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Cover Lettre International 50, Jörg Immendorff
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Inhaltsverzeichnis

LI 50, Herbst 2000

Ein Universum in nur einer Silbe

Stimmen, Sprachen, Träume - Meditation mit Notizbuch

(...)

8. Orpheus

Mit dem Problem der Sprache beschäftigt sich auch ein uralter Mythos, der zu den geheimnisvollsten und symbolträchtigsten der griechischen Mythologie gehört: der Mythos von Orpheus. Einer der frühesten Mythen, der schließlich zu einer Geheimlehre wurde, zu dem jede Menge Werke, meistens esoterischer Natur, erschienen sind.

Die Quellen sind sich nicht einig, wer Orpheus' Mutter ist, obwohl die glaubwürdigste ihn als Sohn der Kalliope, der erhabensten aller Musen, bezeichnet. Wie die Musen stammte auch er aus Thrakien und lebte in der Nähe des Olymp, wo er häufig singend dargestellt wurde. Orpheus ist Musiker und Dichter: Er spielt die Leier und die Kithara und singt. Seine Lieder waren so schön, daß ihm sogar die wilden Tiere nachliefen und die Bäume ihre Zweige senkten, wenn er vorbeiging. Der bekannteste Orpheus-Mythos erzählt, wie er aus Liebe zu seiner Frau Eurydike, die an einem Schlangenbiß gestorben war, in die Unterwelt hinabstieg: Untröstlich, nur mit seiner Stimme und seinem Instrument ausgerüstet. Mit seiner Musik und seinem Gesang besänftigt er die Höllenungeheuer und bezaubert die Götter der Unterwelt. Hades und Persephone geben ihm Eurydike zurück, allerdings darf er sich nicht umdrehen, bis er das Licht der Oberwelt erreicht hat. Orpheus willigt ein. Als er schon fast das Licht der Oberwelt erreicht hat, überkommt ihn der schreckliche Zweifel, er könnte sich getäuscht haben, und er dreht sich um. Eurydike stirbt zum zweiten Mal, diesmal läßt Charon sich nicht erweichen, und Orpheus muß allein in die Welt der Lebenden zurückkehren.

Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß das Wort "evozieren" vom lateinischen ex vocare stammt. Das italienische Wort evocare bedeutet jedoch nicht nur "heraufbeschwören", sondern auch "beschwören" beziehungsweise jemanden mit Hilfe spiritistischer Fähigkeiten aus dem Reich der Toten rufen: Womit wir wieder bei der Kraft des Esoterischen wären, die auch Orpheus' Stimme nachgesagt wurde. "Stimme" (verbum, logos), das Prinzip des Lebens, der Schöpfung: In principio erat Verbum. Und auch die erste menschliche Lebensäußerung: Sobald das Kind den Bauch der Mutter verlassen hat, schreit es.

9. Geister beschwören

Heraufbeschwören, beschwören, herbeirufen: Das Bild des Toten erscheint, nimmt dank des Dichters Gestalt an. Es kehrt ins Leben zurück: Wir befinden uns in Anwesenheit eines Geistes.

Die Stimme der Dichtung hat die Macht, mit dem Geist ins Gespräch zu treten. Sobald es von einem Medium gerufen, heraufbeschworen worden ist, können die beiden bei ihrer Unterhaltung von allen Sinneswahrnehmungen absehen, die die Begegnung erst ermöglicht haben: Stimme, Tastsinn, Gesichtssinn, Geruch, Geschmack. Ist die Beschwörung gelungen, zählt nur noch die Anwesenheit des Geists. Sie kann in völliger Stille geschehen, in einer phantasmagorischen Immanenz, die sich selbst völlig genügt.

Eine große Dichterin hat einen einzigartigen Text über die Anwesenheit eines heraufbeschworenen Geists geschrieben (es handelt sich um das Gedicht Nr. 679 von Emily Dickinson):

Conscious am I in my Chamber,-
Of a shapeless friend -
He doth not attest by Posture -
Nor Confirm - by Word -

Neither Place - need I present Him -
Fitter Courtesy
Hospitable intuition
Of His Company -

Presence - is His furthest license -
Neither He to Me
Nor Myself to Him - by Accent -
Forfeit Probity -

Weariness of Him, were quainter
Than Monotony
Knew a Particle - of Space's
Vast Society

Neither if He visit Other -
Do He dwell - or Nay - know I -
But Instinct esteem Him

Immortality

10. Woraus Träume bestehen

Die Geschichte der Träume begleitet die Geschichte der Menschen. Seitdem der Mensch von sich erzählen kann, erzählt er von seinen Träumen, wobei er die Tatsache, warum er überhaupt träumt, auf die verschiedenste Weise erklärt. Eine Deutung der Deutung der Träume wäre eine Deutung der menschlichen Kultur.

