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Cover Lettre International, Coralie Salaün
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Inhaltsverzeichnis

LI 119, Winter 2017

Nachtgedanken

Aufhören, nachdenken. Und noch einmal anfangen, anders.

MORD

Nachts. Ein Hotel. Ein dunkles Zimmer in einem oberen Stockwerk. Draußen meilenweit leere Straßen, stumm, grau, wie graue Felder im Winter. Drinnen bin ich allein in einem sehr kalten Raum mit einer summenden Minibar. Durchs Fenster kann ich tief unten auf der Straße zwei dünne, einzeln dahinwandernde Männer sehen, der eine hat den Hut in flottem Winkel auf den Kopf gedrückt. Dann mache ich eine schwache Lampe an und starre auf die Zeitung, und mein Blick geht wie immer hin zu den Geschichten über Verbrechen, zu den Morden. Ein Verbrechen aus Leidenschaft (Eifersucht, Furor), ein Körper stürzt in der Dusche hin. Merkwürdige Todesfälle in einer ruhigen Vorstadt – eine seltsame Waffe – ein Serienmörder? Meine Sinne erwachen, meine Lethargie verschwindet. Man schreibt über mich. Nun ja, nein, nicht geradezu über mich, nicht ganz, noch nicht. Aber ich weiß, während ich lese, daß ich nicht als Opfer lese, ich lese als Mörder.


***


In einem Gerichtssaal; es wird ein aus der Spur gelaufener Einbruch verhandelt. Der Dieb war im Haus, als der Besitzer unerwartet heimkam. Der Dieb war mit einem Messer auf den Mann losgegangen, und als man ihn fragte: „Warum haben Sie 38 Mal auf ihn eingestochen, wo Sie doch wußten, daß er nach dem ersten Mal schon tot war?“, da antwortete er: „Ich weiß nicht.“ Es scheint, als sagten Mörder immer „Ich weiß nicht“, sofern sie nicht sagen: „Ich kann mich nicht mehr erinnern, was da geschehen ist.“


***


Dann im Fernsehen eine andere Varietät von Mord. Hellgekleidete Studenten in Blutlachen, ihre Bücher liegen auf der Straße verstreut. Der Islamische Staat. Eine Maschinenpistole. Schreie. Schluchzen. Ein arabisches Imperium im 14. Jahrhundert?


***


Das Hotel selbst ist trotz des toten, ruinierten Viertels – nichts als Glasscherben und im Wind treibende Fetzen – recht prächtig, mit imposanten Ballsälen, als lebten wir im 19. Jahrhundert. Vor nicht langer Zeit hatten junge Leute aus einer Hochhaussiedlung in der Nachbarschaft eine ziemlich große Summe aufgebracht, um in Smokings und Abendkleidern in einem solchen Ballsaal ein Fest zu feiern. Im Verlauf der Party dachte einer der Halbwüchsigen, ein anderer habe mit seiner Freundin geflirtet. Es kam zu einem Kampf, und die Party endete in Tod und Gefangenschaft – ein Junge für immer dahin, ein anderer in Handschellen weggeschafft.

 

NACHT

Der Fernsehschirm kehrt immer wieder mit verrückter Obsessivität zum Gesicht Trumps zurück. Mein Gott – hört das denn nie auf? Ich schalte den Fernseher ab, mache das Licht aus. Als ich einzuschlafen versuche, springt mich immer wieder das Gesicht von Trump an, dann verblaßt es langsam, und ich denke über mich selbst nach, den Lauf meines Lebens. Worte und Gedanken der Vorfahren (von meinen Eltern, deren Freunden, den Autoren von Büchern, die vor langer Zeit geschrieben worden sind) dringen zu mir. Sie wiederholen und wiederholen wie aus eigenem Antrieb Wörter, Gedanken, Namen, bestimmte Formulierungen – manchmal auch Bilder. Meine Kindheit liegt sehr, sehr nahe. Ein erschreckend magerer Mann mit dünnem Haar, der in einem grauen Anzug mit einer langen Zigarette in der Hand an einem Fenster steht, das vor Spiegelungen flirrt – er redet mit großem Nachdruck – es geht um Beethoven …
Von Anbeginn Glück gehabt. Bestimmte Leute wurden bezahlt, damit sie sich um mich kümmerten. Wir wohnten in einem großen Apartmenthaus in einer sehr großen Stadt, und wenn meine Mutter wollte, daß etwas Schweres aus einem Zimmer in ein anderes geschafft wurde, oder wenn sie glaubte, die Geschirrspülmaschine mache ein merkwürdiges Geräusch, dann rief sie den Hausmeister an, und jemand erschien und regelte die Sache. Bücher und Musik ganz von Anfang an. Bücher und Musik. Niemand sagte das jemals ausdrücklich zu mir, aber ich setzte es voraus: Mein Vorhaben in dem Leben, das sich vor mir auftat, war es, daß ich versuchen würde, glücklich zu sein. Das wäre meine hauptsächliche berufliche Verantwortung. Ich würde jeden Tag erwachen und versuchen, glücklicher zu werden.


