Land tiefer spaltete, als das je in der Vergangenheit der Fall gewesen war, und die Feindseligkeit zwischen dem Panschiismus und dem Pansunnismus im heutigen Nahen Osten zementierte.

In welchem Ausmaß leitet sich der heutige Pansunnismus von den Ideen von Qutb oder Maududi ab?

Die Ideen von Maududi und Qutb spielen eine gewisse Rolle. Die Ironie dabei ist, daß der Pansunnismus jetzt ein salafistischer Pansunnismus ist – in erster Linie die wahhabitische Variante, die von der saudischen Monarchie verkündet wird, die überall in der sunnitischen Welt Wurzeln geschlagen hat. Saudi-Arabien und, in geringerem Maße, Katar stehen als Verfechter des Pansunnismus gegen Iran, den Verfechter des Panschiismus, jeder mit seiner eigenen Paranoia. Kuwait und das östliche Saudi-Arabien haben beträchtliche schiitische Gemeinden. Bahrain hat eine schiitische Mehrheit. Es gibt viele Iraner in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Oman ist ibaditisch, ein früher Ableger des Protoschiismus, der sich von den Charidschiten herleitet, die Ali getötet haben. Im Jemen sind die Zaiditen stark. Also ist Saudi-Arabien ringsherum, vom südlichen Irak entlang des Golfs und um die Halbinsel bis zum unteren Ende des Roten Meers, von einem langen Gürtel von schiitischen Sekten umgeben. Die Alawiten haben immer noch in Syrien die Macht, und die Hisbollah dominiert einen großen Teil des Libanons. Südlich von Damaskus liegt nur Jordanien zwischen Saudi-Arabien und einem weiteren schiitischen Bogen im Norden. Fügt man dieser Angst noch die Aussicht auf iranische Atomwaffen hinzu, hat man alle Zutaten zu einer eskalierenden religiösen Konfrontation, da das iranische Regime auf dieselbe Weise denkt. Es fühlt sich von amerikanischem Druck umgeben, der darauf abzielt, es zur Unterwerfung unter den westlichen Willen zu zwingen. Das Ergebnis ist eine wechselseitige Paranoia, die sunnitisch-schiitische Gewalt in der ganzen Region schürt.

Die Dynamik, die Sie beschreiben, geht im wesentlichen auf die Zeit vor dem Arabischen Frühling zurück. Wie schätzen Sie seine Wirkung auf die bereits bestehenden Antagonismen ein?

Indem er die alte Ordnung aufgebrochen hat, ohne eine neue hervorzubringen, hat er schlicht ein offeneres Feld für sie geschaffen. Gegenwärtig verfügt kein arabisches Land über Stabilität in hinreichendem Maße. Ägypten hat sie nicht. Libyen hat sie nicht, Sudan hat sie nicht, Jordanien auch nicht. Der Libanon hat sie nicht. Tunesien hat sie nicht – zu schweigen von Syrien oder dem Irak. Auch Saudi-Arabien ist nicht stabil, nachdem es schiitische Demonstrationen für Grundrechte im Nordosten des Landes unterdrückt und Truppen nach Bahrain entsandt hat, als es dort zu demokratischen Bürgerprotesten kam. Der einzige Staat in der Region, der in der Lage gewesen wäre, in diesen Konflikten zu vermitteln, war die Türkei, aber Erdoğan hat seine Möglichkeiten nicht genutzt und macht jetzt mit seinen eigenen paranoiden Ausbrüchen eine lächerliche Figur, wenn er die Schuld an den Protesten der heimischen Opposition internationalen Verschwörungen anlastet.

(…)
 

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