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Cover Lettre International 60, Ann Mandelbaum
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Inhaltsverzeichnis

LI 60, Frühjahr 2003

Tagebuchfragmente

(Auszug)

(…)
Natürlich kann man behaupten, daß Bush und seine Kollegen den Irak deshalb so gern erobern möchten, um eine sichere Ölquelle in ihren Besitz zu bringen und einen Prozeß der Kontrolle über die Welt in Gang zu setzen; aber auch damit ist die Stärke ihrer Motivation, der unverkennbare Feuereifer ihres Engagements wohl nicht voll und ganz erklärt.
Warum müssen wir so lächerlich höflich bleiben? Man hat das Gefühl, als gebe es da so eine Art Gentlemen’s Agreement, das die Leute davon abhält, die offensichtliche Wahrheit auszusprechen, daß Bush und seine Kollegen bei dem Gedanken an Krieg, bei dem Gedanken an die unglaubliche Macht, die sie über so viele andere Menschen haben werden, bei dem Gedanken an das Ungeheuerliche, das sie vollbringen werden, bei dem Maßstab und der Massivität der Bombardierung, die sie vorhaben, bei all der Gewalt, all dem Töten, dem Blut, den Toten, dem Grauen richtig in Freude und Begeisterung ausbrechen.

Die Freude am Töten steckt in jedem von uns, und wir können niemals sicher sein, daß sie nicht ausbricht. Wir haben dankbar zu sein, wenn sie nicht ausbricht. In Wirklichkeit bin ich völlig im Unrecht, wenn ich mir vorstelle, daß Bush gewalttätig sei und ich nicht, daß Bush grausam sei und ich nicht. Potentiell bin ich genauso ein Killer wie er, und ich bedarf der Hilfe sämtlicher Weisen und Dichter und Musiker und Heiligen, daß sie mich auf einen besseren Weg führen, und ich kann nur hoffen, daß die Umstände meines Lebens weiterhin so sein werden, daß sie mir helfen, auf diesem Weg zu bleiben. Aber wir können nicht leugnen, daß Bush und seine Männer aus welchen Gründen auch immer unter dem Einfluß der weniger friedfertigen Seite ihrer Naturen stehen. Seit den ersten Tagen nach dem Einsturz des World Trade Centers konnte man an ihren Gesichtern sehen, daß ihnen, so unheimlich es auch sein mag, die Jobs zu haben, die sie haben, und so schwer die Verantwortung auch sein mag, das Staatsschiff in so unruhigen Zeiten zu steuern, das Ganze Spaß machte. Diese Gesichter strahlten richtig. Da konnte man diesen eigenartigen Blick sehen, den die Leute immer annehmen, wenn sie von der unentschlossensten Sache der Welt, nämlich von dem Gefühl der Entschlossenheit, gepackt werden. Dies in Verbindung mit Lust auf Blut erzeugt gefährliche Führer, die so total von ihrer Sehnsucht nach Gewalt getrieben sind, daß sie fast außerstande sind, es auch nur zu hören, wenn jemand anderer um Nachgiebigkeit oder Frieden fleht.

Warum wollen sie unbedingt diesen Krieg? Die Antwort auf diese Frage können wir vielleicht nie voll und ganz erfahren.

Warum wollen manche Leute von einer Domina ausgepeitscht werden? Warum wollen manche Leute so unbedingt Sex mit Kindern haben, daß sie nicht davor haltmachen können, sie zu vergewaltigen, obwohl sie wissen, daß das, was sie tun, Unrecht ist? Warum wollte Hitler unbedingt die Juden vernichten? Warum sammeln manche Leute Münzen? Warum sammeln manche Leute Briefmarken?

