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Cover Lettre International 56, Pedro Cabrita Reis
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Inhaltsverzeichnis

LI 56, Frühjahr 2002

Wunder des Gleichzeitigen

Der Jugendstil - Glücksmoment eines hoffnungsvolleren Europa

(...) Aber es gibt noch eine weitergehende Frage. Charaktermaske von was, Stil, Symptom, Zeichen wovon oder wofür war der Jugendstil eigentlich? In den späteren Urteilen über den Jugendstil wiederholt sich noch einmal die Ironie, der leichte, auch grobe Spott seiner Zeitgenossen.

Selbst bei einem so genauen Beobachter wie Walter Benjamin ist der Jugendstil ein Vorschein der Schwäche, einer eigentümlichen Impotenz, dem Untergang geweiht. „Wenn wir uns früh an einem Reisetage erheben müssen, so kann es vorkommen, daß wir, ungeneigt uns dem Schlafe zu entwinden, träumen, wir stehen auf und ziehen uns an. So einen Traum träumte die Bourgeoisie im Jugendstil, fünfzehn Jahre bevor die Geschichte sie dröhnend weckte."

Nur in der Ausnahme und in der Isolation sei der Jugendstil Wirklichkeit geworden – im Hill House (Mackintosh), im Palais Stoclet (Josef Hoffmann) und in der Behrens-Villa in Darmstadt. „Hier wurde der Jugendstil wirklich Realität – wenn auch nur in der Sezession, in der ästhetischen Enklave, im Paradis artificiel." Schließlich sei er in den Kitsch abgeglitten. „Man schämte sich und ging so schnell wie möglich zu andren Stilkonzepten über. Gerade der Jugendstil, der allem Kitsch ein Ende bereiten sollte, wurde dadurch zum Inbegriff des Kitschigen schlechthin."

In seiner Zusammenfassung der Londoner Ausstellung des Jahres 2000 bemerkt Paul Greenhalgh (A Strange Death), daß es leichter sei, den Aufstieg als den Niedergang eines Stils zu analysieren, aber er versucht es doch, und er stellt eine Parallele her zwischen dem Niedergang des Liberalismus und dem des Jugendstils, der Polarisierung in die feindlichen Lager und das Verschwinden des Dritten. Ich vermute, daß dies zutrifft.

Das östliche Europa ist zum Schauplatz einer zweifachen Niederlage der bürgerlich-liberalen Lebensform geworden. Erst durch den Kommunismus, dann den Nationalsozialismus – oder umgekehrt. Beide haßten den Jugendstil. Die Nazis schlugen die Ornamente am Hofatelier Elvira in München ab, die Kommunisten verteufelten ihn als den Stil der décadence schlechthin und machten Schechtels Villa zur Szene für den großen Auftritt des Diktators in Sachen „Sozialistischer Realismus", um später selber eine gewalttätige Synthese im Zuckerbäkkerstil zu versuchen. Der bürgerliche Stil par excellence wurde zerrieben zwischen den forcierten, monumentalisierenden und auf Einschüchterung setzenden Bautypen.

Jugendstil – das war der Stil des „Dritten Elements", das fast überall im östlichen Europa als Platzhalter für eine zu schwache oder kaum vorhandene bürgerliche Klasse fungierte. Der Jugendstil, in seinem inspirierten und schwungvollen Aufbruch ist zugleich ein fragiler, sich seiner Schwäche bewußter Stil – der Stil einer bedrohten Kultur, die Zeit und Ruhe brauchte. Die war ihr nicht vergönnt: 1914 wurde zum Starter einer Kettenreaktion, mit der alles ins Rutschen und in den Abgrund geriet.

Kaum jemand hat das Gefühl dieses Aufbruchs, der schon zu einem Abschied wurde, besser ausgedrückt als Sergej Djagilew, vielleicht die faszinierendste Figur der europäischen Kultur in den 1910er Jahren. Djagilew hatte sich 1906, unmittelbar nachdem eine Welle der Aufstände und Unruhen über das Land hinweggegangen war, während seiner Fahrten durchs weite Rußland, beim „Hauch des Sommerwinds", davon überzeugt, „daß die Zeit gekommen ist, Bilanz zu ziehen … Verödet sind die Majorate, furchtgebietend in ihrer erstorbenen Pracht die Paläste, die seltsam bevölkert werden von den heutigen kleinen und mittleren Leuten, die die Bürde einstiger Paraden nicht ertragen. … Und von Stund an war ich überzeugt, daß wir in einer furchterregenden Zeit des Umbruchs leben; wir sind zum Sterben verurteilt, um einer neuen Kultur zum Auferstehen zu verhelfen, die von uns das übernehmen wird, was von unserer müden Weisheit übrig bleibt. … Und deshalb erhebe ich ohne Furcht und Unglauben das Glas auf die zerstörten Mauern der schönen Paläste wie auch auf die neuen Gebote einer neuen Asthetik. Und der einzige Wunsch, den ich als unverbesserlicher Sensualist äußern möchte, lautet: Daß der bevorstehende Kampf nicht die Asthetik des Lebens verletzen möge und der Tod genauso schön und strahlend sei wie die Auferstehung" (zitiert in: Karl Schlögel, Moskau lesen).

Jugendstil ist Zerbrechlichkeit und Stärke, kraftvolles Ausholen und Reflexivität. Er gehört zu den glücklichsten Momenten der jüngeren europäischen Geschichte. Er zeugt von der Ingeniosität und dem Reichtum der „Welt von gestern", wie sie Stefan Zweig beschrieben hat. Wenn wir die Schicksale der zivilen Gesellschaft im 20. Jahrhundert studieren und vielleicht begreifen wollen, müssen wir die Ornamente des Stils um 1900 neu lesen.

Der Stil um 1900 war eine Inkubationsphase, in der noch alles zusammengehörte, in der Welt noch nicht in ihre Extreme auseinandergejagt war. Dieser Stil ist der Stil der Zwischentöne, der Komplexität, der Eleganz, der Versenkung ins Detail, der Differenz, es ist der Stil, bevor die Epoche der Parolen und des Kampfgeschreis, bevor die Flucht nach vorn, in den kurzen Prozeß und in die radikale Vereinfachung beginnt. Diese eher stille und zurückhaltende Zeit hat allzu lange im Schatten der Moderne der Revolutionsepoche und der Avantgarde der Zwischenkriegszeit gestanden.

Wir sollten noch einmal einen Schritt zurück tun. Der Stil um 1900 verdient eine neue Aufmerksamkeit, wenn wir das 20. Jahrhundert verstehen wollen. Die Avantgarde der Zwischenkriegszeit, die mit ihren Exaltationen, ihrer Radikalität und ihrer Verzweiflung die Wahrnehmung bis heute beherrscht, gehört zum Europa des europäischen Bürgerkriegs und der verzweifelten Suche nach Wegen aus ihm heraus, der Jugendstil zu dem Europa, das noch alles vor sich hat und das jetzt einen zweiten Anlauf unternimmt. Die Gegend, in der man das ganz gut erkunden könnte, wäre das von der Revolutions- und Weltkriegsepoche am meisten verheerte Gelände des mittleren und östlichen Europa.

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024