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Cover Lettre International 131, Antoine D'Agata
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Inhaltsverzeichnis

LI 131, Winter 2020

Der Antikenkosmos

Die Faszination der Alten oder Von den Obsessionen der Altphilologie

Frank M. Raddatz: Herr Steinmann, Sie haben in den letzten Jahrzehnten etliche antike Texte, darunter griechische Tragödien, aber auch Die Ilias und Die Odyssee übersetzt. Wie kamen Sie dazu?

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Kurt Steinmann: (…) So bin ich durch einen Zufall zum Übersetzen gekommen. Dann folgte Jahr für Jahr neben der vollen Stundendotation am Gymnasium Werk um Werk. Nach der Pensionierung machte ich mich an Die Odyssee. Das war immer ein Traum gewesen, und 2007 wurde meine Übertragung veröffentlicht. Die Odyssee kannte ich besser als Die Ilias, und sie ist wesentlich kürzer: 12 110 Verse gegenüber 15 693 der Ilias. Von dieser hatte ich falsche Vorstellungen und dachte, es handle sich um ein martialisches Werk voller Kriegsszenen. Da zog ich die Irrfahrten des Odysseus dem Irrsinn um Troja vor. Die erste Besprechung in der NZZ von Hans-Albrecht Koch fiel sehr positiv aus. Danach setzte eine euphorische Besprechungswelle im deutschen Sprachraum mit über achtzig Rezensionen ein. 2017 erschien meine Übersetzung der Ilias, die ich ohne den sogenannten Basler Homer-Kommentar – ein sowohl in semantischer, in grammatischer, in poetologischer als auch in metrischer Hinsicht phänomenaler Kommentar – in der vorliegenden Form nicht zuwege gebracht hätte.

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Ich habe mir bei Übersetzungen absolute Strenge im Sinne Wolfgang Schadewaldts verordnet. Schadewaldt hat drei Maßgaben für das Übersetzen aufgestellt. Erstens: weder durch Subtraktion noch durch Addition den Ausgangstext verändern. Zweitens: die ursprünglichen Vorstellungen, Bilder, Metaphern nicht in gängige deutsche Bilder übersetzen, sondern in die harten Bilder der Antike. Drittens – auch die Reihenfolge der Vorstellungen beibehalten. Schadewaldt hat dieses Reglement in seinen Tragödienübersetzungen wunderbar vorexerziert, und ich folgte ihm anfangs mit großer Disziplin. Heute würde ich sagen: „zu pedantisch“. Oberste Devise beim Übersetzen sollte Strenge sein, aber nicht Pedanterie. Freiheit, aber nicht Willkür.
     Im Grunde genommen ist Präzision das oberste Prinzip. Wie will man sonst dem Ausgangstext gerecht werden? Schadewaldt nannte dieses Vorgehen „dokumentarisches Übersetzen“. Dichtung ist ein Dokument. Wie ein Testament. In einem Testament darf kein Wort verschoben werden. Wenn ich aber zum Beispiel Das Satyricon von Petron übersetze oder Erasmus’ Das Lob der Torheit, dann leiste ich mir größere Freiheiten im Sinne des transponierenden Übersetzens und ersetze Bilder aus der damaligen Ursprungssprache durch modernere Bilder. Wenn ich Petron oder Erasmus dokumentarisch übertragen würde, dann ergäbe das steife, hölzerne Übersetzungen. Dort muß ich transponieren. Auch bei Daphnis und Chloe übersetze ich leichter, flüssiger, leser*innengerechter. Es hängt also von der Gattung ab, ob ich das dokumentarische Verfahren anwende. Ich wende es in der Tragödie und im Epos an. Dichtung vom Rang eines Ödipus ist ein Dokument, und der Leser hat ein Anrecht zu erfahren, was wirklich im Text steht, und nicht, was der Übersetzer daraus machen kann. Generell habe ich die Tendenz, die Wörter zu behorchen, sie abzufragen nach ihrer etymologischen Tendenz.

