LI 81, Sommer 2008
Prothesenkinder
Schutz von dilettantischen Helfern ist ein Menschenrecht der ArmenElementardaten
Genre: Essay, Recherche, Reportage
Übersetzung: Aus dem Nierderländischen von Anne Middelhoek
Textauszug
Angefangen bei lokalen Suppenküchen bis hin zu internationalen  Kinderschutzorganisationen: Bildeten alle Hilfsorganisationen zusammen  einen Staat, wären sie die fünftgrößte Wirtschaft der Welt. Insgesamt 90  Milliarden Dollar bringen die Geberländer jedes Jahr für  Entwicklungshilfe auf. Etwa 9 Milliarden entfallen allein auf die  humanitäre Soforthilfe – sozusagen die Erste Hilfe in Kriegs- und  Krisenregionen. Eine regelrechte Hilfsindustrie ist entstanden, in der  Hunderte internationale Hilfsorganisationen den Geldströmen  hinterherreisen und in den Katastrophengebieten miteinander um ein  möglichst großes Stück vom Milliardenkuchen konkurrieren. Im Schnitt  fließen sechzig Prozent der Gelder in Gehälter, Büros und Tagegelder für  eigene Mitarbeiter. Aus diesem Grund und angesichts der mangelnden  Erfolge der Entwicklungshilfe entschließen sich immer mehr engagierte  Bürger im Westen dazu, eine eigene Hilfsorganisation, eine sogenannte  MONGO (My Own NGO), zu gründen. Bill Clinton schreibt in Giving.  How Each of Us Can Change the World von einer „explosionsartigen“  Verbreitung solcher privater Initiativen. Er interpretiert diese  Tendenz als „beispiellose Demokratisierung der Wohltätigkeit“,  als Folge der Tatsache, daß wir dank Internet immer besser wissen, wie  es den Menschen ergeht, die unter Kriegen oder Naturkatastrophen leiden.  In den Niederlanden sind gut 16.000 Wohltätigkeitsorganisationen  registriert. In Großbritannien, den skandinavischen Ländern und  Australien sind individuelle karitative Aktionen bereits genauso  populär, während die US-amerikanische Bundessteuerbehörde Internal  Revenue Service jeden Tag durchschnittlich 83  Freistellungsbescheide für neue Wohltätigkeitsorganisationen ausstellt.
Die  Befürworter der mittlerweile riesigen MONGO-Bewegung sind davon  überzeugt, daß sie die Krisengebiete besser, schneller und billiger  versorgen können als die „richtigen“ Hilfsorganisationen mit ihrer  trägen Bürokratie und ihren Unternehmensinteressen. Jeder weiße Land  Cruiser der „Richtigen“ kostet in etwa gleich viel wie der Bau eines  kleinen Waisenhauses, so rechnen die MONGOs vor, und für den Gegenwert  eines vollen Benzintanks ließe sich der Betrieb des Waisenhauses ein  Jahr lang finanzieren. Vor den Supermärkten werden Hausfrauen dazu  ermuntert, ihre leeren Pfandflaschen zu spenden, Skatclubs und  Chorvereine organisieren Wohltätigkeitsveranstaltungen und Basare. In  vielen Betrieben spenden die Mitarbeiter einige Prozent ihres  Monatsgehaltes für einen guten Zweck, und manche Kommunen „adoptieren“  ein Dorf in einem Katastrophengebiet.
Ein Touristenvisum ist oft  das einzige Dokument, das die MONGOs brauchen, um zum Schauplatz der  Katastrophe oder zum Krisenherd fliegen zu können. Vor Ort mieten sie  ein Auto, bekleben es mit dem Logo ihres Vereins, und schon sind sie „im  Geschäft“.
„Ein Menschenrecht, auf das die Armen und  Schwachen unbedingt einen Anspruch haben sollten, ist der Schutz vor  dilettantischen Helfern“, hat Jan Egeland, bis 2007  UN-Nothilfe-Koordinator, einmal gesagt. Statt dessen wird die  MONGO-Bewegung von den Regierungen der Geberländer gefördert. Die  „selbstgemachten“ Initiativen kommen der Unterstützung der  Entwicklungshilfe durch die Öffentlichkeit zugute, und davon profitiert  wiederum die Hilfsindustrie insgesamt. Gescheiterte MONGO-Projekte  werden nicht an die große Glocke gehängt, denn Kritik an den  selbsternannten Helfern färbt auch auf die Hilfsindustrie als ganze ab,  die ohnehin häufig genug unter Beschuß gerät.
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