Von den Traktaten der griechischen Klassiker bis zu Freuds Traumdeutung haben die Menschen versucht, den Sinn ihrer Tage mit Hilfe der nächtlichen Symbole zu verstehen. Versteht man den Traum als "Bild mit Bedeutung", so läßt sich dadurch sowohl unsere Vergangenheit als auch unsere Zukunft deuten. Mit Hilfe der Deutung der Träume läßt sich erklären, was sich in unserem Leben ereignet hat, oder voraussagen, was sich erst ereignen wird. Natürlich ist die Chronologie der Ereignisse dabei völlig willkürlich. So stellt zum Beispiel bei manchen schamanistischen Kulturen (etwa den Guajiros-Indios, die Michel Perrin erforscht hat) die Verbindung von dem, was man geträumt hat, und dem, was tatsächlich geschehen ist, eine elementare Form des therapeutischen Umgangs mit Träumen dar: Die Beliebigkeit und Absurdität der Wirklichkeit lassen sich erklären, indem man dem Subjekt vor Augen führt, daß die Wirklichkeit bereits festgelegt, Schicksal ist. Im antiken Griechenland hingegen bleibt, wie das Orakel zeigt, das "Bild mit Bedeutung ein geheimnisvolles Zeichen, dessen Sinn erst im nachhinein verstanden werden kann" (Giordana Charuty). Wie Roger Callois sehr scharfsinnig festgestellt hat, erwartet man von dem Ereignis, das erst im nachhinein stattfindet, "den Traum zu erfüllen", es ist dem Traum verpflichtet, der es "zwingend festgelegt" hat.

Einige Anthropologen, Ethnologen und Philosophen (Lévi-Strauss, Foucault usw.) haben festgestellt, daß der Traum zu einer sozialen Aktivität wird, sobald er keine einsame Erfahrung mehr darstellt, sondern seine Deutung einem anderen, egal ob Psychoanalytiker oder Schamane, überlassen wird: In diesem Fall ist "ist es nicht mehr mein Schicksal allein, das ich träumend vollziehe, sondern das meiner Lieben, ob sie nun leben oder tot sind, oder das meiner Patienten." Daß der Traum eine wichtige soziale Aktivität darstellt, beweist auch sein Einfluß auf die Geschichte: Es gibt Träume, die den Lauf der Geschichte verändert haben (der Traum Konstantins), und Träume, aufgrund derer man versucht hat, in die Geschichte einzugreifen (der Traum Scipios).

In der Literatur gibt es jede Menge Beispiele für die Spuren, die die Träume der Menschen in der Geschichte hinterlassen haben.

Vom Gilgamesch-Epos bis zur Bibel, von Calderón bis zu Shakespeare und Kafka, begleitete das "Recht zu träumen" (Bachelard) die Literatur. Ob diese Träume nun alles bedeuten (Freud) oder nichts (Callois - aber auch das ist eine Deutung), ob sie Erlebtes bearbeiten oder ob ihr Inhalt einer "anderen" Dimension angehört, die Literatur erzählt sie nach und bietet sie somit ihren Traumdeutern an: uns allen, den Lesern.

11. Mein Traum

Ich war aus zwei Gründen beunruhigt: Erstens, weil mein Vater mit mir gesprochen hatte; besser gesagt, weil er mir eine absurde Frage gestellt hatte: Doch der Inhalt seiner Frage hatte mich gar nicht so sehr beunruhigt, denn in dem unlogischen Zustand, in dem man sich beim Träumen befindet, war mir seine absurde Frage durchaus als logisch erschienen. Es war vielmehr der Klang seiner Stimme, der mich beunruhigt hatte: Seine Stimme, die er zweieinhalb Jahre vor seinem Tod verloren und die mir damals gar nicht gefehlt hatte, weil ich mich an die Kommunikation mit Hilfe der Tafel gewöhnt hatte, löste in mir große Sehnsucht und tiefes Unbehagen aus.