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Übersetzen ist für mich nicht mehr als ein Herangang. In einem Fragment von Heraklit heißt es, daß man nie endgültig an den Kern herankommt. Aber man kommt ihm näher, und jede Übersetzung sollte dem Original etwas näherkommen. Ich stimme dem voll zu, was Ortega y Gasset unter dem wunderbaren Titel Miseria y esplendor de la traducciónElend und Glanz des Übersetzens – gesagt hat. Bitte zu beachten: Die miseria geht voran. „La traducción no es la obra, sino un camino hacia la obra.“ – „Die Übersetzung ist nicht das Werk, sondern ein Weg zum Werk hin.“ Wegweisend auch die Formulierung von Karl Dedecius, dem großen Polonisten: „Übersetzen ist die Aneignung des Fremden im Eigenen, ohne die Grenzen der Lebensfähigkeit des einen wie des anderen zu verletzen.“ Demnach ist Übersetzen ein Assimilierungsvorgang, eine Integrationsleistung. Der ehemalige Inhaber des Lehrstuhls für Poetik in Oxford Cecil Day-Lewis hat gesagt: „Übersetzen ist eine Sache von Liebe, Kunstfertigkeit und Glück.“ Kunstfertigkeit heißt, das Übersetzer-Handwerk muß beherrscht werden. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es klingt. Die Dichter in der DDR haben oft Interlinear-Übersetzungen verwendet. Sie konnten kein Griechisch und haben sich die Zeilen von Philologen Wort für Wort übersetzen lassen und trotzdem Erstaunliches geleistet. Es braucht auch Liebe. Jahrelang Fremdem zu dienen, erfordert Verzicht und Askese. Es gibt Erfüllung, wenn eine überzeugende Formulierung gelingt, dann macht es Spaß. Der Ruhm hält sich in Grenzen und auch die finanzielle Ausbeute. Übersetzer sind Pfadsucher, wenn es gut läuft, sogar Pfadfinder.

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ILIAS VERSUS ODYSSEE
Frank M. Raddatz:Worin besteht für Sie die markante Differenz zwischen der Odysee und der Ilias?

