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Lettre 142 / Kunst Erich Fischl
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LI 142, Herbst 2023

Von Kundera bis Kiew

Der entführte Westen erweitert sich in Richtung Osten

Mitteleuropa befindet sich „geographisch in der Mitte, kulturell im Westen und politisch im Osten“ Europas. So definierte Milan Kundera vor vierzig Jahren die Situation Mitteleuropas, das in gewisser Weise gespalten war zwischen seiner kulturellen Identität und seiner politischen Tendenz. Nach 1989 begann eine neue Ära, in der sich die Möglichkeit bot, Politik, Kultur und Geographie endlich miteinander zu versöhnen. Ist es sinnvoll, noch einmal auf die Debatte der 1980er Jahre zurückzukommen, nachdem Mitteleuropa der „Tragödie“ entronnen ist und sich der großen Transformation zugewandt hat? Zwei Gründe gibt es, warum Kunderas Text heute auf neues Interesse stößt und in einem Dutzend Sprachen wiederaufgelegt wird. Der Krieg in der Ukraine wird von ihren unmittelbaren Nachbarn als „Zivilisationsbruch“ interpretiert und konfrontiert ganz Europa mit der Frage nach seinem Verhältnis zu Rußland. Gleichzeitig konfrontiert er Europa aber auch mit der Sackgasse einer auf Ökonomie und Recht gründenden europäischen Integration, die seine Werte und deren Verankerung in der europäischen Geschichte und Kultur aber vergessen würde. All dies sind Fragen, die im Zentrum von Kunderas Mitteleuropa-Essay stehen, weshalb seine Lektüre erneut von Interesse ist.

(…)

Die Mitteleuropa-Debatte der 1980er Jahre hatte in Österreich7 und Deutschland8 interessante Ableger. Österreich versuchte nach 1989, in diesem Raum erneut in eine Rolle hineinzufinden, was jedoch auf wenig Resonanz stieß, da die Nachbarn und ehemaligen Dependancen Österreich-Ungarns damals entschlossen gen Westen blickten. Was Deutschland betrifft, so war es zunächst mit seiner Wiedervereinigung und später dann mit seiner eher ökonomischen als kulturellen Expansion gen Osten beschäftigt. Der englische Historiker A. J. P. Taylor hat die deutsche Einigung im Jahre 1870 als „Eroberung Deutschlands durch Preußen“ beschrieben.9 Die Wiedervereinigung im Jahre 1990 war dann umgekehrt die Eroberung Preußens (der DDR) durch Westdeutschland. Daher ist die deutsche Frage (vorübergehend) aus der Mitteleuropa-Debatte verschwunden.
    Im Gegensatz dazu rücken Kunderas Essay und die Mitteleuropa-Frage durch den russischen Einmarsch in die Ukraine vom Frühjahr 2022 in einem anderen Kontext erneut in den Fokus, wobei die entscheidende Frage nun die nach den Grenzen Mitteleuropas und seinem Verhältnis zu Rußland ist. Denn Rußland war und bleibt unweigerlich der „constitutive Other“, jener Andere, in bezug auf den die Identität und die Konturen Mitteleuropas definiert werden. Kunderas Überlegungen zielten aber nicht darauf ab, Rußland von Europa „auszuschließen“, sondern darauf, es als eine „andere Zivilisation“ zu betrachten. Neben dem damals vorherrschenden klassischen Gegensatz von Demokratie und Totalitarismus verwies er auf eine kulturelle oder „zivilisatorische“ Kluft. Dabei ging es nicht darum, eine Hierarchie von Zivilisationen zu erstellen, sondern darum, daß deren Grenzen nicht durch die Geographie und noch weniger durch Panzer bestimmt werden, sondern durch die Werte, die in einer bestimmten Kultur verankert und Bestandteil eines gemeinsam geteilten Erbes sind, das sich immer wieder erneuert und das immer wieder neu angeeignet wird.
    Kundera stellt die beunruhigende und überaus schwierige Frage: „Ist der Kommunismus die Negation der russischen Geschichte oder eher ihre Erfüllung?“ 10 Er merkt an, daß die russischen Intellektuellen eher für eine Diskontinuität plädieren, während bei den Mitteleuropäern die Kontinuitätsthese dominiert, da es für sie nicht nur um ein Regierungssystem geht, sondern auch um eine imperiale Logik, mit dem sowjetischen System als Erbe des zaristisch-imperialen Rußlands.

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024