Außerdem verspürte ich Unbehagen wegen unseres jeweiligen Alters. Im Traum stand mein Vater an eine Kommode gelehnt, und ich saß vor ihm auf dem Bett. Wir befanden uns in einem Hotelzimmer, und ich war mir sicher, so sicher, wie man sich nur in Träumen ist, ohne eine Erklärung zu brauchen, daß wir in Lissabon waren. Er war ein junger Mann von ungefähr zwanzig Jahren und trug eine Matrosenuniform, und sein Ausdruck war so fröhlich und selbstsicher, wie ich ihn von den Fotos aus seiner Jugend kannte. Er hatte jedoch ein Loch im Hals, auf der Höhe des Kehlkopfes, wie er es kurz vor seinem Tod gehabt hatte, und aus diesem schrecklichen Loch kam seine Stimme, die Stimme seines Kehlkopfes, den er nicht mehr besaß. Ich hingegen war so alt wie in Wirklichkeit, so daß ich sehr gut sein Vater hätte sein können. Wir hatten jedoch nicht einfach die Rollen getauscht: Ich war mir sicher, daß er mein Vater war, und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, er sei mein Sohn, so wie ich mir ganz sicher war, sein Sohn zu sein, und gleichzeitig das Gefühl hatte, sein Vater zu sein. Und hinter dem Fenster, in der Ferne, die man im Traum fast mit der Hand berühren kann, bewegte sich eine phantasmagorische Figur wie ein plumper Ballettänzer. Die Figur stand auf einer Wiese, zwischen den Fluchtlinien einer Zypressenallee, und trug die lederne Schürze eines Hufschmieds. Am Ende der Allee stand ein winziges, unbekanntes Gebäude, dessen elegante Silhouette merkwürdigerweise der Privatklinik ähnelte, in der an einigen Tagen in der Woche der Chefarzt ordinierte, der meinen Vater operiert hatte. Gewiß handelte es sich um einen Gärtner, und er fuhr auch tatsächlich mit einer Art Rasenmäher über die Wiese. Es war jedoch nicht wirklich ein Rasenmäher, sondern das widerwärtige Gerät, das ich nächtelang hatte bedienen müssen, um aus dem Schlund meines Vaters das geronnene Blut abzusaugen, daß aus den Nähten quoll und an dem er zu ersticken drohte.

Mein Vater stellte mir also eine Frage. Ich antwortete, und so begannen wir uns zu unterhalten. Nach der ersten Frage (die mir, ich wiederhole, völlig logisch erschien, obwohl sie absurd war) fragte er mich, woran er gestorben sei, als ob er das nicht wüßte. Und ich erzählte ihm von seinem Tod, so wie es meinem inneren Erleben und der Logik des Traumes entsprach. Ich begann also meinen Monolog über seine Via crucis. Natürlich konnte ich im unbewußten Zustand des Traumes kein technisch-wissenschaftliches Detail wiedergeben. Und der Arzt, von dem ich sprach, entsprach auch gewiß nicht dem wirklichen Arzt: Für mich war er ein Lemur, ein Schatten ohne Körper und Gesicht. Kein Mensch, bloß eine Empfindung. Vielleicht reproduzierte ich im unbewußten Zustand des Traums die Qualen, die mein Vater während seines schrecklichen Aufenthalts im Krankenhaus auf sich nehmen und die ich hatte mitansehen müssen, und vielleicht reproduzierte ich auch - auf ganz privater, menschlicher Ebene - den Eindruck, den die Art des Chirurgen, der ihn damals operiert hatte, unbewußt auf mich gemacht hatte. Vielleicht wollte ich, ohne es zu wissen, meinem Vater in diesem Traum zu verstehen geben, daß es, um "Krebs zu verstehen", nicht genügt, nur das Geschwür mit wissenschaftlicher Kompetenz zu entfernen, sondern daß man auch die menschliche Situation des Kranken und seiner Familie verstehen muß: seine Erwartungen, seine Ungeduld, seine Hoffnungen, seine Angste. Um Krebs oder irgendeine andere tödliche Krankheit zu verstehen, braucht man Sanftheit, Geduld, Mitleid, Bereitschaft, Toleranz, Verständnis. Pietas, um es mit einem lateinischen Wort zu sagen, das nicht ausschließlich der Sphäre des Religiösen, sondern vor allem auch der Sphäre des Menschlichen angehört. "Wissenschaft ohne menschliche Werte ist leer und gefährlich", wie es der große amerikanische Physiker Alan Lightman ausgedrückt hat. "Es wäre ein großer Verlust, wenn die Wissenschaftler und Ingenieure der Zukunft nur mehr reine Techniker wären." Im übrigen braucht man nicht sehr viel Scharfsinn, um zu verstehen, daß ein Physiker, ein Ingenieur, ein Zahnarzt usw. bei derselben wissenschaftlichen Kompetenz sowohl liebenswert als auch abscheulich sein können.

