LI 74, Herbst 2006
Im Reich der Baumwolle
Das weiße Herz Brasiliens - Experimente für eine grenzenlose ZukunftElementardaten
Genre: Literarische Reportage / New Journalism
Übersetzung: Aus dem Französischen von Uta Goridis
Textauszug
Rohstoffe sind Geschenke, die wir der Erde verdanken. Vergrabene  Geschenke oder offen zutage liegende Geschenke. Fossile Geschenke,  Bodenschätze, die eines Tages zu Ende gehen werden. Oder botanische  Geschenke, die uns die Sonne und menschliche Arbeit jedes Jahr aufs neue  machen.
Rohstoffe sind Geschenke, die sprechen. Man braucht nur  zuzuhören. Sie flüstern uns alle möglichen Geschichten ins Ohr: Es war  einmal ..., sagt das Erdöl; es war einmal ..., sagt das Korn.
Jeder  Rohstoff ist ein Kosmos mit seiner Mythologie, seiner Sprache, seinen  Kriegen, seinen Städten, seinen Bewohnern: den Guten und den Bösen und  den bunten Vögeln. Und jeder Rohstoff, der seine Geschichte erzählt,  erzählt auf seine Weise auch die Geschichte des Planeten.
Diese  Geschichte beginnt in grauer Vorzeit.
Ein Mensch bemerkt im  Vorbeigehen einen Strauch, an dessen Zweigen weiße Flocken hängen. Es  ist anzunehmen, daß er die Hand danach ausstreckt. Und so hat die  Menschheit die wundervolle Weichheit der Baumwolle entdeckt.
Als  die Soldaten Alexanders des Großen 326 v. Chr. den Indus überqueren,  begegnen ihnen Menschen, deren Kleidung viel feiner und leichter ist als  alles, was sie bislang gesehen haben. Die Soldaten staunen, fragen  nach, sammeln die Samenkörner. Wieder in Griechenland, stecken sie sie  in die Erde. Das Ergebnis muß eher enttäuschend gewesen sein. Man gibt  alle weiteren Versuche auf. Europa vergißt den „wolletragenden Baum".
Die  Araber, für die Indien nicht so fern ist, importieren seine Stoffe.  Später fangen sie selbst an, in Ägypten, Algerien und selbst im Süden  Spaniens, Baumwolle anzupflanzen: Granada, Sevilla ... Sie spinnen, sie  weben. Den weißen Flocken haben sie längst einen Namen gegeben: al-kutun.
Jahrhunderte  hindurch leben zwei einander fremde Kulturen Seite an Seite. Im Norden  die Wolle oder Leinen tragenden Christen. Im Süden und nach Osten die in  Baumwolle gehüllten Muselmanen. Abgesehen von dem Gemetzel ermöglichen  die Kreuzzüge auch einen Austausch von Waren. Venedig entwickelt seinen  Handel. Und langsam setzt sich in Europa die Baumwolle durch.
Gleichzeitig  kultiviert auf der anderen Seite des Ozeans Amerika seine  Baumwollsträucher. In Peru hat man Stücke von Baumwollgewebe gefunden,  das noch vor dem 1. Jahrtausend v. Chr. hergestellt worden sein muß. Und  als die Spanier unter Cortés in Mexiko landen, staunen sie ähnlich wie  damals die Griechen unter Alexander: Die Kleidung der Einheimischen ist  unvergleichlich weicher und flauschiger.
Europa entdeckt seine  Leidenschaft für Baumwollstoffe. Die Einfuhren aus Indien decken nicht  mehr den Bedarf. Die Engländer, denen es gelungen ist, Maschinen zum  Spinnen und Weben zu konstruieren, beschließen, Indiens Nachfolge  anzutreten. Rohstoff wird benötigt. Die amerikanische Kolonie wird ihn  liefern. Angebaut wird in den Gebieten südlich des 37. Breitengrads  (Carolina, Georgia, Florida, Alabama, Mississipi, Louisiana - von  Frankreich verkauft -, Texas - von Mexiko erbeutet -, Oklahoma,  Arkansas, Kalifornien).