Voll und ganz können wir das nicht verstehen. Aber es ist klar, daß Bush und seine Gruppe von irgendwas gepackt ist. Und daß sie darin ziemlich weit fortgeschritten sind. Ihr Narzißmus und ihr Allmachtsgefühl gehen über reines Selbstbewußtsein bereits weit hinaus, erreichen bereits den Punkt, wo sie gegen den Abscheu, den sie in anderen hervorrufen, unempfindlich sind oder ihn sogar nicht mal bemerken. Sie haben den Menschen der Welt ziemlich klargemacht, daß sie amerikanische Interessen höher als die Interessen der Welt und amerikanische Profite höher als das physische Wohlergehen der Welt bewerten, und doch erwarten sie freundlichst von den Menschen der Welt, daß sie in der Sache mit dem Irak ihre Führerschaft akzeptieren. Sie sind in ihrem Glauben, daß alle sie lieben werden, so unerschütterlich, daß sie vor einem Jahr überglücklich die Welt dazu einluden, sich mit anzusehen, was sie mit den Menschen angestellt haben, die sie zu ihren Gefangenen gemacht hatten, und sie zu diesem Zweck voller Stolz auf Knien, die Gesichter verhüllt und die Körper in Ketten, in Käfigen unter unbarmherziger Sonne zur Schau stellten. Mit anderen Worten: Das einzige, was man dazu sagen kann, ist, daß diese Leute wie all jene, die seit 50 Jahren in den Ämtern in Washington sitzen und davon träumen, mit atomaren Waffen und chemischen Waffen und biologischen Waffen Millionen Feinde zu töten, krank sind. Sie leiden an einer Krankheit. Und sie nähert sich dem Punkt, wo es vielleicht kein Mittel mehr dagegen gibt.

Unterdessen lese ich meine New York Times, und alles ist ganz ruhig. Die Leute, die darin schreiben, scheinen ein Bedürfnis zu haben, zu glauben, daß ihre Regierung, obwohl manchmal natürlich im Unrecht, nicht völlig den Verstand verloren hat und daß man ihr zumindest so weit vertrauen muß, daß sie die richtigen Fragen stellt. Diese Schreiber können einfach nicht den Gedanken ertragen, daß sie dem Zentrum ihrer Gesellschaft, ihrer eigenen Regierung, vollkommen entfremdet sind. Daher nehmen sie jetzt, obwohl sie selbst noch vor zwei Jahren eine “Präventiv”-Invasion in den Irak für absurd und schwachsinnig gehalten hätten, die Idee ernst und erwägen ehrfürchtig ihre Vorzüge und machen sich ernsthaft Sorgen wegen der Gefahr, die der Irak bedeutet, und dies sogar, obwohl der Irak in keiner Hinsicht gefährlicher und in jeder möglichen Hinsicht weniger gefährlich als vor zwei Jahren ist.

Tatsächlich scheint der versachlichte Ton der “Debatte” über den Irak in der New York Times und auf unseren Fernsehschirmen psychotisch weit von der Wirklichkeit dessen entfernt zu sein, was passieren wird, wenn es wirklich zum Krieg kommt. Ständig reden wir von dem Tod, der auf Menschen niederregnet, von Tausenden und Abertausenden schreiender, verwundeter Menschen, zerfetzter Leichen in Lachen von Blut. Ist das eine der “Lektionen von Vietnam”, aus denen die Leute gelernt haben – daß von der Immoralität dieses unsäglichen Mordens nie gesprochen werden darf? Daß in der Diskussion über Mord nie von Mord gesprochen werden darf und daß sogar diejenigen, die das Morden kritisieren, es deshalb ständig kritisieren müssen, weil sich herausstellt, daß es nicht unserem eigenen besten Interesse dient? Müssen diese Kritiker ständig betonen, daß der Preis dieses Mordens für uns zu hoch sein würde, daß es zu teuer kommen, den Staatshaushalt aus dem Lot bringen, empfindlich die Wirtschaft treffen, uns dazu zwingen würde, unsere häuslichen Prioritäten hintanzustellen, daß es uns unsere Freunde kosten, daß es uns neue Feinde schaffen würde? Können wir niemals sagen, daß dieses Abschlachten von Menschen schlicht und einfach grauenhaft und Unrecht ist?

(…)

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