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Cover Lettre International 60, Ann Mandelbaum
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LI 60, Frühjahr 2003

Tragödie der Vertreibungen

Über das Erfordernis, ein europäisches Ereignis neu zu erzählen

Das Geschehen, mit dem wir es zu tun haben, ist ungeheuerlich. Zwischen 60 und 80 Millionen Menschen haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre angestammte Heimat in Europa verloren. Der zentrale Schauplatz für diesen säkularen Entwurzelungsvorgang war das mittlere und östliche Europa. Es gibt nur wenige Familien, die nicht in irgendeiner Weise - direkt, indirekt, in jedem Falle vermittelt - von der gewaltsamen Ortsveränderung betroffen gewesen wären. Gesellschaften sind in ihr aufgelöst worden, ganze Landschaften untergegangen, die Bevölkerungen ganzer Provinzen und ganzer Städte gleichsam über Nacht ausgetauscht worden. In ihr sind ganze Völker verschoben worden. Das östliche und mittlere Europa als grandioser Verschiebebahnhof.

In dieser Bewegung ging das europäische Judentum unter, in dieser Bewegung kam es aber auch zur größten Umsiedlungs- und Vertreibungsaktion der modernen Geschichte, deren Objekt die Deutschen in den östlichen Provinzen des Reiches und im östlichen Europa waren. Wie kommt es, daß wir bis auf den heutigen Tag noch immer kein einigermaßen vollständiges oder gar angemessenes Bild von diesen ungeheuren Turbulenzen und Verwerfungen haben? Wie kommt es, daß die Katastrophe, die im Zusammenbruch des deutschen Ostens liegt, uns so seltsam wenig berührt? Wie kommt es, daß die Leiden und das Schicksal der von Flucht und Vertreibung Betroffenen uns nicht eigentlich kalt, aber doch relativ ruhig läßt?

Es hat immer wieder Versuche gegeben, das „europäische Vertreibungsgeschehen", also die Menschenströme dieser 60 bis 80 Millionen, zu visualisieren, graphisch oder kartographisch zu erfassen. Auf solchen Karten sieht man Pfeile, die von Polen nach Kasachstan, von der Krim und dem Kaukasus nach Zentralasien, aus Polen nach Rußland und nach Deutschland, aus Kleinasien nach Griechenland und zurück weisen; gewaltige Pfeile, die den Strom der nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeiter oder die Fluchtbewegung vor der Roten Armee nach Westen symbolisieren. An diesem In- und Nebeneinander sich überkreuzender Bewegungen gewinnt man eine Vorstellung von der Chaotik, Unübersichtlichkeit und Heillosigkeit des Geschehens und beginnt zu begreifen, wie weit wir noch davon entfernt sind, diese Vorgänge erfassen und gar darstellen zu können. Es gibt geschichtliche Vorgänge, für deren Darstellung die Sprache nicht oder vorerst nicht ausreicht.

Der Holocaust ist ein solcher Vorgang, die Heillosigkeit des Flucht- und Vertreibungsvorganges ein anderer. Es ist kein Zufall, daß die deutsche Literatur jenes Epos, in dem diese Erfahrungen aufbewahrt sind, nicht hervorgebracht hat. Es ist wahr, was Andreas Hillgruber seinerzeit pro domo sua, für die Historikerzunft, bemerkt hat: „Das ungeheure Geschehen zwischen dem Herbst 1944 und dem Frühjahr 1945 verlangt noch nach Darstellung, einer Behandlung, die den weltgeschichtlichen Vorgang im Auge hat und doch das Einzelschicksal sieht, wo es im Leiden und Tun, im Handeln und Versagen repräsentativ ist.

Dies ist eine Aufgabe, die zum Schwierigsten gehört, was das Geschäft des Historikers für die Zukunft bereithält, und vielleicht ist der Versuch eines Gesamtbildes des Zusammenbruchs der Fronten, der Eroberung Ostmitteleuropas, der Zerschlagung des Deutschen Reiches und des Untergangs des deutschen Ostens mit all dem, was in ihn eingebunden ist, die letzte große Herausforderung einer Geschichtsschreibung, die den Zerfall der demokratischen Republik, das Aufkommen der nationalsozialistischen Bewegung und ihres 'Führers' und die Etablierung des Dritten Reiches und seiner Strukturen mit so viel Anstrengung erforscht hat".

Man sollte zunächst die Größe dieser Aufgabe anerkennen, und man muß vor ihr kapitulieren können. Man muß Abschied nehmen von der Illusion, wir hätten längst den Überblick und wir hätten diese ganze Geschichte schon auf den Begriff gebracht. Wir müssen erst einmal anfangen, sie wieder oder neu zur Kenntnis zu nehmen, sie wahrzunehmen - nach allen Richtungen hin. Das ist schwierig, denn die Nachgeborenen sind ausgeschlossen aus dem Zeithorizont, in dem dies alles sich ereignet hat, und es ist nicht ausgemacht, ob unser Vermögen, unser Takt ausreichen, um einen Zugang zu diesen Tragödien zu finden. Zutritt zu einer Zeit zu finden beginnt mit der Wahrnehmung und dem Ernstnehmen der Toten. Sie haben keine Stimme mehr, um sich von sich aus vernehmlich zu machen und sich Gehör zu verschaffen. Wenn wir ihnen nicht unsere Stimme leihen, bleiben sie für immer stumm.

(...)

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