Für die Ernte braucht man Arbeitskräfte.  Eine erste Globalisierung findet statt. Afrika hat das Pech, mit in das  Spiel einbezogen zu werden. Die Industrialisierung und die Sklaverei  entwickeln sich Hand in Hand. Während in Manchester und Umgebung die  Fabriken aus dem Boden schießen, wird Liverpool für einen bestimmten  Zeitraum zum Umschlagplatz des Sklavenhandels.
Hundert Jahre  vergehen. Die Vereinigten Staaten haben ihre Unabhängigkeit errungen,  ohne deshalb den Bauwollhandel mit dem früheren Mutterland einzustellen.  Doch die Nordstaaten plagen Gewissensbisse - Gewissensbisse, die sie  ehren. Sie wollen die Sklaverei in den Südstaaten abschaffen. Diese  weigern sich jedoch und beschließen, aus der Föderation auszutreten.  Bekanntlich hat das einen Krieg zur Folge. Wer soll die Spinnereien  Groß-britanniens beliefern? London nimmt zwei seiner Kolonien, Ägypten  und Indien, in die Pflicht. Letztere wird bald auch Japan versorgen,  dessen Weber aus ihrem Schlaf aufgewacht sind.
Zur selben Zeit  beginnt die französische Textilbranche, die schließlich auch den  Anschluß geschafft hat, in ihrem afrikanischen Imperium die Produktion  anzukurbeln.
Brasilien will nicht ins Hintertreffen geraten. Es  pflanzt also auch. In der Region von São Paulo, wo die Bodenbedingungen  keineswegs ideal sind, wo sich aber die durch den Kaffee aufgeputschte  Wirtschaft rasant entwickelt.
Kurz, gegen Ende des 19.  Jahrhunderts ist der Planet mit Baumwollplantagen und Fabrikanlagen  überzogen, wobei die einen die anderen am Leben halten.
Baumwolle  benötigt wenig Wasser (75 Kubikzentimeter Regenwasser oder Wasser aus  dem Tank). Aber um zu blühen, braucht sie viel Wärme und vor allem  Licht. Heutzutage wird sie zwischen dem 37. nördlichen und dem 32.  südlichen Breitengrad auf 35 Millionen Hektar in mehr als neunzig  Ländern angebaut. Doch vier dieser Länder (China, USA, Indien und  Pakistan) produzieren siebzig Prozent der gesamten Baumwollernte. Es  folgen (das kräftig nachlegende) Brasilien, Westafrika, Usbekistan und  die Türkei.
Überall auf unserm Globus spricht man von Baumwolle.  Aber ist damit auch immer dieselbe Pflanze gemeint?
Die  Baumwollpflanze gehört zu den Malvales, zu der Familie der  Malvengewächse, der Unterfamilie der Hibiskusgewächse, der Gattung der Gossypium.  Gezüchtet werden 15 verschiedene Arten.
Gossypium herbaceum und  arboreum, auch indische Baumwolle genannt, zeichnet sich durch  dichte, kurze Samenhaare aus.
Gossypium barbadense besitzt  die langen, feinen Samenhaare der ägyptischen Baumwolle.
Gossypium  hirsutum weist Samenhaare von mittlerer Länge auf, der Anteil  beträgt 95 Prozent der Weltproduktion.
Aber nicht nur die  Menschen interessieren sich für Baumwolle. Auch Insekten stürzen sich  darauf. Um die gefräßigen Räuber loszuwerden, die ganze Ernten  vernichten können, haben die Konzerne die Wissenschaft mobilisiert.  Heute sind mehr als ein Drittel der Baumwollstauden, die auf unserem  Planeten gepflanzt werden, genetisch verändert. Und trotz der Proteste  der Umweltschützer steigt dieser Prozentsatz von Jahr zu Jahr.
Baumwolle  ist das Hausschwein der Botanik: Rein alles läßt sich verwerten. Und  folglich wird auch alles verwertet.
Zuerst kommt das Wertvollste:  die Samenhaare. Das sind die langen weißen Fäden, die die Samenkörner  umhüllen. Mit Hilfe von Maschinen werden sie entkernt. Die  Baumwollfasern sind weich, geschmeidig und trotzdem fest. Wasser und  Feuchtigkeit können ihnen nichts anhaben. Unser Schweiß stört sie nicht.  Sie lassen sich widerspruchslos tausendmal waschen und genausooft  bügeln. Sie nehmen mir nichts, dir nichts jede Farbe an und behalten sie  ... All diese Eigenschaften haben ihre natürlichen Konkurrenten  tierischen oder pflanzlichen Ursprungs aus dem Feld geschlagen. Wolle  und Leinen sind bedeutungslos geworden. Auch wenn die synthetischen  Fasern (sechzig Prozent) den Markt beherrschen, kann die Baumwolle sich  sehr gut behaupten (vierzig Prozent).
