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Cover Lettre International 101, Jürgen Klauke
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Inhaltsverzeichnis

LI 101, Sommer 2013

Volksheim Schweden

Vom Modellstaat des Fortschritts zur verunsicherten Nation
Aufgewachsen bin ich in einer kleinen Industriestadt südlich von Stockholm. Mein Vater war ein polnischer Jude und Auschwitz-Überlebender, den das Rote Kreuz im Sommer 1945 nach Schweden gebracht hatte. Auch meine Mutter hatte Auschwitz überstanden und war meinem Vater 1946 gefolgt. Schweden hatte sich verpflichtet, eine begrenzte Anzahl von Menschen aus „den Lagern“ so lange aufzunehmen, bis sie sich von ihren Leiden erholt hatten und kräftig genug waren, sich anderswo niederzulassen. 

Das gewonnene Paradies

Der damalige schwedische Sozialminister Gustav Möller erklärte vor einem widerstrebenden Riksdag (Parlament), Schwedens Regierung habe „Anfragen dieser Art“ nur schwer ablehnen können. Schließlich wurden 30 000 Überlebende, unter ihnen zehntausend Juden, in schweden aufgenommen. Die meisten blieben länger als ein paar Monate; einige Tausend, darunter meine Eltern, blieben für immer. Schweden war zu dieser Zeit ein Land mit nur wenigen Ausländern und geringer Bereitschaft, weitere aufzunehmen. Die wichtigste landesweite Tageszeitung, Dagens Nyheter, warnte im September 1945 vor den möglicherweise üblen Folgen der Entscheidung, Holocaust-Überlebenden dauerhaften Aufenthalt im Land zu gewähren. „Wir haben keine Übung im Umgang mit Menschen, denen schwedische Sitten und Standards so fremd sind.“ Expressen, eine andere Tageszeitung, schrieb: „Es wird für sie [die Überlebenden] nicht einfach sein, sich anzupassen, und es wird für niemanden einfach sein, ihnen Arbeit zu geben. Letzteres erfordert weitaus mehr unbeirrbares Verständnis und hochherzige Menschlichkeit, als man vom Durchschnitt erwarten kann.“ 

Daß Schweden nur wenige Jahre später (1948) mehr als hunderttausend im Land lebende Ausländer oder eigentlich ausländische Arbeitskräfte verzeichnete, hieß nicht zwingend, daß es von der Ablehnung zu einer Offenheit gegenüber Fremden übergegangen war, sondern nur, daß sein Bedarf an ausländischen Arbeitskräften größer war als seine Abneigung gegen diese.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war Schweden eine Nation mit ebenso rätselhaften wie anspruchsvollen Kriterien für die Zugehörigkeit zu ihr und die Aufnahme in sie. Es gab eine Menge ungeschriebener Regeln und Gebräuche, deren vollständige Entschlüsselung und Aneignung eine oder zwei Generationen in Anspruch nehmen würde. Schweden waren die Verheerungen der europäischen Kriege und damit auch all das, was die meisten Ausländer in diesen Kriegen erlebt hatten, erspart geblieben. Das gesellschaftliche Gefüge war weitgehend intakt. Keine Generation war auf den Schlachtfeldern umgekommen, kein Nationalstolz verletzt, keine politische Vision zertrümmert. Das ursprünglich in den dreißiger Jahren auf den Weg gebrachte Wohlfahrtsprojekt konnte nach dem Krieg dort anknüpfen, wo es mit Kriegsbeginn vorübergehend eingestellt worden war, so als hätte nie ein Krieg stattgefunden. Während das übrige Europa seine ruinierten nationalen Mythen und Erzählungen kritisch betrachten und hinterfragen mußte, war in Schweden nichts dergleichen vonnöten. Das fehlende Kriegserlebnis hatte im Gegenteil Schwedens Selbstbild einer friedlicheren, vernünftigeren, fortgeschritteneren und menschenfreundlicheren Gesellschaft im Vergleich zu den konfliktbeladenen Nationen auf dem Kontinent noch bestärkt. Dabei war dieses Selbstbild einigermaßen widersprüchlich. Schließlich gab es Zeiten, da Mütter auf „dem Kontinent“ ihren ungehorsamen Kindern mit den Schweden drohten – worin die kollektive Erinnerung an das 17. Jahrhundert fortlebte, als bestialische schwedische Heerscharen durch ihre Lande zogen.