12. Die Sprache der Träume

Aber kehren wir in das Café im Marais zurück, wo ich an diesem Vormittag Platz genommen hatte.

Plötzlich hörte ich die Stimme meines Vaters, die ich im Traum so deutlich gehört und beim Aufwachen vergessen hatte: Und sie führte mich zurück ins Reich der Träume. Instinktiv zückte ich mein Notizbuch und versuchte den Traum so gut wie möglich niederzuschreiben.

Wer eine Ahnung von Psychoanalyse und vor allem von der Freudschen Traumdeutung hat, weiß, wie schwierig es ist, einen Traum nachzuerzählen: Bei dem Versuch des Patienten, dem Analytiker seinen Traum zu erzählen, wird klar, wie schwierig es ist, den Stoff diegetisch zu strukturieren. Einmal abgesehen von Gedankensprüngen, Brachylogien und dem Problem, die Zeit des Unbewußten in einem Erzähltempus wiederzugeben, ist es vor allem deshalb schwierig, weil jeder Traum von einem Gefühl, einer Empfindung getragen wird, die ihren "Sinn" verlieren, sobald man versucht, sie aus ihrer eigenen Realität in die des Wachzustands überzuführen. Bei dem Versuch, meinen Traum niederzuschreiben, bemühte ich mich, die Kontrollinstanz des Über-Ich so gut wie möglich auszuschalten und mich einer Art écriture automatique zu überlassen, die aus der Erinnerung, dem Unbewußten schöpft. Ich kämpfte gegen mich selber, ich versuchte, die Dimension des Traumes wiederzufinden, die mir im Wachzustand natürlich abhanden gekommen war - ein Unterfangen, bei dem man sich völlig von seiner Umgebung abschotten muß. Bis ich, nach wer weiß wie langer Zeit, den Kopf hob und mich umblickte. Bei allen Sprüngen, Rissen, Fehlern und Ungenauigkeiten war es mir gelungen, das Gespräch mit meinem Vater niederzuschreiben. Seine Stimme, die mich im Traum zu sich gerufen hatte, hatte mich in der aquariumsähnlichen Atmosphäre dieses Cafés merkwürdigerweise zum Schreiben verführt. Diesmal war es eine Stimme gewesen, die mich zum Schreiben gebracht hatte.

Der Kellner kam und fragte mich, ob ich etwas essen wolle. Als er mich bediente, konnte er sich die Frage nicht verkneifen, ob ich Schriftsteller sei. Ich bejahte. Er begriff, daß ich Italiener war, und fragte mich, was ich denn Schönes für meine italienischen Leser geschrieben hätte. Erst jetzt wurde mir klar, daß ich, ein italienischer Schriftsteller, meinen Traum merkwürdigerweise auf portugiesisch aufgeschrieben hatte.

Die evokatorische Stimme meines Vaters hatte unser Gespräch mit folgender Frage eingeleitet:

Quantas letras tem o alfabeto latino?

Beziehungsweise: Wie viele Buchstaben hat das lateinische Alphabet? Er hatte mich auf portugiesisch gefragt und ich hatte auf portugiesisch geantwortet, und auf portugiesisch hatte ich auch die Seiten meines Notizblocks beschrieben, der auf dem Tischchen vor mir lag, unter den Blicken des Kellners, der mir mit seiner unschuldigen Frage die Augen geöffnet hatte.

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024