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LI 126, Herbst 2019

Kathedrale Notre-Dame

Buch aus Stein, Labyrinth, untergegangene Sonne des gotischen Denkens

   (…)

STADT UND KATHEDRALE

Wer von Notre-Dame de Paris spricht, spricht von Victor Hugo. Sein Roman erschien 1831. Ein Verleger, der einen Roman nach Art Walter Scotts haben wollte, hatte ihn damit beauftragt. Walter Scott hatte ja gerade den historischen Roman geschaffen, und ganz Europa verlangte danach. Dies verstand man besser nach Lukács’ Buch Der historische Roman, das er 1937 (in Moskau) geschrieben hatte: Schluß mit den Helden und den großen Führern! Im Mittelpunkt des Flusses der Geschichte standen Personen, deren wiederbelebte Gedanken auf natürliche Weise in diesem Fluß dahinströmten. Ganz Europa wetteiferte also mit Walter Scott, und Tolstoi führte den historischen Roman zum Höhepunkt, indem er (für einige Zeit) die Vernichtung der großen Männer vollendete.
   Hugo führte diesen Auftrag, einen Roman nach Art Walter Scotts zu schreiben, glänzend aus: Seine Personen denken, leiden und leben wie im 15. Jahrhundert. Selbstverständlich einem 15. Jahrhundert, wie es sich Hugo vorstellt, wobei er von seiner eigenen Zeit, dem beginnenden 19. Jahrhundert, ausgeht. Er und sein Leser haben den Sturz des Ancien régime, den Glutofen der Revolution, die Errichtung eines Kaiserreichs, eine vorsichtige Restauration und einen neuen Ausbruch des revolutionären Feuers erlebt, das gerade erst im Jahre 1830 während der „Drei Glorreichen Tage“ erstickt wurde. Doch die Frage, die diesen Zeitpunkt in Unruhe versetzt, ist: Schwelt der Brand immer noch? Hugo fügt eine Hauptperson hinzu, wie dies auch Balzac, Dickens oder später Zola taten: eine kollektive, geheimnisvolle Person, die Stadt, genauer gesagt, die von Leben strotzende Stadt rund um die Kathedrale: Und im Roman wird man sehen, daß sie mit der Heerschar der Bettler die Kathedrale belagert. Bevor der finstere Ludwig XI., der sich in einem kleinen Raum der riesigen Bastille verbirgt, seinen treuen Büttel losschickt, um den Pöbel zu massakrieren. Die zentrale Figur, diese düstere Kathedrale, war schon so, eine halbe Ruine, wie sie Hugo für dieses Ende des Mittelalters schildert. Doch sie war eine stolze Ruine, die vor dem Volk wie ein riesiges Buch emporragte, das man nicht mehr entziffern konnte. Was sagte dieses Buch?
   Was konnte man an jenem Abend des Jahres 1482 dort lesen, an dem, wie sich Hugo vorstellt, der taube und grauenhafte Bucklige Quasimodo im Wald des Kirchenschiffs ein gewaltiges Feuer entzündet und Blei auf die hinabfließen läßt, die gegen die Kathedrale losstürmen?
   Was konnte man 600 Jahre später, an diesem Abend des Jahres 2019, dort lesen, als eine ungeheure und bestürzte Menge, die das weltweite Fernsehen zusammengerufen hatte, zusah, wie Kirchenschiff und Spitzturm in Brand gerieten? Dieser Turm, der noch mehr als das Herz von Paris das von ganz Frankreich kennzeichnet oder vielmehr kennzeichnete, ist die Achse des Königreichs seit der entsprechenden Entscheidung des fränkischen Königs Chlodwig im Jahre 508. Eine Entscheidung, die von allen späteren Regimen unermüdlich bestätigt wurde ...

   (…)

   EINE BASILIKA

Der Dichter Ossip Mandelstam kam 1911 nach Paris. Sehr oft betrachtete er gewiß die großartige Steinstruktur der Apsis von Notre-Dame. Sein Gedicht Notre Dame deutet den Platz der Pariser Kathedrale in der Geschichte und der Einheit der Welt. „Oh, warum bin ich nicht aus Stein wie du!“, seufzt der abscheuliche Quasimodo und umarmt einen der scheußlichsten Wasserspeier, nachdem Esmeralda verschwunden ist. Auch Mandelstams Gedicht scheint zu seufzen: „Oh, warum bin ich nicht aus Stein!“ Seine erste Gedichtsammlung heißt Der Stein, und das Gedicht Notre Dame, dessen Titel französisch ist, findet sich dort an seinem richtigen Platz nach der Hagia Sophia, der Kathedrale von Byzanz, „das wissend-weise sphärische Gebäude“, das Völker und Jahrhunderte überleben werde. Diesen Gruß richtet Mandelstam an die Kathedrale:

Der Richter Roms im fremden Volk, er hielt Gericht,
Wo sie nun steht: Basilika – ganz Ursprung, Freude,
Wie Adam einst, die Nervenfaser dehnend, weitend,
Spielt jetzt des Kreuzgewölbes leichte Muskelschicht.

Am überraschendsten wirkt in diesem Gedicht der erste Vers, das heißt die behauptete Verbindung zwischen dem Römischen Reich und der karolingischen Kathedrale – eine ganz und gar reale Verbindung, denn unter Notre-Dame hat man den Abteipalast wiederentdeckt, und der Abteipalast befindet sich an der Stelle, wo sich der Kommandant des römischen Militärlagers von Lutetia eingerichtet hatte.

Elementarisch, Labyrinth und unfaßbarer Wald,
Die reiche Gotikseele, ihr Verstandesabgrund,
Die Macht Ägyptens und die christlich-scheue Achtung,
Und Schilfrohr, Eiche – hier: das Lot hat Zargewalt.

Mandelstam bewundert, wie man sieht, die gebändigte Gewalt, die gewaltigen Spitzbogen und ihre Strebepfeiler, die Lichtzelte und die Schattenwinkel. Als er diese gebändigte Gewalt betrachtet, sagt er sich: „Aus schlechter Schwere werde auch ich eines Tages Schönheit schaffen!“ Kurz, Notre-Dame ist eine Poetiklektion für Kunst, Leben und die menschliche Geschichte. Als er den Turm der Admiralität in Sankt Petersburg betrachtet, entziffert er die gleiche Lehre: „Schönheit ist keine Laune eines Halbgottes. Sondern das räuberische Augenmaß eines schlichten Zimmermanns.“ Rußland hat uns damit eine der schönsten Hymnen auf Notre-Dame geschenkt.

   (…)

 

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