In der Kleinstadt meiner Kindheit gab es in den frühen fünfziger Jahren nur wenige Ausländer und noch weniger Juden. Ich war das einzige dunkelhaarige Kind weit und breit. Doch die Vorteile des neuen Paradieses – Arbeit, Sicherheit, gesellschaftlicher Aufstieg und wirtschaftliches Wohlergehen – schienen auch für Neuankömmlinge zum Greifen nahe. Noch erschütterte nichts den Glauben, Schweden sei eine Gesellschaft, die sich rasch in Richtung der sozialen Glückseligkeit für alle bewegte. Aus der Lokalzeitung erfuhr man von Reformen, angesichts derer sich die Menschen älterer Generationen ungläubig die Augen rieben:

„Im ersten Schritt werden wir für jede Mutter kostenlose geburtsmedizinische Versorgung und Bargeldleistungen gewährleisten. Vom Tag der Geburt bis zum 16. Lebensjahr eines Kindes werden wir Familien mit Kindern durch jährliche Geldzulagen wirtschaftlich entlasten. Zusätzlich werden wir die Kosten ihrer Kinderbetreuung übernehmen. Wir werden großen Teilen der Bevölkerung Zuschüsse zu den Wohnkosten bezahlen. In unseren Schulen werden die Kinder kostenloses Mittagessen, zahnärztliche Betreuung und kostenlose Auslandsreisen in den Sommerferien erhalten.

Wenn neue Generationen auf den Arbeitsmarkt kommen, werden sie finanziell gegen Beschäftigungslosigkeit, Krankheit und Unfälle abgesichert sein. Wo erforderlich, wird es [staatliche] Sozialhilfe, social-hjälp, als Ersatz für das [örtliche] Armenhaus, fattigvård, geben.

Es gab auch schon einen Namen für diese Gesellschaft: folkhemmet oder „das Volksheim“, mit offensichtlichem Anklang an die finster klingende deutsche „Volksgemeinschaft“. Der Begriff stammte von Rudolf Kjellén, einem nationalistischen und konservativen Politiker des frühen 20. Jahrhunderts, der auch den noch viel finstereren Begriff „Nationalsozialismus“ (lange vor dessen Aneignung durch eine gewisse deutsche Partei) prägte. Unter einem „Volksheim“ verstand Kjellén eine Gemeinschaft mit starkem Zusammenhalt auf der Grundlage gemeinsamer nationaler und ethnischer Wurzeln. Er sah die Gesellschaft als einen Organismus, in dem das Volk ein unteilbares Ganzes bildet und Unterschiede der Klasse, des Standes, der Ahnenschaft von gemeinsamen Banden der Nation und der Heimat überwunden werden. Kjellén war bestimmt kein Demokrat. Das folkhem, das ihm vorschwebte, war eine hierarchische und ständische Konstruktion, bevölkert von Menschen mit eindeutigen und festgelegten Funktionen, Berufen und Positionen und gelenkt von einem wohlmeinenden Landesvater. Kjellén dachte dabei an einen konstitutionellen Monarchen.

Dennoch eigneten sich die schwedischen Sozialdemokraten den Begriff folkhemmet im Jahr 1928 an. Er bezeichnete von da an eine engverbundene nationale Gemeinschaft mit dem Ziel einer gesellschaftlichen Ordnung, die auf Frieden, Gerechtigkeit, Fortschritt und Demokratie gründen und Klassenspaltungen überwinden sollte.

Die Sozialdemokraten wurden Nationalisten, und die Nation wurde sozialdemokratisch.

Nationalromantik und Schwedentum

Das Ideal des folkhem warf unweigerlich die Frage auf, wer nun auf Treu und Glauben als Angehöriger der nationalen Gemeinschaft zu betrachten sei und wer nicht. Eine bestimmte Vorstellung des Schwedentums, svenskhet, begann dadurch eine wichtige Rolle in der aufkommenden Erzählung vom folkhem zu spielen. Anfangs Bestandteil eines nationalromantischen Mythos über Ursprung und Wesen der schwedischen Nation, fand die svenskhet nun auch Eingang in die Rhetorik führender Sozialdemokraten. Immer wieder wurde darin auf Vorstellungen der Rasse, der Wurzeln und der gesellschaftlichen Lebenstauglichkeit Bezug genommen. Psychisch Kranke und andere „Außenseiter der Gesellschaft“ wurden Opfer von Zwangssterilisierungen. Juden, Roma („Zigeuner“) und Fahrende (tattare) waren Vorurteilen und Verachtung ausgesetzt. Antisemitische Witze und Karikaturen waren im Diskurs der Nation tief verwurzelt. Schweden beheimatete (ab 1922) das erste Staatliche Institut für Rassenbiologie, in dem das Schwedentum (und Nichtschwedentum) zu einer Frage der Schädelformen und Gesichtsprofile erklärt wurde. Der radikale, gleichmacherische Ehrgeiz der Architekten des folkhem bedingte, daß sich der Staat in die meisten privaten Lebensbereiche, darunter Reproduktion, Kindererziehung, persönliche Hygiene- und Eßgewohnheiten, einmischte. Er erforderte ein hohes Maß an öffentlichem Vertrauen und das vorherrschende Gefühl kultureller Nähe zueinander.