Aus verschiedenen Gründen sollte sich herausstellen, daß meine Freunde und ich allesamt das wurden, was man vor einigen Jahrzehnten „soziale Absteiger“ nannte. Unsere Stellung in der Gesellschaft ist ein wenig niedriger als die unserer Eltern. Als ich heranwuchs, ging mein Vater niemals in den Lebensmittelladen, um einzukaufen. Das taten andere für ihn. Er ging niemals mit einer großen Tüte Einkäufe vom Lebensmittelgeschäft nach Hause. Nie ging er die Treppe zu seinem Apartment hoch und trug dabei eine Einkaufstüte. Ich wohne in einem kleinen Gebäude, wenn etwas mit der Elektrizität oder der Wasserleitung nicht stimmt, kann ich keinen Hausmeister anrufen, damit er jemanden vorbeischickt. Trotzdem hat mein Glück angehalten. Ich wohne in einem ruhigen, stillen Stadtteil. Ich schreibe. Ich lese. Ich besuche Freunde. Ich gehe in Konzerte. Ich gehe in Restaurants. Als ich zwanzig war, erfuhr ich von dem Leben, das Menschen am japanischen Kaiserhof im 11. Jahrhundert führten. Dies wurde ausführlich in der Geschichte des Prinzen Genji von Murasaki Shikibu und dem Kopfkissenbuch (einer Art Tagebuch) der Sei Shōnagon beschrieben. Ich spürte gleich, daß das etwas für mich war – Frauen und Männer, die den ganzen Tag über nichts anderes zu tun hatten, als nachzudenken und über Liebe und Schönheit zu reden. So schien es wenigstens. Sie ruhten nebeneinander auf Kissen und schrieben Briefe und Gedichte vom frühen Morgen bis tief in die Nacht, auf parfümiertem Papier in vielen Farben. Jedenfalls schien das ein erstrebenswertes Leben.

 

ÄNGSTE

Natürlich beunruhigt es mich, was aus meiner Spezies geworden ist – der Spezies, die wahnsinnig wurde und den Planeten zerstört hat. Es ist unglaublich, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, wie geachtet und bewundert das Menschentier einmal gewesen ist. Es ist, als wäre der alte Hund der Familie, einst von allen geliebt, plötzlich tollwütig geworden, seine Schnauze schaumbedeckt, seine bloße Gegenwart entsetzlich. Und natürlich beunruhigt mich – warum sollte ich es leugnen – in hohem Maße der Islamische Staat, es beunruhigen mich all die Anhänger von Osama bin Laden und die Anhänger der Anhänger, die verrückten bin-Ladenisten, die sich jetzt in feindselige Fraktionen aufspalten. Mich ängstigt all das, was sie tun könnten, die radioaktiv kontaminierten Bomben, das Giftgas. Manchmal frage ich mich, ob dieses Individuum bin Laden tatsächlich etwas mit dem furchtbaren Tag im Jahre 2001 zu tun hatte? Wer weiß? Die meisten Beweise, von denen die Rede ist, scheinen von Menschen zu stammen, die man gefoltert hat – wie kann man dem glauben? Aber es scheint festzustehen, daß bin Laden sich gefreut hat über das, was an jenem Tag geschah. Jedenfalls haben wir ihn zum Symbol dafür gemacht. Irgend jemand mußte es ja sein. Und so mußte er getötet werden. Offensichtlich. Jetzt sind seine Anhänger stärker denn je, und es ist fürchterlich, es wird einem schlecht bei dem Gedanken, daß da draußen in der Welt Menschen sind, die mir gerne wehtun würden, die mich gerne auslöschten, ob sie nun neben mir auf dem Flughafen in der Schlange stehen oder im Jemen in der Wüste ein Komplott schmieden. Es ist ein schrecklicher Gedanke. Mich beunruhigt auch die Frage der „Moral“ – kein Wort, das man besonders oft in Unterhaltungen hört, das stimmt schon, aber sowohl meine Eltern als auch meine Lehrer in der Schule waren große Anhänger dieser Vokabel. Sie liebten die Moral. Ich frage mich manchmal: Welcher seltsame Dämon würde wohl ein Tier erschaffen, das zu sich selbst sagen könnte: „Ich tue das, und ich will es tun, und ich bin froh, daß ich’s tue, aber eigentlich sollte ich es nicht tun, weil es nicht ‘recht’ ist, es ist ‘falsch’.“ Recht und Falsch waren wie zwei kleine Glöckchen, die in der Wohnung meiner Eltern ständig angeschlagen wurden. Und wenn ich jetzt meinem Leben nachgehe, klingeln sie immer noch in meinem Kopf, und ich frage mich manchmal – ping –, ob nicht an der Art und Weise, wie ich lebe – ping –, irgendwie etwas „falsch“ sein könnte. Ping, ping.

(…)

 

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024