Die Baumwolle bekleidet  also die menschliche Spezies.
Aber das ist nicht alles. Wie man  weiß, verdanken wir ihr nicht nur Mullkompressen, sondern auch  Spezialpapiere (zum Beispiel für Banknoten), Filmmaterial, Kerzendochte.  Immer zu unsern Diensten, sind Baumwollfasern auch ein wichtiger  Bestandteil kosmetischer Produkte (Lacke, Haarpflegemittel ...),  außerdem von Zahncremes, Eiscremes ... Und selbst wenn uns italienische  Hackfleischsoßen und deutsche Würste komisch vorkommen, wer würde schon  auf die Idee kommen, daß sie Baumwolle enthalten?
Die Samen sind  nicht weniger ergiebig. Mit ihrem hohen Eiweißgehalt sind sie, auch wenn  wir uns dessen nicht bewußt sind, ein fester Bestandteil vieler  Tafelöle. Da die Marketing-Experten anscheinend befürchten, die  Bezeichnung „Baumwollöl" könne die Käufer vor den Kopf stoßen, haben sie  ihm einen etwas unspezifischeren, allgemeineren Namen gegeben:  „Pflanzenöl".
Auch die Tiere werden mit Baumwollprodukten  ernährt: Sie fressen die Preßrückstände der Samen und Samenkapseln.
Diese  Reste dienen auch der Herstellung von Seife, Dünger, Sprengstoff  (Glyzerin), Pilz- und Insektenvernichtungsmittel ... und synthetischem  Gummi. Und man sollte nicht vergessen, daß die Petrochemie ebenfalls  scharf auf den pflanzlichen Abfall ist: Sie wirft ihn in diesen  mysteriösen Hexenkessel, der sich „Aufbereitung" nennt und die  unwahrscheinlichsten Materialien hervorbringt, unter anderem auch die  Plastikstoffe.
Aber wir wollen mit diesen Manipulationen  niemanden verstören und kehren deshalb zu Mutter Natur zurück, zu dem  Frieden, den uns die einfachen Dinge bescheren. Nach der Ernte werden  Stiele und Zweige der Baumwollstauden als Tierstreu verwendet. Oder aber  die Bauern verbrennen sie, wenn sie kein anderes Brennmaterial zur Hand  haben.
Das erklärt, warum sich so viele Menschen mit Baumwolle  beschäftigen: mehrere hundert Millionen Männer und Frauen aller  Kontinente.
Und auch, warum ich schon seit Jahren diese große  Reise unternehmen wollte. Ich ahnte, daß ich, wenn ich meinen Planeten  besser verstehen wollte, die Wege der Baumwolle verfolgen mußte: von der  Landwirtschaft über die Biochemie zur Textilindustrie, von Koutiala  (Mali) bis Datang (China) über Lubbock (Texas), Cuiabá (Mato Grosso),  Alexandria, Taschkent und das Tal der Vologne (Frankreich, Departement  Vogesen).
Die Ergebnisse dieser langen Untersuchung haben meine  kühnsten Erwartungen übertroffen.
Um die Globalisierungen zu  verstehen, die von gestern und die von heute, braucht man nur ein  Stückchen Stoff einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen.  Wahrscheinlich weil es nur aus Kette und Schuß und dem Hin und Her des  Weberschiffchens besteht.
Wußten Sie, daß um 1620 in Mexiko, der  Hauptstadt Neuspaniens, die Wut der Schneider kaum noch zu  beschwichtigen war? Eine größere chinesische Gemeinde hatte sich in der  Stadt niedergelassen und verkaufte schon damals Textilien zu einem  Preis, der jede Konkurrenz ruinierte.
Wenn Sie mehr über die  Weichheit oder besser über die rauhen Kulissen dieser Weichheit wissen  wollen, sollten Sie sich auf den Weg machen, dicht an den  „wolletragenden Baum" herantreten und die Ohren spitzen.
(...)
 
   
   
   
  