Die schwedischen Sozialdemokraten der Zwischenkriegszeit befaßten sich intensiv mit der Frage, wie die besonderen Merkmale des schwedischen Nationalcharakters zu bestimmen seien. Schweden seien „im Herzen Demokraten“, erklärte der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und Ministerpräsident Per Albin Hansson 1933 in einer Rede. „Sie lieben die Freiheit und hassen Unterdrückung, … aber sie wollen auch, daß der Staat für Recht und Ordnung sorgt, daß er Habsucht und Ausschweifung in die Schranken weist, daß er allen Arbeit und eine Lebensgrundlage gibt, daß er das Schuften und Leben im alten Schweden sicher und gut macht.“ Theoretisch sollte das folkhem offen für alle Schweden sein, doch in der Praxis gab es eine Zugangsvoraussetzung: die Pflege einer bestimmten „schwedischen Lebensart“.

Letztere war auch Titel einer während des Krieges (1942) in großer Zahl verbreiteten Bildungsbroschüre. Die schwedische Lebensart, hieß es darin, habe sich über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende ausgeformt und ein homogenes Volk mit gemeinsamer Geschichte, gemeinsamer Religion und einem gemeinsamen Nationalcharakter hervorgebracht. Schweden seien aufmüpfig, kooperativ, unabhängig, willensstark. Sie suchten den Konsens, hätten ein angeborenes Gerechtigkeitsempfinden und verfügten über die „Instinkte“ eines uralten Volkes. Das Schwedentum sei auf heimatlichem Boden gewachsen. Ausländischen Einflüssen oder „Importen“ verdanke es so gut wie nichts.

Die Stärke dieser ebenso nationalistischen wie sozialistischen Erzählung war zunächst und vor allem ihr erstaunlicher Erfolg. Anders als in Deutschland, wo ähnliche Vorstellungen Extremismus, Polarisierung und gesellschaftlichen Aufruhr genährt hatten, war sie ein demokratisierendes und die Gesellschaft befriedendes Unternehmen. Ihre Wurzeln reichten zurück bis zur Einführung der mächtigen schwedischen Zentralämter, ämbetsverk, um die Mitte des 17. Jahrhunderts, deren Zweck die Durchsetzung staatlicher Herrschaft über eine noch weit verstreute und zersplitterte Nation war. Eine Besonderheit dieser damals neugeschaffenen Verwaltungseinheiten war ihre kollegiale Führung. Entscheidungen wurden nicht von Einzelpersonen, sondern in einem kollegium von Männern getroffen. Daraus entstand mit der Zeit eine besondere Kultur bürokratischer Unabhängigkeit und Selbstgewißheit. Diese Kollegien entwickelten sich zu wirksamen Instrumenten bei der Schaffung eines zentralisierten schwedischen Staates und stärkten die Herrschaft des Königs über sein Land, beschränkten andererseits aber auch seine Verfügungsgewalt. Die meisten königlichen Willensakte mußten sich von da an in einer Prüfung durch das kalte Prisma einer unabhängigen staatlichen Bürokratie bewähren und höheren Standards der Vernunft und Rationalität genügen. Eine Sprache der Sachlichkeit begann mögliche Konflikte zwischen dem König und seiner Verwaltung einzuhüllen und zu entschärfen. Diese besondere Kultur einer eigensinnigen und unparteiischen Verwaltung, die ämbetsmannakultur, wurde auch durch den Eintritt junger, gebildeter, in den Adelsstand erhobener Bürgerlicher in den Dienst eines rasch expandierenden und ständig Krieg führenden schwedischen Staates bestärkt. Auf diese Weise entstand eine zahlenmäßig große Klasse „niedriger“ Adeliger, die wegen ihrer Bildung und administrativen Kenntnisse, nicht so sehr aufgrund traditioneller Adelstugenden und -vorrechte, aufstiegen. Das trug zu einer für die damalige Zeit außergewöhnlichen sozialen Mobilität in Schweden bei. Der Aufstieg vom Freibauern zum Freiherren war nicht nur möglich, sondern konnte manchmal auch schnell stattfinden. Gegen Ende des Jahrhunderts gab es in Schweden fünfmal so viele Adelige wie zu irgendeinem Zeitpunkt des vorangegangenen Jahrhunderts. Diese potentielle und tatsächliche soziale Mobilität schuf Verbindungen zwischen bislang getrennten Schichten der schwedischen Bevölkerung.

Das mentale Universum eines schwedischen Freibauern wurde so in einer besonderen Sphäre von „Tatsachen und Vorstellungen“ geformt, welches neben anderen Elementen eine Vorliebe für gemeinsame Lösungen in einem „Geist des Konsenses“ hervorbrachte.

Im Schweden der dreißiger Jahre trug dieser Geist sehr wahrscheinlich zum historischen Kompromiß zwischen dem zentralen Schwedischen Arbeitgeberverband (SAF) und der gewerkschaftlichen Dachorganisation Landsorganisation (LO) bei, der sich 1938 in der institutionellen Verankerung des sogenannten „Geistes von Saltsjöbaden“ äußerte. Diese im wesentlichen korporatistische (staatliche Macht an nichtstaatliche Bürgervereinigungen delegierende) Einigung bildete von da an die emblematische Grundlage des „schwedischen Modells“. Einiges spricht dafür, daß sie die Voraussetzung für sozialen Frieden, wirtschaftliches Wachstum und wohlfahrtsstaatliche Reformen schuf. 

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024