Kurt Steinmann: Die Odyssee ist an die Person Odysseus gebunden. Einem Fremden und Flüchtling. Ein Spätheimkehrer ähnlich dem Beckmann in Draußen vor der Tür. Er wird als „πολύτλας δίος Οδυσσεύς“, der viel duldende, göttliche Odysseus, bezeichnet. Er ist der Treulose und der Treue. Er bricht dauernd die Ehe, wie mit Kalypso oder Kirke, und hängt doch an seiner Penelope. Er ist der unerbittliche Rächer an den Freiern, an den untreuen Mägden und zugleich auch der rührend Empfindsame, wie die Begegnung mit der Amme Eurykleia zeigt. In erster Linie aber ist er der Schlaue und Listige. Für Jacob Burckhardt war dieser Listige der Grieche an sich. Ein erfindungsreicher Trickster, reich an Einfällen und auch an Mitteln, wenn es seinen Zwecken dient. Weil Verstellung und Lüge zu legitimen Waffen im Kampf ums Dasein zählen, wirkt das Verhalten des listigen Tricksters keineswegs ehrenrührig. Weder die Welt der Ilias noch die Welt der Odyssee sind sichere Orte. Es ist eine Welt der Gefährdungen und Katastrophen. Menschenraub, Piraterie, Stadtzerstörungen passieren zuhauf.
     Der Unterschied zwischen Ilias und Odyssee läßt sich an den ersten Versen der beiden Epen ablesen. Im ersten Vers der Odyssee heißt Odysseus „πολῠ́τροπος“. Voß übersetzt: „Die Taten des vielgewanderten Mannes“. Aber das ist falsch getroffen. Denn gemeint ist „wandlungsreich“. Odysseus zeichnet sich durch seine Wandlungsfähigkeit und seine Anpassungsfähigkeit in unterschiedlichen Situationen aus. Er ist ein Adaptionstalent. Dagegen beginnt die Ilias mit dem Wort „Zorn“ oder, wie ich übersetzt habe, „Ingrimm“. Achilleus ist groß durch seinen Groll, durch seinen Zorn, durch seinen Trotz, durch seine Verbohrtheit. Odysseus ist zudem ein großer Geschichtenerzähler. Ein Flunkerer. Böser gesagt ein Lügner, der auf fünf verschiedene Arten seine Lebensgeschichte erzählt. Er variiert seine Biographie, je nachdem ob er sie Athene, dem Sauhirt Eumaios, dem Freier Antinoos, der Gattin Penelope oder seinem Vater Laertes schildert. Immer in veränderter Gestalt, zur Tarnung seiner Identität zieht er sich Geschichten an wie Gantenbein bei Max Frisch und läßt Erlogenes Wirklichem gleichen. Von daher ist es leicht verständlich, daß sich der antike Roman aus dem Epos herleitet. Der frühe Roman erzählt einen glücklichen Ausgang nach Abenteuern und leidvollen Erfahrungen. Das ist die Grundstruktur der Odyssee: die Geschichte von Trennung und Wiedervereinigung.
     Aber Odysseus hat auch sehr abgründige Seiten. Er setzt das Leben seiner Gefährten in der Polyphem-Szene aufs Spiel. Oder die Grausamkeit in der Rache an den Freiern wie die Ermordung der zwölf ungetreuen, aber wehrlosen Mägde läßt den Leser noch heute erschauern. Zur Strafe läßt er sie aufhängen: „Kurz nur noch zappelten sie mit den Füßen, gar nicht sehr lange“, heißt der entsprechende Passus. Das sind seine abgründigen Seiten. Das alles wird raffinierter und weiträumiger erzählt als die Ilias. In der Odyssee spiegelt sich die ganze mediterrane Welt, und sie ist viel weiter und bunter gespannt als der Kosmos der Ilias, der auf einen engen Kampfraum in der Ebene vor Troja konzentriert ist. Die Ilias zeigt eine Härte, eine Unerbittlichkeit, eine archaische Wucht, die näher bei den unverstellten Wurzeln des Menschseins ist als die schon etwas verbürgerlichte Odyssee, die damit einsetzt, daß sich Odysseus nicht von der Nymphe Kalypso losreißen kann.
     Die Ilias ist das erste vollständig erhaltene Werk der Weltliteratur und steht am Anfang der europäischen Literatur. Alle Akte, die dort geschildert werden, sind Erstlingsakte in der Geschichte. Dabei handelt es sich um eine Erzählung über einen Krieg mit all seinen verheerenden Begleiterscheinungen, den es in Wirklichkeit nie gegeben hat. Der troische Krieg ist eine Verdichtung verschiedener kriegerischer Ereignisse während vieler Jahrhunderte, die in diesem Epos zusammenfließen. Vor diesem Horizont werden existentielle Fragen des Menschen verhandelt: Wie ist das Verhältnis zu den Göttern? Zu der Gemeinschaft? Was ist Liebe, Ehre, Tod und Sterblichkeit? Der Philosoph Xenophanes hat geschrieben: „Alle haben von Homer gelernt.“ Das heißt, Homer war in späteren Jahrhunderten für die Griechen die autoritative Norm. Dabei ist Die Ilias keineswegs ein martialisches Epos, das den Krieg verherrlicht, sondern im Gegenteil die Darstellung des Krieges als sinnloser Katastrophe. Eine Parabel gegen die Sinnlosigkeit des Krieges an sich. Es ist also kein typisches episches Heldenlied, das Taten und Ruhm eines Helden verherrlicht. Auch kein Epos vom troischen Krieg im Sinne einer Chronik. Erzählt wird die Geschichte vom Zorn des Helden Achill, der nach 51 Tagen verraucht und von denen in der Ilias nur 15 aus dem zehnten und letzten Kriegsjahr erzählt werden.
     Die Geschehnisse vom Anfang und Ende des Kriegs werden im epischen Kyklos geschildert. Obwohl dessen sechs Epen um Troja nicht erhalten sind, kennen wir deren Inhalt aber recht gut. In den Kyprien wird die Vorgeschichte des Krieges erzählt, in der Aithiopis der Tod und die Bestattung des Achill. Den Untergang der Stadt schildert die Iliu Persis oder die Kleine Ilias. Der troische Krieg wird ins Bronzezeitalter um etwa 1250 v. Chr. datiert. Zwischen dem Krieg und dessen Darstellung liegen rund 500 Jahre. Die Ilias schildert den Tod von rund 250 Kriegern. Dreimal mehr Trojaner als Griechen fallen. Diese Schilderungen sind realistisch und außerordentlich drastisch. Bis in die Details hinein, wie Sehnen und Muskeln zerstört werden, wie Blut spritzt, alle diese Splatter-Effekte werden eingehend geschildert. Darüber hinaus weist der Text eine Fülle von Gleichnissen, Exkursen und Einschüben auf, welche die lineare Erzählweise unterbrechen. Die Odyssee ist trotz ihres komplexeren Aufbaus leichter zugänglich, weil die Abenteurer viel eigenbestimmter erscheinen als die Helden in der Ilias, wo das Handeln fremdbestimmt, von Moira oder von Zeus statt vom eigenen Impetus gelenkt wird. Das hat den Effekt der Härte, der Unerbittlichkeit, der archaischen Wucht zur Folge, der uns deutlicher vor Augen führt, was die Antriebskräfte des Menschen ausmacht.

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024